
Der Besuch der alten Dame
— von Friedrich Dürrenmatt
— Premiere am 30. September 2023 — Schauspielhaus, Großes Haus — Schauspiel
Der Racheengel von Güllen
Gedanken von Regisseurin Laura Linnenbaum zu Friedrich Dürrenmatts »Der Besuch der alten Dame«
Als die alte Dame Claire Zachanassian in ihre Heimatstadt Güllen zurückkehrt, fordert sie Rache für einst an ihr begangenes Unrecht: Als 17-Jährige erwartete sie ein Kind von dem zwei Jahre älteren Alfred Ill, der die Vaterschaft abstritt und den anschließenden Prozess mithilfe bestochener Zeugen gewann. Geächtet und mittellos verließ sie daraufhin die Stadt, verlor ihr Kind, heiratete einen wohlhabenden Mann und wurde schließlich zur Milliardärin. In Vorbereitung auf ihren Besuch hat sie Fabriken und Grundstücke in Güllen aufgekauft, um die Stadt und ihre Bewohner:innen zu ruinieren. Nun bietet die alte Dame eine Milliarde für die Auslieferung Alfred Ills. Die Armut in Güllen ist bitter, die Versuchung groß.
Für mich ist das Stück ein Spiel, ein Experiment. Es zeigt eine Gesellschaft in Not, mit den einschlägigen Institutionen und ihren Stellvertreterfiguren: Kirche, Gericht, Schule, Stadtverwaltung. Es gibt den Bürgermeister, den Lehrer, den Pfarrer, den Richter, den Geschäftsmann und die Heimkehrerin – Claire Zachanassian, die alte Dame, die reichste Frau der Welt. Mit ihrem Auftritt stellen sich gleich mehrere Fragen: Wie viel ist ein Menschenleben wert? Was ist der Mensch bereit, für Geld und Wohlstand zu tun? Wie geht eine Gesellschaft mit Schuld um? Im Stück wird gemeinsame Schuld auf eine Person abgewälzt. Man opfert sie. Faszinierend finde ich als Theatermacherin daran den Rückgriff auf das antike Motiv der Opfergabe, mit dem hier auf eine sehr fragwürdige Weise eine Art antiker Reinigungseffekt einhergeht, von dem wir mit unserer Rechtsprechung heute sehr weit entfernt sind. Durch das Opfer werden die Stadt und ihre Bewohner:innen finanziell saniert, gleichzeitig entsteht mit der Tilgung der alten eine neue Schuld. Auch das ist ein antikes Motiv.
Kollektive Schuld
Die Figuren im Stück handeln, wie sie glauben, handeln zu müssen, weil die ökonomische Not für alle groß ist. Die Lösung, die Claire Zachanassian anbietet, ist so zwingend wie einfach. Entweder geht es der gesamten Gesellschaft in Zukunft besser, und nur einer muss dafür bezahlen, oder die gesamte Gruppe leidet auch weiterhin. Die allgemeine moralische Begründung lautet: Alfred Ill hat sich schuldig gemacht, als er Claire im Stich gelassen hat. Mögen die Maßnahmen auch drastisch sein, so ist er doch selbst und vor allem allein verantwortlich für sein Schicksal. Schließlich hätte er sich damals anders verhalten können. Diese Sichtweise vernachlässigt, dass es in der Stadt genug Männer gab, die sich mit Alfred Ill verschworen hatten und seine Falschaussage vor Gericht stützten. Sogar der Richter hat weggeschaut. Wir haben es also nicht nur mit individuellem Fehlverhalten zu tun, sondern mit kollektiver Schuld und verfestigten patriarchalen Strukturen.
Instrumente des Patriarchats
Die alte Dame schlägt die Bewohner:innen in der Kleinstadt mit ihren eigenen Mitteln und fordert ein Menschenleben für ein Menschenleben. Denn in Folge ihrer Niederlage im Prozess gegen Alfred Ill verlor sie ihre Stellung in der Gemeinschaft, ihre ökonomische Absicherung und ihr Kind. Ihr Leben war zerstört.
