Fünfzig
— Wer sagt, dass sich niemand für ältere Frauen interessiert? — von Penelope Skinner
Vor etwa zehn Jahren sagte ein Freund von mir im Gespräch Folgendes: »Niemand interessiert sich wirklich für Frauen über fünfzig.« Damals habe ich nicht als Autorin gearbeitet, und ich kann mich nicht genau an den Kontext erinnern, ich meine, dass es um Rollen im Fernsehen ging. Aber dieser Satz ist mir jahrelang hängen geblieben.
Im Jahr 2012, als ich an einem Projekt im National Theatre Studio arbeitete, hörte ich eine bekannte ältere Schauspielerin über genau dieses Thema sprechen. Damals beschloss ich, ein Stück zu schreiben, das von einer Frau über fünfzig handelt – der Grundstein der Idee, die sich schließlich in mein Stück »Linda« verwandelte. Doch nach diesem ersten Funken Inspiration hatte ich erst mal Schwierigkeiten. Ich hatte mich beim Alter meiner Protagonistin auf 55 Jahre festgelegt. Aber ich fragte mich, wie ich diese Geschichte erzählen sollte. Konnte ich mit Anfang dreißig den Sorgen von Frauen gerecht werden, die massive Altersdiskriminierung erfahren hatten und dagegen kämpfen mussten?
Dann wies mich jemand (Gott sei Dank) darauf hin, dass Arthur Miller nur 34 war, als er »Tod eines Handlungsreisenden« mit dem 63-jährigen Protagonisten Willy Loman schrieb. Ich machte mir klar, dass meine Figur Linda nicht alle Frauen repräsentieren oder eine perfekte Galionsfigur für die Anliegen jeder Frau über fünfzig sein muss. Ich gestand ihr zu, fehlerhaft und unvollkommen zu sein – menschlich einfach.
Linda arbeitet für ein fiktives Kosmetikunternehmen und versucht, eine Kampagne zu starten, die älteren Frauen das Gefühl gibt, gesehen zu werden; ihr Ziel ist, den Schönheitsbegriff unserer Kultur zu erweitern. Ich hielt es für fruchtbar, die Geschichte in einer Weltvoller potenzieller Widersprüche spielen zu lassen, um zu erforschen, wie es für eine Frau ist, die eine sehr öffentliche Agenda hat und deren private Gefühle sich nicht immer mit ihrer »Politik« vereinbaren lassen. Linda glaubt fest daran, dass Frauen sich »trotz ihrer Fehler« schön fühlen sollen, aber ihr eigenes Schönheitsprogramm ist unerbittlich und umfangreich. Und obwohl »Linda« kein Themenstück ist, ermöglichte mir ihre Mission, einige der Fragen zu formulieren, die mich dazu bewegt hatten, es überhaupt zu schreiben.
Ich wollte auch, dass das Stück die Frage des »Marktes« aufgreift, da so oft eine Unterrepräsentation bestimmter Gruppen, sei es nach Geschlecht, Alter, Rasse oder Sexualität, mit dem »Markt« begründet wird. Als z. B. Miriam O’Reillys BBC-Sendung in den Primetime-Slot wechselte, wurde Miriam O’Reilly abgesetzt; die Annahme der BBC-Führungskräfte war, dass eine ältere Frau kein breites Publikum ansprechen könne. Aber solche Entscheidungen basieren nicht auf irgendeiner objektiven Wahrheit, sondern auf Vorurteilen. Schließlich sind in einer alternden Bevölkerung die älteren Frauen ein wichtiger und wachsender Teil des Marktes.
