Mittelschichtsmob
»Ich denke gerne, dass es mit den Schiffen anfing« — Muss der Wissenschaftler ein Held sein? — von Peter Dabrock
Wohlfeil wäre es AD 2019 in Deutschland, sich zum Advokaten wissenschaftlichen Wissens ausgerechnet gegen religiöse Machstrukturen stilisieren zu wollen. Ein solcher hätte die Glaubwürdigkeit eines Winkeladvokaten. Leben wir doch nicht im Gottesstaat. Kirchen kämpfen mit ihrer Glaubwürdigkeit, nicht mehr mit Galilei. An der Wissenschaftsfront haben sie sich mit den Gegebenheiten arrangiert: Nicht nur die kopernikanische Kränkung, die in Brechts »Leben des Galilei« im Mittelpunkt steht, sondern auch die biologische durch Darwin und die psychologische durch Freud haben sie inzwischen recht gelassen verarbeitet. Viele religiös-musikalische Menschen mögen Frieden damit geschlossen haben, dass der Mensch weder im Mittelpunkt des Weltalls steht noch die Krone der Schöpfung und selten Herr im eigenen Hause ist.
All das bestreitet aber zunehmend ein aufgewühlter Mittelschichtsmob – in Verteidigung der eigenen Komfortzonen. Dabei gibt er sich oft aufgeklärt, hat vermeintlich die alten Zöpfe abgeschnitten und merkt doch nichts von seiner eigenen Wiederverzauberung durch neue Autoritäten, die Sicherheiten garantieren zu scheinen. Dialektik der Aufklärung: Einfachsprecher*innen, die in Filterblasen und Echokammern behaupten, zu wissen, wie es ist und klarerweise zu sein hat. Aber so einfach ist die Wirklichkeit nicht: »Alles bewegt sich«, sinniert Brechts Galilei – und »dass es mit den Schiffen anfing«. Führen sie doch hinaus ins Weite, zu fremden Welten und öffnen den Geist. Naturwissenschaft aus dem Geist der Schiffe ist aber kein Religionssubstitut, kein Sinnspender. Sie will eifrig und doch nüchtern erkunden, wie sich Sachen im Kosmos verhalten und ob man aus ihnen künftig etwas machen kann. Immerhin – aber mehr auch nicht. Zu beiden Seiten kann sie ideologisch missbraucht werden: von den Prophet*innen des Szientismus, die nüchterne Kausalerklärung mit Sinnsuche verwechseln, und den Pragmatiker*innen, die Wissenschaft nur dann würdigen und fördern, wenn sie etwas bringt. Beide Gruppen wollen nicht wahrhaben, dass es in der Wissenschaft zwar bestimmte Erkenntnislevel gibt, hinter die man nicht zurückkann, dass aber der Prozess nach vorn hin unendlich offen ist. Die Welt mag festen Bestand haben, Erklärungen über sie mitnichten.
Der säkulare Mittelschichtsmob »liebt« die Wissenschaft nur, und zwar genau nur dann, wenn sie Sicherheit und Handhabung garantiert, und nicht, wenn sie zum Weiterzweifeln animiert. Bei Brecht ist es noch die Oberschicht, die den zweiten Ungeist verkörpert. Sofern ein Experiment ein Businessmodell verspricht, sind die hohen Herren gern dabei, es zu finanzieren – egal ob in Venedig, Padua, Florenz oder Rom. Die entsprechenden Werbebotschaften aus dem Umfeld Galileis sind eine feine Blaupause für die industriegeförderte Drittmittelakquise des gegenwärtigen Universitätsbetriebs: Was sich rechnet, hat gute Chancen auf Wahrheitsfindung. Dennoch: Dass der Bauch voll, bei Brechts Galilei sehr voll werden will, ist per se kein Indikator für mangelnde Exzellenz.
Vox populi sucht Klarheit – nach der Ver treibung Gottes soll es der Zweifelsmotor Wissenschaft richten. Ausrichten kann man sich an dessen neuem Heroen: Galilei, der Superstar. In der Vorstellung des Volks zerschlägt er die Fesseln der alten Autorität und verspricht das Neue, eine Moderne, aus der Unmündigkeit den Exodus. Dafür nimmt das Volk seinen Exitus in Kauf. Das Opfer als Beweis seiner Glaubwürdigkeit erwarten seine Jünger. Für sie ist er der neue Christus des wissenschaftlichen Weltgeists: sein Blut, vergossen für unsere Zukunft. Doch der Messias der neuen Religionssehnsucht verweigert sich den Erwartungen. Er sieht seine nichtreligiöse Erklärmission noch nicht als beendet an. Er muss noch forschen. Dafür nimmt er – bei gutem Salär – die tiefe Missachtung der Zivilgesellschaft und die Duldung der verachteten Religion in Kauf. Kein Held – aber auch keiner, der das sein wollte. So wird er zum Bürgerschreck. Nur als Bürgerschreck vollendet er seine wissenschaftliche Mission. Welchen Galilei verehren, welchen verurteilen Sie? Wo stehen Sie? … Sicher?
Prof. Dr. theol. Peter Dabrock ist Professor für Systematische Theologie (Ethik) an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Vorsitzender des Deutschen Ethikrats.
Der Text erschien im Spielzeitheft 2019/20.