Hier kommt das Motiv der weiblichen Rache ins Spiel. Im Stück wird die einstmals schwächste Figur durch ökonomische Mittel zur stärksten. Dies geschieht bei Dürrenmatt als einem männlichen Autor aus dem letzten Jahrhundert zwar auch nur durch Claires Heirat mit einem Ölquellenbesitzer und somit innerhalb der patriarchalen Strukturen. Noch kann sie die Grenzen des Systems nicht sprengen. Gleichzeitig will ich daran glauben, dass sich Claire ihrer Lage bewusst ist und wenigstens Vorteile daraus zieht. Sie verfügt über keinerlei romantisches Interesse und handelt in Bezug auf Männer eindeutig aus Kalkül. Das erinnert mich an eine Anekdote über Edith Piaf. Ein ehemaliger Liebhaber sagte nach ihrem Tod über die weltberühmte Sängerin: »Das Leben mit Edith Piaf war schrecklich. Sie hatte für die körperliche Liebe nichts übrig. Männer hatten ihr, als sie sehr jung gewesen war, zu viel angetan. Ich glaube, sie rächte sich an ihnen, indem sie alle erreichbaren Männer verführte, denn darin sah sie eine Entschädigung für alle Leiden.«
Als die alte Dame nach Güllen zurückkehrt und Selbstjustiz übt, weil die geltende Justiz versagt hat, übernimmt sie die Instrumente des Patriarchats, die eng mit einer kapitalistischen Denkstruktur verknüpft sind. Dürrenmatt stellt die Frage nach der Bedeutung von Moral und Gerechtigkeit innerhalb eines kapitalistischen Systems. Deshalb sind die Figuren auch Stellvertreterfiguren, drängen sich Begriffe wie Experiment und Spiel unweigerlich auf. Das Was-wäre-wenn-Spiel, das der Autor hier aufmacht, ist so einfach wie bestechend. Erleben wir im Alltag die größeren Konsequenzen unseres Handelns oder Unterlassens zumeist recht mittelbar, so werden sie hier im direkten Tauschhandel – Menschenleben gegen Wohlstand einer Gemeinschaft – auf einmal unmittelbar. Wie sich das Personal Güllens vor dem eigenen Gewissen und voreinander in Rechtfertigungen übt, trägt die Züge einer Farce. Im Grunde sehen wir am Beispiel der fiktionalen Kleinstadt Güllen Mechanismen, die uns im globalen Norden sehr vertraut sein sollten. Natürlich sollten wir keine Kriege führen, die Natur schützen, etwas gegen den Klimawandel tun und allgemein netter zueinander sein, aber solange der Kapitalismus regiert und Gewinne winken, zählen Moral und Werte wenig.
Weibliche Rache
Das Motiv weiblicher Rache hat im Theater eine lange Tradition. Als antikes Beispiel fällt mir »Medea« ein, die allerdings noch aus Eifersucht und enttäuschter Liebe zu einem Mann mordet. Im Kino gibt es mit den sogenannten Female-Revenge-Movies sogar ein eigenes Genre. In »Dogville« von Lars von Trier rächt sich Grace, nachdem sie von der Bevölkerung eines Dorfes ausgenutzt und gedemütigt wurde. Am Ende des Films brennt sie das gesamte Dorf nieder und tötet alle Bewohner:innen. »Der Besuch der alten Dame« und »Dogville« haben gemeinsam, dass ich als Zuschauer:in ein Dorf in seiner Mikrostruktur kennenlerne und dazu verführt werde, mich so sehr mit dem Opfer zu identifizieren, dass ich am Ende zustimme oder zumindest Gewalt als probates Mittel nicht ausschließe, wenn Grace fordert, jede:n Einzelne:n zu töten. Das finde ich krass.
Die nicht aus Eifersucht tötende Frau ist ein relativ neuer Topos und nimmt in der feministischen Theorie eine wichtige Funktion ein. Wenn ich mir ein Stück wie »Maria Stuart« von Friedrich Schiller anschaue, das ich letztes Jahr am Düsseldorfer Schauspielhaus inszeniert habe – eines der frühesten Beispiele weiblichen Empowerments auf dem Theater – dann habe ich immer noch das Problem, dass Elisabeth allen Ernstes sagt, dass Maria schöner sei. Das würde in dieser Einfachheit einer männlichen Bühnenfigur niemals über die Lippen kommen. Niemals! »Maria Stuart« bleibt in patriarchalen Denkmustern verhaftet. Mit Grace aus »Dogville« und letztlich auch der alten Dame wird der männlich tradierte Rachetopos umgedeutet und anders besetzt. Es entsteht ein neuer, feministischer, antikapitalistischer Figurentyp. Bei Dürrenmatt wird sogar eine Komödie daraus.
