
Arbeit und Struktur
— von Wolfgang Herrndorf
— Uraufführung am 9. September 2023 — Schauspielhaus, Kleines Haus — Schauspiel
Tagebuch und Hypomnema
— Der Autor Sascha Lobo über die Entstehung von Wolfgang Herrndorfs Buch »Arbeit und Struktur«
Wie praktisch alles im 21. Jahrhundert beginnt es im Internet. Als der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf an Krebs erkrankt, schreibt er dort auf, was er erlebt und wie es ihm dabei geht. Zu Beginn des Social-Media-Jahrzehnts im Februar 2010 ist das eigentlich keine spektakuläre Nachricht. Wenn man Wolfgang Herrndorf nicht kennt. Wenn man ihn aber kennt, weiß man um seine schiere Verachtung für Texte, die »Erlebnisschrott« und »Sozialgeräusch« enthalten. Und dann ist diese Nachricht geradezu besorgniserregend spektakulär. Der Ort, an dem Wolfgang Herrndorf sein Erfahrungs- und Empfindungspanorama ausbreitet, ist: ein Internetforum.
Es handelt sich um ein Forum, in dem zu Beginn der Nullerjahre drei, vier Dutzend Menschen Texte veröffentlichten und dafür einige Aufmerksamkeit erhielten. Es waren beinahe zufällig zusammengewürfelte Leute aus dem weitesten Umfeld des deutsch-österreichischen Zeichners und Autors Tex Rubinowitz, ein paar zufällig via Google Hereingeschmeckte mögen auch dabei gewesen sein. Diese Gruppe entwickelte ein ebenso harsches wie unterhaltsames Textverständnis, was nicht zuletzt, sondern eher zuallererst an Wolfgang Herrndorf lag. Die Forumsmitglieder kritisierten und beschimpften und belobigten sich dort gegenseitig entlang ihrer Textwerke, ihrer Beobachtungen, Miniaturen, Kurzgeschichten, ihres Quatschs, den sie miteinander machten. Immer in der festen Überzeugung, dass sie doch eigentlich erfolgreiche Autor:innen sein müssten. Zu diesem Zeitpunkt waren sie das allerdings noch nicht, Wolfgang Herrndorf eingeschlossen. Die Attitüde aber, vor literarischer Kraft kaum laufen zu können, trugen sie schon gekonnt vor sich her.
Ein paar Jahre später wird dieses Forum eine erstaunliche Anzahl sehr erfolgreich schreibender Menschen hervorgebracht haben, dazu eine Handvoll Bachmannpreis-Gewinner:innen. Eigentlich handelt es sich um eine bizarre Unterform der self-fulfilling prophecy, die selbst herbeigepöbelte Prophezeiung.
Was Herrndorf Anfang der Zehnerjahre in dieses Forum schreibt, ist eine Mischung aus Tagebuch und Hypomnema, gleichermaßen lustige Erinnerung wie wissenschaftlich präzise Selbstreflexion. Der Anlass dafür ist ein Hirntumor, ein Glioblastom. Unter den verschiedenen Krebssorten, die man bekommen kann, entspricht das Glioblastom dem exakten Gegenteil eines Hauptgewinns. Es handelt sich um eine mittelfristig beinahe hundertprozentige Todesgarantie, die Herrndorfs Kopf überfallen hat und über die er schreibt. Er entscheidet sich, seine Krebstagebücher (diese Formulierung hätte ihn verärgert) nur im oben genannten Internetforum zu veröffentlichen. Und dort nur in einem speziell geschützten Bereich, der wenigen sehr verdienten Mitgliedern überhaupt zugänglich ist. Um persönliche Intimität geht es ihm dabei nicht. Es geht ihm in allererster Linie um den nicht weniger als monströsen Anspruch, den er an sich und sein Textwerk hat und der noch zunimmt, wenn seine Texte den vertrauten Kreis verlassen.
Weil das Internetforum sichtbar macht, wenn und wann genau Texte bearbeitet werden, kann man dort sehen, wie Herrndorf regelmäßig tief in der Nacht jahrealte Postings bearbeitet. Meist ersetzt er dabei nur ein Wort durch ein anderes oder vertauscht Satzteile, manchmal löscht er Halbsätze, einige Passagen überarbeitet er zehn-, 15-, 50-mal. Es soll nichts, wirklich gar nichts an Texten übrig bleiben von ihm, das seinem Anspruch nicht genügt.
