Umarmung
Der Abgrund des Guten. Zu »Nathan (to go)« von Gotthold Ephraim Lessing — von Ralph Zinnikus
»Jeder Mensch ist ein Abgrund«, schreibt Büchner. Um diese Abgründe ausgeleuchtet zu bekommen, gehe ich ins Theater. Belehrende Stücke kann ich aus diesem Grund nicht ausstehen: Sie zeigen keine Abgründe, sondern eindimensionale Gestalten, mehr Typen als Charaktere. Und am Ende triumphiert das Gute über das Böse, und der Belehrte genießt den Triumph – natürlich vor allem weil er sich selbst der guten Seite zurechnet.Gerade aber das »to-go«-Format des Düsseldorfer Schauspielhauses wirkt dem entgegen: Man lädt das Stück schließlich zu sich ein und hat somit die Möglichkeit, zu erleben, wie Text und Spiel in der unbekannten Umgebung wirken. Letztendlich mindert die Tatsache, dass ein Stück auf dem Lehrplan steht, ja nicht dessen Qualität. Goethes »Faust« steht da auch – seit Generationen –, und in Robert Lehnigers Inszenierung »Faust (to go)« habe ich Spielfreude, Experiment und Begeisterung gesehen. Aber »Faust« lässt sich mit Lessings »Nathan« schlecht vergleichen.
Lessings Stücken stand ich immer sehr skeptisch gegenüber. Die sich für ihre Ehre opfernde Emilia Galotti ist mir völlig fremd, und auch der ständig gute Nathan sprach mich lange Zeit nicht an. Doch ist dieses Drama bei vertiefter Betrachtung etwas ganz anderes als ein aufgeklärtes Lehrstück.
Ich möchte das Stück von hinten aufrollen. Der Schluss von Lessings »Nathan« kratzt beim ersten Lesen hart an der Kitschgrenze. Die letzte Regieanweisung lautet: »Unter stummer gegenseitiger Umarmung fällt der Vorhang.« Die vermeintlichen Feinde sind alle Verwandte und liegen sich in den Armen. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich hier ein Bruch. Während der christliche Tempelherr und Nathans angenommene Tochter Recha die Kinder des Bruders des muslimischen Sultans sind, steht Nathan allein da. Wohl ist sein Leben nicht mehr direkt gefährdet, jedoch gehört er nur dann zur Familie, wenn es den anderen gefällt: Nur eine aufgeklärte Gesellschaft ermöglicht ihm, dem Juden, seinen Platz. Nathan ist somit nicht nur aufgrund seiner Weisheit – er selbst weist dieses Attribut gegenüber dem Sultan zurück –, sondern aus Überlebensnotwendigkeit aufgeklärt und tolerant. Und so ist das Ende auch ganz anders zu verstehen: Nur wenn die Verhältnisse geklärt und somit stabil sind, ist Nathan nicht bedroht. Der Vorwurf, er habe seine Stieftochter einer christlichen Erziehung entzogen, ist für den Moment ebenso vom Tisch wie die notorische Geldknappheit des Sultans. Aber von einer Rechtssicherheit ist Nathan genauso weit entfernt wie am Anfang des Stücks: Ändern sich die Umstände, ist er wieder bedroht. Das dick aufgetragene Ende ist eine Utopie, die als solche auch erkannt werden soll.
Schauen wir uns eine weitere zentrale Figur des Dramas an, den Tempelherrn. Er wurde als Einziger vom Sultan nicht hingerichtet, weil er ihn an seinen geliebten Bruder erinnert (zu Recht, wie wir später erfahren). Glück gehabt, könnte man denken, aber das verkennt ganz und gar die Motivation eines Kreuzfahrers. Denen wurde das Himmelreich in Aussicht gestellt, und während alle seine Kameraden für ihren Glauben sterben, überlebt er nur aufgrund der Gnade eines muslimischen Herrschers. Tiefgreifender kann man sich die Demütigung eines religiösen Fanatikers auch in unseren Tagen kaum vorstellen. Und wie geht er mit seinem Frust um? Er lässt ihn am schwächsten Glied aus und behandelt Nathan beleidigend und herablassend – was diesen übrigens nicht davon abhält, sich beim Tempelherrn angemessen für Rechas Errettung zu bedanken. Erneut beweist der Jude hier, dass sich Anständigkeit nicht durch die Zugehörigkeit zu einer (religiösen) Gruppe, sondern nur durch individuelles Verhalten zeigen kann. Nathan, den selbst sein Reichtum niemals gänzlich schützen wird, hat nur Klugheit und Anstand, um sein Leben zu retten. Er verkörpert das Prinzip von Humanität und Toleranz, das sich offenbar durch Erziehung weitergeben lässt.