Und diese falsche Vorstellung vom Markt beherrscht leider die Welt auf der Bühne und auf dem Bildschirm – bestimmt, wer die Protagonist*innen der Geschichten sein dürfen, die wir zu sehen kriegen. Die meisten von uns gehen wahrscheinlich unbewusst davon aus, dass es eine bestimmte Art von Figur – weiß, mit Penis – gibt, die universell gültig ist, während die Geschichten anderer Figuren nur ein spezielles Publikum ansprechen. Jüngste Forschungen zur Kinderliteratur, die ein großes Gefälle zwischen weiblicher und männlicher Charakterdarstellung aufweist, geben dem Kinderbuchautor Melvin Burgess recht, der sagte, »eine Binsenweisheit im Verlagswesen« sei, »dass Mädchen Bücher mit Jungen als Helden lesen, aber Jungen keine Bücher mit Mädchen als Heldinnen«.
Ich interessiere mich dafür, was mit uns Menschen passiert, wenn wir uns nicht in der vorherrschenden Erzählung unserer Kultur wiederfinden. Oder wenn wir uns nur in begrenztem Maße widerspiegeln, z. B. als junges, schönes Liebesinteresse oder als Drogendealer oder als Nerd. Als ich anfing, »Linda« zu schreiben, sprach ich mit einer Marktforscherin, die in der Kosmetikindustrie arbeitet. Sie sagte mir, dass eine große Sorge, die ältere Frauen in Kund*innenbefragungen zum Ausdruck bringen, ist, dass sie vollständig aus der vorherrschenden Erzählung verschwinden. Sie sagte auch, dass sie davon sprachen, das Gefühl zu haben, nicht mehr die Protagonistinnen ihres eigenen Lebens zu sein, dass das Leben um sie herum stattfinde. Ich versuchte, diese Idee strukturell in »Linda« zu integrieren. Im Gegensatz zu einem eher konventionellen Protagonisten, der die Handlung vorantreibt, bemerkt Linda, dass um sie herum Dinge geschehen, und je stärker sie versucht, Dinge geschehen zu lassen, desto mehr verschlechtert sich ihre Lage.
Wir alle sind die Protagonist*innen unseres eigenen Lebens. Wer soll es sonst sein? Und vielleicht sehnen wir uns deshalb danach, Geschichten zu sehen oder zu lesen, die uns am genauesten widerspiegeln: Wir wollen unseren individuellen Kampf an der breiteren politischen Kultur messen, wir wollen wissen, dass wir nicht allein sind. Aber wir alle teilen auch im Kern dieselben Probleme: Liebe, Beziehungen, Herzschmerz, Eltern, Kinder usw. Deshalb haben wir doch alle die Möglichkeit, uns mit jede*r Protagonist*in zu identifizieren, oder? Wir sollten aufhören, unser Vorstellungsvermögen zu unterschätzen. Und wenn wir akzeptieren, dass jede*r Protagonist*in universellen Anspruch haben kann, dann öffnen wir uns auch dem gegenseitigen Lernen und der gleichzeitigen Identifikation miteinander. Ich hoffe, dass die Menschen, die die großen Entscheidungen über das, was wir sehen oder lesen, treffen, das langsam anerkennen. Ich hoffe, dass die Entscheidungsträger*innen ihre Vorstellungen davon, was oder wer ein*e Protagonist*in sein kann, erweitern, unabhängig von Vorurteilen über Markt oder Publikum. Und ich hoffe, dass die Leute, wenn sie »Linda« sehen, sich in erster Linie mit Linda identifizieren. Weil sie die Hauptrolle spielt.
— Aus dem Englischen von Frederik Tidén
Penolope Skinner gilt als eine der wichtigsten zeitgenössischen britischen Dramatiker*innen. Sie schreibt außerdem für Film und Fernsehen. Ihr Essay erschien unter der Überschrift »Playwright Penelope Skinner: Who says nobody’s interested in older women« in der Zeitung The Independent.
Der Text ist erschienen im Spielzeitheft 2019/20.
Im Jahr 2012, als ich an einem Projekt im National Theatre Studio arbeitete, hörte ich eine bekannte ältere Schauspielerin über genau dieses Thema sprechen. Damals beschloss ich, ein Stück zu schreiben, das von einer Frau über fünfzig handelt – der Grundstein der Idee, die sich schließlich in mein Stück »Linda« verwandelte. Doch nach diesem ersten Funken Inspiration hatte ich erst mal Schwierigkeiten. Ich hatte mich beim Alter meiner Protagonistin auf 55 Jahre festgelegt. Aber ich fragte mich, wie ich diese Geschichte erzählen sollte. Konnte ich mit Anfang dreißig den Sorgen von Frauen gerecht werden, die massive Altersdiskriminierung erfahren hatten und dagegen kämpfen mussten?