Unter normalen Umständen bräuchte Wolfgang Herrndorf ungefähr ein Jahr, um einen einzigen Tag so zu beschreiben, wie es ihm qualitativ angemessen scheint. Deshalb macht er seine Tumorbetrachtungen nur den engsten Freund:innen und Bekannten zugänglich. Natürlich ist dieser Anspruch schon für sich genommen strukturell gaga, aber schlimmer ist noch: Bei Herrndorf ist nie ausgeschlossen, dass er beschließt, alles sei Quark, und alles löscht. Das hat er ein paarmal mit zweifellos großen Erzählungen im Forum getan.
Im März 2010 beschließen die Autorin Kathrin Passig – selbst aktives Forumsmitglied – und ich deshalb, Wolfgangs Wunsch nach einem eingeschränkten Zirkel des Lesepublikums drastisch zu missachten. Wir sichern uns die Domain wolfgang-herrndorf.de, installieren dort eine Weblog-Software und kopieren seine Texte aus dem geheimen Forum nach und nach ins freie Internet. Im April 2010 treffen wir uns mit ihm und bringen ein iPad mit, auf dem sein Blog zu sehen ist, von dem er bis dahin nichts ahnt. Entgegen der Erwartung flippt er nur verhältnismäßig kurz aus. Dann lässt er sich überzeugen, dass diese Texte in der Öffentlichkeit stehen müssen. Vielleicht ist er irgendwann auch nur zu erschöpft, um Widerstand zu leisten. Oder – sehr unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen – er stimmt der freien Veröffentlichung zu, weil er die Relevanz seiner Texte erahnt, die wir heute als »Arbeit und Struktur« kennen.
Fortan veröffentlicht er seine Reflexionen aus dem beschädigten Gehirn frei im Internet. Über den Sommer 2010 arbeitet Herrndorf an seinem Roman »Tschick« in einem Tempo, das zu erreichen ihm zuvor nicht möglich schien. »Tschick« erscheint – branchenuntypisch, aber krebsbedingt – nur wenige Wochen nach Fertigstellung des Manuskripts. Der Roman wird rasch zum Bestseller, der heute zur kanonischen deutschen Literatur des 21. Jahrhunderts zählt. Mit dem Interesse am Buch wächst auch das Interesse am Autor und an seiner Geschichte, und so explodieren die Zugriffszahlen auf seinem Blog: Anfang 2011 sind es an einigen Tagen über 200.000. Die Fortführung seiner Geschichte endet erst 2013, sechs Tage vor Herrndorfs Suizid.
Wie wichtig »Arbeit und Struktur« ist, konnte ich viel später beobachten, als ich einen Vortrag vor Tumorkranken und Überlebenden hielt. Dort berichtete ich auch von Wolfgang Herrndorfs Blog, der unterdessen zum Buch geworden war. Nach dem Vortrag kamen fast ein Dutzend Menschen zu mir und schilderten, wie sehr Herrndorfs Texte zu ihrem eigenen Kampf beigetragen hatten. Und wie auch ihre Angehörigen dadurch einen Zugang zu ihrer Krebserkrankung hatten finden können. »Arbeit und Struktur« bedeutet, wir können jemandem in den Kopf schauen, in dem sich eine existenzielle Bedrohung in Form eines Hirntumors befindet. Es ist ein Textwerk von zeitloser Größe und ergreifender Emotionalität, weil es von einem letztlich ungewinnbaren Kampf handelt. Den man aber trotzdem kämpfen will, kämpfen muss, kämpfen darf.
Wie praktisch alles im 21. Jahrhundert beginnt »Arbeit und Struktur« im Internet, aber es endet in unseren Köpfen und Herzen und bleibt dort für immer.
In »Arbeit und Struktur« beschreibt der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf die letzten drei Jahre seines Lebens, nachdem bei ihm ein Hirntumor diagnostiziert worden war. Der Autor Sascha Lobo gehörte zum Freundeskreis Herrndorfs und half dabei, aus dem ursprünglich als privater Blog begonnenen Projekt einen der Öffentlichkeit zugänglichen Text zu machen.