Und dann ist da noch das Herz des Stücks, die Ringparabel. Auch hier kann man den Text als pures Lehrstück religiöser Toleranz verstehen: Alle Religionen sind gleich wertvoll. Aber wie sehr verschließt sich das Stück gegen diese verkürzte Deutung. Nathan redet um sein Leben, als er dem Sultan die Parabel erzählt. Das ist Selbstverteidigung und keine Unterrichtsstunde. Aber weil der Jude wirklich weise ist, erzählt er eine Geschichte von drei gleich aussehenden Ringen (naturgemäß ist nur einer der echte, der des verstorbenen Vaters). Es kommt nun auf jeden einzelnen der Söhne an, was er daraus macht. Verantwortungsvolles Handeln auf der Grundlage von selbstständigem Denken ist gefragt, dann ist es egal, wer welchen Ring besitzt. Fundamentalisten schüttelt es bei diesem Gedanken.
Der »Nathan« ist ein immer aktuelles Stück, weil die Aufklärung eben keine vergangene Epoche ist, sondern eine demokratische Überlebensnotwendigkeit. Die Gebrochenheit der Figuren, die geistige Tiefe, die literarische List Lessings – all dies bekommt man erst mit, wenn man das Stück ganz nah an sich ranlässt, am besten wenn man es zu sich einlädt. Niemals kommt einem das Stück so nah wie in der »to-go«-Version des Düsseldorfer Schauspielhauses. Und niemand, dessen bin ich gewiss, wird nach diesem Erlebnis einfach nur nach Hause gehen wollen.
So war es auch bei »Faust (to go)«, gesehen in Ratingen-Hösel: Zwar war das Publikum altersgemischt, jedoch waren viele Menschen da, die bestimmt schon einige »Faust«-Aufführungen gesehen hatten. Ich wartete gespannt auf die Reaktionen am Ende – die Zuschauer waren begeistert. Die Schönheit und die Qualität des Texts, die intelligente Inszenierung und vor allem die Nähe zu den Schauspielerinnen und Schauspielern machten den Abend unvergesslich. Eine Dame im Rentenalter meinte, dass man »so was Tolles hier noch nie gesehen hat«. Und meine 13-jährige Tochter will unbedingt ein zweites Mal in »Faust (to go)«.Wenn ich doch etwas an dem »to-go«-Format auszusetzen hätte, wäre das der Name: Denn anders als beim gleichnamigen Kaffee geht es hier gar nicht um schnellen Konsum. Aber – wenn Nathan goes, let him in! — Erschienen im Spielzeitheft 2017/18
Ralph Zinnikus, geb. 1968, ist gelernter Buchhändler. Nach dem Germanistik- und Geschichtsstudium an der Universität zu Köln war er als Lehrer und Schulleiter an verschiedenen Schulen tätig. Seit 2012 ist er Dezernent für Kultur und Weiterbildung bei der Bezirksregierung Düsseldorf.
Lessings Stücken stand ich immer sehr skeptisch gegenüber. Die sich für ihre Ehre opfernde Emilia Galotti ist mir völlig fremd, und auch der ständig gute Nathan sprach mich lange Zeit nicht an. Doch ist dieses Drama bei vertiefter Betrachtung etwas ganz anderes als ein aufgeklärtes Lehrstück.
Ich möchte das Stück von hinten aufrollen. Der Schluss von Lessings »Nathan« kratzt beim ersten Lesen hart an der Kitschgrenze. Die letzte Regieanweisung lautet: »Unter stummer gegenseitiger Umarmung fällt der Vorhang.« Die vermeintlichen Feinde sind alle Verwandte und liegen sich in den Armen. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich hier ein Bruch. Während der christliche Tempelherr und Nathans angenommene Tochter Recha die Kinder des Bruders des muslimischen Sultans sind, steht Nathan allein da. Wohl ist sein Leben nicht mehr direkt gefährdet, jedoch gehört er nur dann zur Familie, wenn es den anderen gefällt: Nur eine aufgeklärte Gesellschaft ermöglicht ihm, dem Juden, seinen Platz. Nathan ist somit nicht nur aufgrund seiner Weisheit – er selbst weist dieses Attribut gegenüber dem Sultan zurück –, sondern aus Überlebensnotwendigkeit aufgeklärt und tolerant. Und so ist das Ende auch ganz anders zu verstehen: Nur wenn die Verhältnisse geklärt und somit stabil sind, ist Nathan nicht bedroht. Der Vorwurf, er habe seine Stieftochter einer christlichen Erziehung entzogen, ist für den Moment ebenso vom Tisch wie die notorische Geldknappheit des Sultans. Aber von einer Rechtssicherheit ist Nathan genauso weit entfernt wie am Anfang des Stücks: Ändern sich die Umstände, ist er wieder bedroht. Das dick aufgetragene Ende ist eine Utopie, die als solche auch erkannt werden soll.
