melde gehorsamst
Wie der brave Soldat Schwejk ins Schloss gelangte — von Klaus Cäsar Zehrer
Wenn es so etwas gibt wie eine spezielle Unterabteilung der Weltseele, die für die Verteilung von grandiosen Schriftsteller*innen auf Erden zuständig ist, dann hat sie die Stadt Prag im Jahre 1883 besonders reich bedacht. Nicht nur wurde dort am 3. Juli Franz Kafka geboren, sondern auch, nur neun Wochen früher und nicht viel mehr als einen Kilometer entfernt, Jaroslav Hašek, der Vater des braven Soldaten Schwejk.
Ob sich Kafkas und Hašeks Lebenswege je gekreuzt haben, weiß man nicht genau; klar ist nur, dass sie in mancherlei Hinsicht erstaunlich parallel verliefen. Beide standen abseits vom literarischen Mainstream und waren zeitlebens nur einem überschaubaren Publikum bekannt. Beide erkrankten während des Ersten Weltkriegs an Tuberkulose und gingen in noch recht jungen Jahren daran zugrunde (wobei im Falle Hašeks der Alkohol mehr als nur ein Scherflein dazu beitrug), der eine mit neununddreißig, der andere mit vierzig. Beide mussten ihre Haupt- und Meisterwerke unvollendet hinterlassen: Sowohl Kafkas »Das Schloss« als auch Hašeks »Schwejk« brechen mitten im Satz ab. Obwohl Fragment geblieben, wurden beide Romane schnell weltberühmt und sind es noch heute, fast ein Jahrhundert später, und ihre Urheber mit ihnen.
Anders als Kafka verbrachte Hašek sein letztes Lebenskapitel nicht in einem niederösterreichischen Sanatorium, sondern in Lipnice nad Sázavou, einem abgelegenen Kaff irgendwo im Grenzgebiet zwischen Böhmen und Mähren, wo er in der Dorfkneipe saß, sich betrank und an seinem »Schwejk« schrieb, solange er konnte. Dieses Lipnice sah zu Hašeks Zeiten und sieht auch heute noch so aus, als wäre es geradewegs Kafkas Schilderung im »Schloss«-Roman nachgebaut: ein verwinkeltes Dorf am Hang eines Hügels, auf dessen Kuppe, abweisend und unnahbar, eine mächtige Burg thront.
Stellen wir uns für einen Augenblick vor, Jaroslav Hašek hätte sich von dem Anblick inspirieren lassen und Schwejk vor die gleiche Aufgabe gestellt wie Kafka seinen Landvermesser K., also sich Zugang zum Schloss und zu einer dort ansässigen undurchsichtigen, aber alles beherrschenden Behörde zu verschaffen. Wie die Geschichte bei Kafka verläuft, ist bekannt: K., der Ortsfremde, gibt sich alle Mühe, zu begreifen, nach welchen Regeln Dorf und Schloss funktionieren. Er glaubt, er käme ans Ziel, wenn nur die Vorschriften eingehalten würden. Deshalb insistiert er: »Sie sind mein Vorgesetzter, aber nicht derjenige, welcher mir die Stelle verliehen hat, das ist der Herr Gemeindevorsteher, nur seine Kündigung nehme ich an.« Doch je fester sich K. an Rationalität und Korrektheit klammert, desto brüchiger werden sie, und er gerät immer tiefer in die Fänge einer beklemmenden bürokratischen Maschinerie.
Und Josef Schwejk, der liebenswürdige Nichtsnutz, der nichts lieber täte, als weiterhin im Gasthaus »Zum Krug« sein Bier zu trinken und sich als Hundefänger durchzuschlagen? Auch er findet sich, wie K., unversehens in einer feindlichen Umgebung wieder, in der Aberwitz und Irrsinn regieren: im Weltkrieg. Doch anders als K. kommt er mit den Unmöglichkeiten seiner Existenz nicht schlecht zurecht. Wo K. sich durchsetzen will, will Schwejk sich drücken, und wo K. sich um Kopf und Kragen argumentiert, ist Schwejk so klug, sich blöd zu stellen. Was erlaubt und was verboten ist, interessiert ihn herzlich wenig: »Es gibt überhaupt viel Sachen auf der Welt, was man nicht machen darf, aber machen kann. Hauptsache is, dass jeder probiert, obs ihm gelingt, und wenn ers nicht darf, ob ers kann.« So lautet sein anarchistisches Credo, mit dem er überall durchkommt.