Es handelt sich um ein Forum, in dem zu Beginn der Nullerjahre drei, vier Dutzend Menschen Texte veröffentlichten und dafür einige Aufmerksamkeit erhielten. Es waren beinahe zufällig zusammengewürfelte Leute aus dem weitesten Umfeld des deutsch-österreichischen Zeichners und Autors Tex Rubinowitz, ein paar zufällig via Google Hereingeschmeckte mögen auch dabei gewesen sein. Diese Gruppe entwickelte ein ebenso harsches wie unterhaltsames Textverständnis, was nicht zuletzt, sondern eher zuallererst an Wolfgang Herrndorf lag. Die Forumsmitglieder kritisierten und beschimpften und belobigten sich dort gegenseitig entlang ihrer Textwerke, ihrer Beobachtungen, Miniaturen, Kurzgeschichten, ihres Quatschs, den sie miteinander machten. Immer in der festen Überzeugung, dass sie doch eigentlich erfolgreiche Autor:innen sein müssten. Zu diesem Zeitpunkt waren sie das allerdings noch nicht, Wolfgang Herrndorf eingeschlossen. Die Attitüde aber, vor literarischer Kraft kaum laufen zu können, trugen sie schon gekonnt vor sich her.
Ein paar Jahre später wird dieses Forum eine erstaunliche Anzahl sehr erfolgreich schreibender Menschen hervorgebracht haben, dazu eine Handvoll Bachmannpreis-Gewinner:innen. Eigentlich handelt es sich um eine bizarre Unterform der self-fulfilling prophecy, die selbst herbeigepöbelte Prophezeiung.
Was Herrndorf Anfang der Zehnerjahre in dieses Forum schreibt, ist eine Mischung aus Tagebuch und Hypomnema, gleichermaßen lustige Erinnerung wie wissenschaftlich präzise Selbstreflexion. Der Anlass dafür ist ein Hirntumor, ein Glioblastom. Unter den verschiedenen Krebssorten, die man bekommen kann, entspricht das Glioblastom dem exakten Gegenteil eines Hauptgewinns. Es handelt sich um eine mittelfristig beinahe hundertprozentige Todesgarantie, die Herrndorfs Kopf überfallen hat und über die er schreibt. Er entscheidet sich, seine Krebstagebücher (diese Formulierung hätte ihn verärgert) nur im oben genannten Internetforum zu veröffentlichen. Und dort nur in einem speziell geschützten Bereich, der wenigen sehr verdienten Mitgliedern überhaupt zugänglich ist. Um persönliche Intimität geht es ihm dabei nicht. Es geht ihm in allererster Linie um den nicht weniger als monströsen Anspruch, den er an sich und sein Textwerk hat und der noch zunimmt, wenn seine Texte den vertrauten Kreis verlassen.
Weil das Internetforum sichtbar macht, wenn und wann genau Texte bearbeitet werden, kann man dort sehen, wie Herrndorf regelmäßig tief in der Nacht jahrealte Postings bearbeitet. Meist ersetzt er dabei nur ein Wort durch ein anderes oder vertauscht Satzteile, manchmal löscht er Halbsätze, einige Passagen überarbeitet er zehn-, 15-, 50-mal. Es soll nichts, wirklich gar nichts an Texten übrig bleiben von ihm, das seinem Anspruch nicht genügt.
Unter normalen Umständen bräuchte Wolfgang Herrndorf ungefähr ein Jahr, um einen einzigen Tag so zu beschreiben, wie es ihm qualitativ angemessen scheint. Deshalb macht er seine Tumorbetrachtungen nur den engsten Freund:innen und Bekannten zugänglich. Natürlich ist dieser Anspruch schon für sich genommen strukturell gaga, aber schlimmer ist noch: Bei Herrndorf ist nie ausgeschlossen, dass er beschließt, alles sei Quark, und alles löscht. Das hat er ein paarmal mit zweifellos großen Erzählungen im Forum getan.