Schauen wir uns eine weitere zentrale Figur des Dramas an, den Tempelherrn. Er wurde als Einziger vom Sultan nicht hingerichtet, weil er ihn an seinen geliebten Bruder erinnert (zu Recht, wie wir später erfahren). Glück gehabt, könnte man denken, aber das verkennt ganz und gar die Motivation eines Kreuzfahrers. Denen wurde das Himmelreich in Aussicht gestellt, und während alle seine Kameraden für ihren Glauben sterben, überlebt er nur aufgrund der Gnade eines muslimischen Herrschers. Tiefgreifender kann man sich die Demütigung eines religiösen Fanatikers auch in unseren Tagen kaum vorstellen. Und wie geht er mit seinem Frust um? Er lässt ihn am schwächsten Glied aus und behandelt Nathan beleidigend und herablassend – was diesen übrigens nicht davon abhält, sich beim Tempelherrn angemessen für Rechas Errettung zu bedanken. Erneut beweist der Jude hier, dass sich Anständigkeit nicht durch die Zugehörigkeit zu einer (religiösen) Gruppe, sondern nur durch individuelles Verhalten zeigen kann. Nathan, den selbst sein Reichtum niemals gänzlich schützen wird, hat nur Klugheit und Anstand, um sein Leben zu retten. Er verkörpert das Prinzip von Humanität und Toleranz, das sich offenbar durch Erziehung weitergeben lässt.
Und dann ist da noch das Herz des Stücks, die Ringparabel. Auch hier kann man den Text als pures Lehrstück religiöser Toleranz verstehen: Alle Religionen sind gleich wertvoll. Aber wie sehr verschließt sich das Stück gegen diese verkürzte Deutung. Nathan redet um sein Leben, als er dem Sultan die Parabel erzählt. Das ist Selbstverteidigung und keine Unterrichtsstunde. Aber weil der Jude wirklich weise ist, erzählt er eine Geschichte von drei gleich aussehenden Ringen (naturgemäß ist nur einer der echte, der des verstorbenen Vaters). Es kommt nun auf jeden einzelnen der Söhne an, was er daraus macht. Verantwortungsvolles Handeln auf der Grundlage von selbstständigem Denken ist gefragt, dann ist es egal, wer welchen Ring besitzt. Fundamentalisten schüttelt es bei diesem Gedanken.
Der »Nathan« ist ein immer aktuelles Stück, weil die Aufklärung eben keine vergangene Epoche ist, sondern eine demokratische Überlebensnotwendigkeit. Die Gebrochenheit der Figuren, die geistige Tiefe, die literarische List Lessings – all dies bekommt man erst mit, wenn man das Stück ganz nah an sich ranlässt, am besten wenn man es zu sich einlädt. Niemals kommt einem das Stück so nah wie in der »to-go«-Version des Düsseldorfer Schauspielhauses. Und niemand, dessen bin ich gewiss, wird nach diesem Erlebnis einfach nur nach Hause gehen wollen.
So war es auch bei »Faust (to go)«, gesehen in Ratingen-Hösel: Zwar war das Publikum altersgemischt, jedoch waren viele Menschen da, die bestimmt schon einige »Faust«-Aufführungen gesehen hatten. Ich wartete gespannt auf die Reaktionen am Ende – die Zuschauer waren begeistert. Die Schönheit und die Qualität des Texts, die intelligente Inszenierung und vor allem die Nähe zu den Schauspielerinnen und Schauspielern machten den Abend unvergesslich. Eine Dame im Rentenalter meinte, dass man »so was Tolles hier noch nie gesehen hat«. Und meine 13-jährige Tochter will unbedingt ein zweites Mal in »Faust (to go)«.Wenn ich doch etwas an dem »to-go«-Format auszusetzen hätte, wäre das der Name: Denn anders als beim gleichnamigen Kaffee geht es hier gar nicht um schnellen Konsum. Aber – wenn Nathan goes, let him in! — Erschienen im Spielzeitheft 2017/18
Ralph Zinnikus, geb. 1968, ist gelernter Buchhändler. Nach dem Germanistik- und Geschichtsstudium an der Universität zu Köln war er als Lehrer und Schulleiter an verschiedenen Schulen tätig. Seit 2012 ist er Dezernent für Kultur und Weiterbildung bei der Bezirksregierung Düsseldorf.
Besetzung
Sultan SaladinKonstantin Lindhorst
Sittah, dessen SchwesterJudith Bohle
Nathan, ein reicher Jude aus JerusalemJan Maak
Recha, dessen angenommene TochterCennet Rüya Voß
Daja, eine ChristinClaudia Hübbecker
Ein junger TempelherrJonas Friedrich Leonhardi
Ein DerwischValentin Stückl
Ein KlosterbruderMarkus Danzeisen
Der Patriarch von Jerusalem (im Video)Andreas Grothgar
Dauer
2 Stunden 15 Minuten — keine Pause