Dann wies mich jemand (Gott sei Dank) darauf hin, dass Arthur Miller nur 34 war, als er »Tod eines Handlungsreisenden« mit dem 63-jährigen Protagonisten Willy Loman schrieb. Ich machte mir klar, dass meine Figur Linda nicht alle Frauen repräsentieren oder eine perfekte Galionsfigur für die Anliegen jeder Frau über fünfzig sein muss. Ich gestand ihr zu, fehlerhaft und unvollkommen zu sein – menschlich einfach.
Linda arbeitet für ein fiktives Kosmetikunternehmen und versucht, eine Kampagne zu starten, die älteren Frauen das Gefühl gibt, gesehen zu werden; ihr Ziel ist, den Schönheitsbegriff unserer Kultur zu erweitern. Ich hielt es für fruchtbar, die Geschichte in einer Weltvoller potenzieller Widersprüche spielen zu lassen, um zu erforschen, wie es für eine Frau ist, die eine sehr öffentliche Agenda hat und deren private Gefühle sich nicht immer mit ihrer »Politik« vereinbaren lassen. Linda glaubt fest daran, dass Frauen sich »trotz ihrer Fehler« schön fühlen sollen, aber ihr eigenes Schönheitsprogramm ist unerbittlich und umfangreich. Und obwohl »Linda« kein Themenstück ist, ermöglichte mir ihre Mission, einige der Fragen zu formulieren, die mich dazu bewegt hatten, es überhaupt zu schreiben.
Ich wollte auch, dass das Stück die Frage des »Marktes« aufgreift, da so oft eine Unterrepräsentation bestimmter Gruppen, sei es nach Geschlecht, Alter, Rasse oder Sexualität, mit dem »Markt« begründet wird. Als z. B. Miriam O’Reillys BBC-Sendung in den Primetime-Slot wechselte, wurde Miriam O’Reilly abgesetzt; die Annahme der BBC-Führungskräfte war, dass eine ältere Frau kein breites Publikum ansprechen könne. Aber solche Entscheidungen basieren nicht auf irgendeiner objektiven Wahrheit, sondern auf Vorurteilen. Schließlich sind in einer alternden Bevölkerung die älteren Frauen ein wichtiger und wachsender Teil des Marktes.
Und diese falsche Vorstellung vom Markt beherrscht leider die Welt auf der Bühne und auf dem Bildschirm – bestimmt, wer die Protagonist*innen der Geschichten sein dürfen, die wir zu sehen kriegen. Die meisten von uns gehen wahrscheinlich unbewusst davon aus, dass es eine bestimmte Art von Figur – weiß, mit Penis – gibt, die universell gültig ist, während die Geschichten anderer Figuren nur ein spezielles Publikum ansprechen. Jüngste Forschungen zur Kinderliteratur, die ein großes Gefälle zwischen weiblicher und männlicher Charakterdarstellung aufweist, geben dem Kinderbuchautor Melvin Burgess recht, der sagte, »eine Binsenweisheit im Verlagswesen« sei, »dass Mädchen Bücher mit Jungen als Helden lesen, aber Jungen keine Bücher mit Mädchen als Heldinnen«.