Wir dürfen also annehmen, dass es für Schwejk auch ein Leichtes gewesen wäre, zu den einflussreichen Herren im Schloss zu gelangen. Um alle Hindernisse, die sich vor dem Landvermesser K. unüberwindlich auftürmten, wäre er fröhlich pfeifend herumspaziert. Und wenn jemand versucht hätte, ihn aufzuhalten, hätte Schwejk nicht etwa einen Vortrag über Recht und Gesetz gehalten, sondern einfach eine seiner uferlosen Anekdoten zum Besten gegeben, etwa so: »Melde gehorsamst, Herr Oberinspektor, Sie erinnern mich an einen, den ich mal gekannt hab, den Schnapsbrenner Hrdlacek, dem ist eines Nachts der Schlüsselbund ins Scheißhäusl gefallen, und wie er versucht hat, ihn rauszuholen …« – so lange, bis er auf bewährte Weise sein Gegenüber erst um den Verstand und dann zur bedingungslosen Kapitulation geredet hätte.
So gehen die beiden Prager Großschriftsteller des Jahrgangs 1883 Hand in Hand: Franz Kafka, der Chronist des modernen Albtraums, in dem der Einzelne vom einem ungreifbaren, gleichwohl übermächtigen System zermalmt wird. Und Jaroslav Hašek, der fröhliche Widerständler, der einen Ausweg weist: Wem es gelingt, die Dinge mit der unbefangenen Subversivität eines Josef Schwejk anzugehen, der wird von keiner Autorität dieser Welt so leicht kleinzukriegen sein – und wenn sie noch so entrückt im Schloss residiert.
Klaus Cäsar Zehrer, geboren 1969, lebt als Schriftsteller in Berlin. 2017 erschien im Diogenes Verlag sein Roman »Das Genie«.
Der Text ist erschienen im Spielzeitheft 2018/19.
Ob sich Kafkas und Hašeks Lebenswege je gekreuzt haben, weiß man nicht genau; klar ist nur, dass sie in mancherlei Hinsicht erstaunlich parallel verliefen. Beide standen abseits vom literarischen Mainstream und waren zeitlebens nur einem überschaubaren Publikum bekannt. Beide erkrankten während des Ersten Weltkriegs an Tuberkulose und gingen in noch recht jungen Jahren daran zugrunde (wobei im Falle Hašeks der Alkohol mehr als nur ein Scherflein dazu beitrug), der eine mit neununddreißig, der andere mit vierzig. Beide mussten ihre Haupt- und Meisterwerke unvollendet hinterlassen: Sowohl Kafkas »Das Schloss« als auch Hašeks »Schwejk« brechen mitten im Satz ab. Obwohl Fragment geblieben, wurden beide Romane schnell weltberühmt und sind es noch heute, fast ein Jahrhundert später, und ihre Urheber mit ihnen.
Anders als Kafka verbrachte Hašek sein letztes Lebenskapitel nicht in einem niederösterreichischen Sanatorium, sondern in Lipnice nad Sázavou, einem abgelegenen Kaff irgendwo im Grenzgebiet zwischen Böhmen und Mähren, wo er in der Dorfkneipe saß, sich betrank und an seinem »Schwejk« schrieb, solange er konnte. Dieses Lipnice sah zu Hašeks Zeiten und sieht auch heute noch so aus, als wäre es geradewegs Kafkas Schilderung im »Schloss«-Roman nachgebaut: ein verwinkeltes Dorf am Hang eines Hügels, auf dessen Kuppe, abweisend und unnahbar, eine mächtige Burg thront.