Für mich ist das Stück ein Spiel, ein Experiment. Es zeigt eine Gesellschaft in Not, mit den einschlägigen Institutionen und ihren Stellvertreterfiguren: Kirche, Gericht, Schule, Stadtverwaltung. Es gibt den Bürgermeister, den Lehrer, den Pfarrer, den Richter, den Geschäftsmann und die Heimkehrerin – Claire Zachanassian, die alte Dame, die reichste Frau der Welt. Mit ihrem Auftritt stellen sich gleich mehrere Fragen: Wie viel ist ein Menschenleben wert? Was ist der Mensch bereit, für Geld und Wohlstand zu tun? Wie geht eine Gesellschaft mit Schuld um? Im Stück wird gemeinsame Schuld auf eine Person abgewälzt. Man opfert sie. Faszinierend finde ich als Theatermacherin daran den Rückgriff auf das antike Motiv der Opfergabe, mit dem hier auf eine sehr fragwürdige Weise eine Art antiker Reinigungseffekt einhergeht, von dem wir mit unserer Rechtsprechung heute sehr weit entfernt sind. Durch das Opfer werden die Stadt und ihre Bewohner:innen finanziell saniert, gleichzeitig entsteht mit der Tilgung der alten eine neue Schuld. Auch das ist ein antikes Motiv.
Kollektive Schuld
Die Figuren im Stück handeln, wie sie glauben, handeln zu müssen, weil die ökonomische Not für alle groß ist. Die Lösung, die Claire Zachanassian anbietet, ist so zwingend wie einfach. Entweder geht es der gesamten Gesellschaft in Zukunft besser, und nur einer muss dafür bezahlen, oder die gesamte Gruppe leidet auch weiterhin. Die allgemeine moralische Begründung lautet: Alfred Ill hat sich schuldig gemacht, als er Claire im Stich gelassen hat. Mögen die Maßnahmen auch drastisch sein, so ist er doch selbst und vor allem allein verantwortlich für sein Schicksal. Schließlich hätte er sich damals anders verhalten können. Diese Sichtweise vernachlässigt, dass es in der Stadt genug Männer gab, die sich mit Alfred Ill verschworen hatten und seine Falschaussage vor Gericht stützten. Sogar der Richter hat weggeschaut. Wir haben es also nicht nur mit individuellem Fehlverhalten zu tun, sondern mit kollektiver Schuld und verfestigten patriarchalen Strukturen.
Instrumente des Patriarchats
Die alte Dame schlägt die Bewohner:innen in der Kleinstadt mit ihren eigenen Mitteln und fordert ein Menschenleben für ein Menschenleben. Denn in Folge ihrer Niederlage im Prozess gegen Alfred Ill verlor sie ihre Stellung in der Gemeinschaft, ihre ökonomische Absicherung und ihr Kind. Ihr Leben war zerstört.