Ich interessiere mich dafür, was mit uns Menschen passiert, wenn wir uns nicht in der vorherrschenden Erzählung unserer Kultur wiederfinden. Oder wenn wir uns nur in begrenztem Maße widerspiegeln, z. B. als junges, schönes Liebesinteresse oder als Drogendealer oder als Nerd. Als ich anfing, »Linda« zu schreiben, sprach ich mit einer Marktforscherin, die in der Kosmetikindustrie arbeitet. Sie sagte mir, dass eine große Sorge, die ältere Frauen in Kund*innenbefragungen zum Ausdruck bringen, ist, dass sie vollständig aus der vorherrschenden Erzählung verschwinden. Sie sagte auch, dass sie davon sprachen, das Gefühl zu haben, nicht mehr die Protagonistinnen ihres eigenen Lebens zu sein, dass das Leben um sie herum stattfinde. Ich versuchte, diese Idee strukturell in »Linda« zu integrieren. Im Gegensatz zu einem eher konventionellen Protagonisten, der die Handlung vorantreibt, bemerkt Linda, dass um sie herum Dinge geschehen, und je stärker sie versucht, Dinge geschehen zu lassen, desto mehr verschlechtert sich ihre Lage.
Wir alle sind die Protagonist*innen unseres eigenen Lebens. Wer soll es sonst sein? Und vielleicht sehnen wir uns deshalb danach, Geschichten zu sehen oder zu lesen, die uns am genauesten widerspiegeln: Wir wollen unseren individuellen Kampf an der breiteren politischen Kultur messen, wir wollen wissen, dass wir nicht allein sind. Aber wir alle teilen auch im Kern dieselben Probleme: Liebe, Beziehungen, Herzschmerz, Eltern, Kinder usw. Deshalb haben wir doch alle die Möglichkeit, uns mit jede*r Protagonist*in zu identifizieren, oder? Wir sollten aufhören, unser Vorstellungsvermögen zu unterschätzen. Und wenn wir akzeptieren, dass jede*r Protagonist*in universellen Anspruch haben kann, dann öffnen wir uns auch dem gegenseitigen Lernen und der gleichzeitigen Identifikation miteinander. Ich hoffe, dass die Menschen, die die großen Entscheidungen über das, was wir sehen oder lesen, treffen, das langsam anerkennen. Ich hoffe, dass die Entscheidungsträger*innen ihre Vorstellungen davon, was oder wer ein*e Protagonist*in sein kann, erweitern, unabhängig von Vorurteilen über Markt oder Publikum. Und ich hoffe, dass die Leute, wenn sie »Linda« sehen, sich in erster Linie mit Linda identifizieren. Weil sie die Hauptrolle spielt.
— Aus dem Englischen von Frederik Tidén
Penolope Skinner gilt als eine der wichtigsten zeitgenössischen britischen Dramatiker*innen. Sie schreibt außerdem für Film und Fernsehen. Ihr Essay erschien unter der Überschrift »Playwright Penelope Skinner: Who says nobody’s interested in older women« in der Zeitung The Independent.
Der Text ist erschienen im Spielzeitheft 2019/20.
Besetzung
LindaClaudia Hübbecker
AliceLea Ruckpaul
BridgetCaroline Adam Bay
NeilThiemo Schwarz
StevieCaroline Cousin
RegieMarius von Mayenburg
BühneStéphane Laimé
KostümAlmut Eppinger
MusikNils Ostendorf
LichtKonstantin Sonneson
DramaturgieFrederik Tidén
Dauer
2 Stunden 45 Minuten — eine Pause
Für die Unterstützung der Ausstattung danken wir:
Termine
Mo, 06.02. / 19:30 - 22:15
Schauspiel
Abo Mo 3
http://www.dhaus.de/
D'haus - Düsseldorfer Schauspielhaus, Junges Schauspiel, Stadt:Kollektiv
Gustaf-Gründgens-Platz 1, 40211 Düsseldorf
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Gustaf-Gründgens-Platz 1, 40211 Düsseldorf
Schauspielhaus — Kleines Haus
Mo, 27.03. / 19:30 - 22:15
Schauspiel
Blauer Tag
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Gustaf-Gründgens-Platz 1, 40211 Düsseldorf
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Schauspielhaus — Kleines Haus
Sa, 08.04. / 20:00 - 22:45
Schauspiel
frühbucher
http://www.dhaus.de/
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Gustaf-Gründgens-Platz 1, 40211 Düsseldorf
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Schauspielhaus — Kleines Haus