Stellen wir uns für einen Augenblick vor, Jaroslav Hašek hätte sich von dem Anblick inspirieren lassen und Schwejk vor die gleiche Aufgabe gestellt wie Kafka seinen Landvermesser K., also sich Zugang zum Schloss und zu einer dort ansässigen undurchsichtigen, aber alles beherrschenden Behörde zu verschaffen. Wie die Geschichte bei Kafka verläuft, ist bekannt: K., der Ortsfremde, gibt sich alle Mühe, zu begreifen, nach welchen Regeln Dorf und Schloss funktionieren. Er glaubt, er käme ans Ziel, wenn nur die Vorschriften eingehalten würden. Deshalb insistiert er: »Sie sind mein Vorgesetzter, aber nicht derjenige, welcher mir die Stelle verliehen hat, das ist der Herr Gemeindevorsteher, nur seine Kündigung nehme ich an.« Doch je fester sich K. an Rationalität und Korrektheit klammert, desto brüchiger werden sie, und er gerät immer tiefer in die Fänge einer beklemmenden bürokratischen Maschinerie.
Und Josef Schwejk, der liebenswürdige Nichtsnutz, der nichts lieber täte, als weiterhin im Gasthaus »Zum Krug« sein Bier zu trinken und sich als Hundefänger durchzuschlagen? Auch er findet sich, wie K., unversehens in einer feindlichen Umgebung wieder, in der Aberwitz und Irrsinn regieren: im Weltkrieg. Doch anders als K. kommt er mit den Unmöglichkeiten seiner Existenz nicht schlecht zurecht. Wo K. sich durchsetzen will, will Schwejk sich drücken, und wo K. sich um Kopf und Kragen argumentiert, ist Schwejk so klug, sich blöd zu stellen. Was erlaubt und was verboten ist, interessiert ihn herzlich wenig: »Es gibt überhaupt viel Sachen auf der Welt, was man nicht machen darf, aber machen kann. Hauptsache is, dass jeder probiert, obs ihm gelingt, und wenn ers nicht darf, ob ers kann.« So lautet sein anarchistisches Credo, mit dem er überall durchkommt.
Wir dürfen also annehmen, dass es für Schwejk auch ein Leichtes gewesen wäre, zu den einflussreichen Herren im Schloss zu gelangen. Um alle Hindernisse, die sich vor dem Landvermesser K. unüberwindlich auftürmten, wäre er fröhlich pfeifend herumspaziert. Und wenn jemand versucht hätte, ihn aufzuhalten, hätte Schwejk nicht etwa einen Vortrag über Recht und Gesetz gehalten, sondern einfach eine seiner uferlosen Anekdoten zum Besten gegeben, etwa so: »Melde gehorsamst, Herr Oberinspektor, Sie erinnern mich an einen, den ich mal gekannt hab, den Schnapsbrenner Hrdlacek, dem ist eines Nachts der Schlüsselbund ins Scheißhäusl gefallen, und wie er versucht hat, ihn rauszuholen …« – so lange, bis er auf bewährte Weise sein Gegenüber erst um den Verstand und dann zur bedingungslosen Kapitulation geredet hätte.
So gehen die beiden Prager Großschriftsteller des Jahrgangs 1883 Hand in Hand: Franz Kafka, der Chronist des modernen Albtraums, in dem der Einzelne vom einem ungreifbaren, gleichwohl übermächtigen System zermalmt wird. Und Jaroslav Hašek, der fröhliche Widerständler, der einen Ausweg weist: Wem es gelingt, die Dinge mit der unbefangenen Subversivität eines Josef Schwejk anzugehen, der wird von keiner Autorität dieser Welt so leicht kleinzukriegen sein – und wenn sie noch so entrückt im Schloss residiert.
Klaus Cäsar Zehrer, geboren 1969, lebt als Schriftsteller in Berlin. 2017 erschien im Diogenes Verlag sein Roman »Das Genie«.
Der Text ist erschienen im Spielzeitheft 2018/19.
Besetzung
SchwejkPeter Jordan
Arzt, die Alte Welt u. a.Tabea Bettin
Woyzeck, Lukasch u. a.Kilian Land
Xerxes, Maulwurf u. a.Jan Maak
Hitler, Ares u. a.Hanna Werth
Felix Krull, Europa u. a.Minna Wündrich
RegieLeonhard Koppelmann
Bühne und KostümMichael Sieberock-Serafimowitsch
LichtJean-Mario Bessière
DramaturgieFelicitas Zürcher
Dauer
2 Stunden — keine Pause