Im März 2010 beschließen die Autorin Kathrin Passig – selbst aktives Forumsmitglied – und ich deshalb, Wolfgangs Wunsch nach einem eingeschränkten Zirkel des Lesepublikums drastisch zu missachten. Wir sichern uns die Domain wolfgang-herrndorf.de, installieren dort eine Weblog-Software und kopieren seine Texte aus dem geheimen Forum nach und nach ins freie Internet. Im April 2010 treffen wir uns mit ihm und bringen ein iPad mit, auf dem sein Blog zu sehen ist, von dem er bis dahin nichts ahnt. Entgegen der Erwartung flippt er nur verhältnismäßig kurz aus. Dann lässt er sich überzeugen, dass diese Texte in der Öffentlichkeit stehen müssen. Vielleicht ist er irgendwann auch nur zu erschöpft, um Widerstand zu leisten. Oder – sehr unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen – er stimmt der freien Veröffentlichung zu, weil er die Relevanz seiner Texte erahnt, die wir heute als »Arbeit und Struktur« kennen.
Fortan veröffentlicht er seine Reflexionen aus dem beschädigten Gehirn frei im Internet. Über den Sommer 2010 arbeitet Herrndorf an seinem Roman »Tschick« in einem Tempo, das zu erreichen ihm zuvor nicht möglich schien. »Tschick« erscheint – branchenuntypisch, aber krebsbedingt – nur wenige Wochen nach Fertigstellung des Manuskripts. Der Roman wird rasch zum Bestseller, der heute zur kanonischen deutschen Literatur des 21. Jahrhunderts zählt. Mit dem Interesse am Buch wächst auch das Interesse am Autor und an seiner Geschichte, und so explodieren die Zugriffszahlen auf seinem Blog: Anfang 2011 sind es an einigen Tagen über 200.000. Die Fortführung seiner Geschichte endet erst 2013, sechs Tage vor Herrndorfs Suizid.
Wie wichtig »Arbeit und Struktur« ist, konnte ich viel später beobachten, als ich einen Vortrag vor Tumorkranken und Überlebenden hielt. Dort berichtete ich auch von Wolfgang Herrndorfs Blog, der unterdessen zum Buch geworden war. Nach dem Vortrag kamen fast ein Dutzend Menschen zu mir und schilderten, wie sehr Herrndorfs Texte zu ihrem eigenen Kampf beigetragen hatten. Und wie auch ihre Angehörigen dadurch einen Zugang zu ihrer Krebserkrankung hatten finden können. »Arbeit und Struktur« bedeutet, wir können jemandem in den Kopf schauen, in dem sich eine existenzielle Bedrohung in Form eines Hirntumors befindet. Es ist ein Textwerk von zeitloser Größe und ergreifender Emotionalität, weil es von einem letztlich ungewinnbaren Kampf handelt. Den man aber trotzdem kämpfen will, kämpfen muss, kämpfen darf.
Wie praktisch alles im 21. Jahrhundert beginnt »Arbeit und Struktur« im Internet, aber es endet in unseren Köpfen und Herzen und bleibt dort für immer.
In »Arbeit und Struktur« beschreibt der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf die letzten drei Jahre seines Lebens, nachdem bei ihm ein Hirntumor diagnostiziert worden war. Der Autor Sascha Lobo gehörte zum Freundeskreis Herrndorfs und half dabei, aus dem ursprünglich als privater Blog begonnenen Projekt einen der Öffentlichkeit zugänglichen Text zu machen.
Besetzung
RegieAdrian Figueroa
BühneIrina Schicketanz
KostümMalena Modéer
MusikKetan Bhatti
VideoBenjamin Krieg
LichtThomas Krammer
DramaturgieRobert Koall
Termine
Sa, 09.09. / 20:00
Schauspiel
Uraufführung
frühbucher
http://www.dhaus.de/
D'haus - Düsseldorfer Schauspielhaus, Junges Schauspiel, Stadt:Kollektiv
Gustaf-Gründgens-Platz 1, 40211 Düsseldorf
D'haus - Düsseldorfer Schauspielhaus, Junges Schauspiel, Stadt:Kollektiv
Gustaf-Gründgens-Platz 1, 40211 Düsseldorf
Schauspielhaus — Kleines Haus