All das bestreitet aber zunehmend ein aufgewühlter Mittelschichtsmob – in Verteidigung der eigenen Komfortzonen. Dabei gibt er sich oft aufgeklärt, hat vermeintlich die alten Zöpfe abgeschnitten und merkt doch nichts von seiner eigenen Wiederverzauberung durch neue Autoritäten, die Sicherheiten garantieren zu scheinen. Dialektik der Aufklärung: Einfachsprecher*innen, die in Filterblasen und Echokammern behaupten, zu wissen, wie es ist und klarerweise zu sein hat. Aber so einfach ist die Wirklichkeit nicht: »Alles bewegt sich«, sinniert Brechts Galilei – und »dass es mit den Schiffen anfing«. Führen sie doch hinaus ins Weite, zu fremden Welten und öffnen den Geist. Naturwissenschaft aus dem Geist der Schiffe ist aber kein Religionssubstitut, kein Sinnspender. Sie will eifrig und doch nüchtern erkunden, wie sich Sachen im Kosmos verhalten und ob man aus ihnen künftig etwas machen kann. Immerhin – aber mehr auch nicht. Zu beiden Seiten kann sie ideologisch missbraucht werden: von den Prophet*innen des Szientismus, die nüchterne Kausalerklärung mit Sinnsuche verwechseln, und den Pragmatiker*innen, die Wissenschaft nur dann würdigen und fördern, wenn sie etwas bringt. Beide Gruppen wollen nicht wahrhaben, dass es in der Wissenschaft zwar bestimmte Erkenntnislevel gibt, hinter die man nicht zurückkann, dass aber der Prozess nach vorn hin unendlich offen ist. Die Welt mag festen Bestand haben, Erklärungen über sie mitnichten.
Der säkulare Mittelschichtsmob »liebt« die Wissenschaft nur, und zwar genau nur dann, wenn sie Sicherheit und Handhabung garantiert, und nicht, wenn sie zum Weiterzweifeln animiert. Bei Brecht ist es noch die Oberschicht, die den zweiten Ungeist verkörpert. Sofern ein Experiment ein Businessmodell verspricht, sind die hohen Herren gern dabei, es zu finanzieren – egal ob in Venedig, Padua, Florenz oder Rom. Die entsprechenden Werbebotschaften aus dem Umfeld Galileis sind eine feine Blaupause für die industriegeförderte Drittmittelakquise des gegenwärtigen Universitätsbetriebs: Was sich rechnet, hat gute Chancen auf Wahrheitsfindung. Dennoch: Dass der Bauch voll, bei Brechts Galilei sehr voll werden will, ist per se kein Indikator für mangelnde Exzellenz.
Vox populi sucht Klarheit – nach der Ver treibung Gottes soll es der Zweifelsmotor Wissenschaft richten. Ausrichten kann man sich an dessen neuem Heroen: Galilei, der Superstar. In der Vorstellung des Volks zerschlägt er die Fesseln der alten Autorität und verspricht das Neue, eine Moderne, aus der Unmündigkeit den Exodus. Dafür nimmt das Volk seinen Exitus in Kauf. Das Opfer als Beweis seiner Glaubwürdigkeit erwarten seine Jünger. Für sie ist er der neue Christus des wissenschaftlichen Weltgeists: sein Blut, vergossen für unsere Zukunft. Doch der Messias der neuen Religionssehnsucht verweigert sich den Erwartungen. Er sieht seine nichtreligiöse Erklärmission noch nicht als beendet an. Er muss noch forschen. Dafür nimmt er – bei gutem Salär – die tiefe Missachtung der Zivilgesellschaft und die Duldung der verachteten Religion in Kauf. Kein Held – aber auch keiner, der das sein wollte. So wird er zum Bürgerschreck. Nur als Bürgerschreck vollendet er seine wissenschaftliche Mission. Welchen Galilei verehren, welchen verurteilen Sie? Wo stehen Sie? … Sicher?
Prof. Dr. theol. Peter Dabrock ist Professor für Systematische Theologie (Ethik) an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Vorsitzender des Deutschen Ethikrats.
Der Text erschien im Spielzeitheft 2019/20.
Besetzung
Galileo GalileiBurghart Klaußner
Der Kardinal InquisitorTabea Bettin
Frau Sarti, Galileis Haushälterin, Andreas Mutter / Zug der Pestbeschwörer / Gelehrter im Collegium Romanum / Vanni, ein EisengießerRosa Enskat
Der Mathematiker / Der kleine Mönch / Gelehrter im Collegium Romanum / Ein BeamterGlenn Goltz
Sagredo, Galileis Freund / Der Theologe / Gelehrter im Collegium Romanum / Kardinal Bellarmin / Herr Gaffone, Rektor der Universität PisaJanko Kahle, Jürgen Sarkiss
Ludovico Marsili, ein reicher junger Mann / Cosmo de Medici, Großherzog von Florenz / Zug der Pestbeschwörer / Gelehrter im Collegium RomanumJonas Friedrich Leonhardi
Andrea Sarti / Gelehrter im Collegium Romanum / Ein geistlicher SekretärLea Ruckpaul
Virginia, Galileis Tochter / Die jüngere Hofdame / Gelehrter im Collegium Romanum / Zug der PestbeschwörerCennet Rüya Voß
Der Kurator der Universität Padua, Herr Priuli / Der Philosoph / Kardinal Barberini, später Papst Urban VIII. / Gelehrter im Collegium Romanum / Der BalladensängerThomas Wittmann
MusikerMatthias Herrmann
RegieLars-Ole Walburg
BühneOlaf Altmann
KostümEllen Hofmann
DramaturgieRobert Koall
Musikalische EinrichtungMatthias Herrmann
Dauer
2 Stunde — keine Pause