Hier kommt das Motiv der weiblichen Rache ins Spiel. Im Stück wird die einstmals schwächste Figur durch ökonomische Mittel zur stärksten. Dies geschieht bei Dürrenmatt als einem männlichen Autor aus dem letzten Jahrhundert zwar auch nur durch Claires Heirat mit einem Ölquellenbesitzer und somit innerhalb der patriarchalen Strukturen. Noch kann sie die Grenzen des Systems nicht sprengen. Gleichzeitig will ich daran glauben, dass sich Claire ihrer Lage bewusst ist und wenigstens Vorteile daraus zieht. Sie verfügt über keinerlei romantisches Interesse und handelt in Bezug auf Männer eindeutig aus Kalkül. Das erinnert mich an eine Anekdote über Edith Piaf. Ein ehemaliger Liebhaber sagte nach ihrem Tod über die weltberühmte Sängerin: »Das Leben mit Edith Piaf war schrecklich. Sie hatte für die körperliche Liebe nichts übrig. Männer hatten ihr, als sie sehr jung gewesen war, zu viel angetan. Ich glaube, sie rächte sich an ihnen, indem sie alle erreichbaren Männer verführte, denn darin sah sie eine Entschädigung für alle Leiden.«
Als die alte Dame nach Güllen zurückkehrt und Selbstjustiz übt, weil die geltende Justiz versagt hat, übernimmt sie die Instrumente des Patriarchats, die eng mit einer kapitalistischen Denkstruktur verknüpft sind. Dürrenmatt stellt die Frage nach der Bedeutung von Moral und Gerechtigkeit innerhalb eines kapitalistischen Systems. Deshalb sind die Figuren auch Stellvertreterfiguren, drängen sich Begriffe wie Experiment und Spiel unweigerlich auf. Das Was-wäre-wenn-Spiel, das der Autor hier aufmacht, ist so einfach wie bestechend. Erleben wir im Alltag die größeren Konsequenzen unseres Handelns oder Unterlassens zumeist recht mittelbar, so werden sie hier im direkten Tauschhandel – Menschenleben gegen Wohlstand einer Gemeinschaft – auf einmal unmittelbar. Wie sich das Personal Güllens vor dem eigenen Gewissen und voreinander in Rechtfertigungen übt, trägt die Züge einer Farce. Im Grunde sehen wir am Beispiel der fiktionalen Kleinstadt Güllen Mechanismen, die uns im globalen Norden sehr vertraut sein sollten. Natürlich sollten wir keine Kriege führen, die Natur schützen, etwas gegen den Klimawandel tun und allgemein netter zueinander sein, aber solange der Kapitalismus regiert und Gewinne winken, zählen Moral und Werte wenig.
Weibliche Rache
Das Motiv weiblicher Rache hat im Theater eine lange Tradition. Als antikes Beispiel fällt mir »Medea« ein, die allerdings noch aus Eifersucht und enttäuschter Liebe zu einem Mann mordet. Im Kino gibt es mit den sogenannten Female-Revenge-Movies sogar ein eigenes Genre. In »Dogville« von Lars von Trier rächt sich Grace, nachdem sie von der Bevölkerung eines Dorfes ausgenutzt und gedemütigt wurde. Am Ende des Films brennt sie das gesamte Dorf nieder und tötet alle Bewohner:innen. »Der Besuch der alten Dame« und »Dogville« haben gemeinsam, dass ich als Zuschauer:in ein Dorf in seiner Mikrostruktur kennenlerne und dazu verführt werde, mich so sehr mit dem Opfer zu identifizieren, dass ich am Ende zustimme oder zumindest Gewalt als probates Mittel nicht ausschließe, wenn Grace fordert, jede:n Einzelne:n zu töten. Das finde ich krass.
Die nicht aus Eifersucht tötende Frau ist ein relativ neuer Topos und nimmt in der feministischen Theorie eine wichtige Funktion ein. Wenn ich mir ein Stück wie »Maria Stuart« von Friedrich Schiller anschaue, das ich letztes Jahr am Düsseldorfer Schauspielhaus inszeniert habe – eines der frühesten Beispiele weiblichen Empowerments auf dem Theater – dann habe ich immer noch das Problem, dass Elisabeth allen Ernstes sagt, dass Maria schöner sei. Das würde in dieser Einfachheit einer männlichen Bühnenfigur niemals über die Lippen kommen. Niemals! »Maria Stuart« bleibt in patriarchalen Denkmustern verhaftet. Mit Grace aus »Dogville« und letztlich auch der alten Dame wird der männlich tradierte Rachetopos umgedeutet und anders besetzt. Es entsteht ein neuer, feministischer, antikapitalistischer Figurentyp. Bei Dürrenmatt wird sogar eine Komödie daraus.
Besetzung
Termine
Sa, 30.09. / 19:30
Schauspiel
Premiere
frühbucher
http://www.dhaus.de/
D'haus - Düsseldorfer Schauspielhaus, Junges Schauspiel, Stadt:Kollektiv
Gustaf-Gründgens-Platz 1, 40211 Düsseldorf
D'haus - Düsseldorfer Schauspielhaus, Junges Schauspiel, Stadt:Kollektiv
Gustaf-Gründgens-Platz 1, 40211 Düsseldorf
Schauspielhaus — Großes Haus