Sepia
Wie sich Sterben anfühlen könnte — von Susann Pásztor
Zweimal habe ich es auf Drogen erlebt, dieses kompromisslose Gefühl des absoluten Alleinseins. Es stellte unmissverständlich klar, dass alles, was ich bis dahin unter Verlassenheit oder Einsamkeit kennengelernt hatte, banal und unbedeutend war. Es war ein sepiafarbenes Gefühl und trieb mich in einem stillen Vakuum spiralförmig abwärts. Weil es ein drogeninduziertes Gefühl war, hörte es wieder auf, bevor ich irgendwo ankam, aber seitdem glaube ich: So ist Sterben, genau so.
Sterben ist privat. Es ist zutiefst intim und persönlich, ob es im Beisein anderer geschieht oder nicht. Was auch immer Sterbende erleben, niemand außer ihnen kann es wissen. Es ist keine geteilte Erfahrung. Ich habe Menschen beim Sterben begleitet und mich gefragt, wer am Ende wen allein lässt, und dann gedacht: ich sie.
Die Vorstellung, hinterher niemandem erzählen zu können, wie das war, als ich gestorben bin, hat mich schon als Kind wahnsinnig gemacht. Dass andere behaupteten, es zu wissen, erschien mir nicht glaubwürdig, auch wenn mir der Gedanke gefiel, einfach einzuschlafen und dann von Vater und Mutter und all den lieben Verstorbenen oder gar dem Herrn Jesus am Himmelstor in Empfang genommen zu werden. Hölle interessierte mich nicht. Dafür später umso mehr ein Sterben mit Aussicht auf Wiedergeburt, was für ein geniales Konzept, da nimmt man den Abschied doch leicht, denn wir sehen uns bald wieder, als Küchenschabe oder Perserkatze oder karmabeladene Büßerin: ohne Erinnerung an mein Leben und Sterben davor, aber egal, Hauptsache wieder da.
Inzwischen bin ich alt genug, um weder Licht noch tote Verwandte an Tunnelenden zu erwarten und Reinkarnationsfantasien gaga zu finden, wenn es meine eigenen sind. Ich rechne mit nichts. Mir ein Nichts vorzustellen gelingt mir allerdings nicht gut, ein bisschen Weltall ist mit dabei, ein bisschen Meditation, ein bisschen Vollnarkose. Was ich mir jedoch mühelos vorstellen kann, ist das sepiafarbene Gefühl, das noch vor dem Nichts kommt.
Natürlich ist auch mein sepiafarbenes Gefühl pure Behauptung. Ich behaupte: Es wird mich finden, wenn es so weit ist. Es kommt in dem Moment zurück, in dem es keine Rolle mehr spielt, wie sehr ich die Menschen geliebt habe, die an meinem Sterbebett sitzen. Wenn mich mein eigenes Bedauern, dass sie ohne mich weiterleben werden, nicht mehr interessiert. Wenn ich begriffen habe, dass es mir passiert, und zwar genau jetzt. Wenn mein Entsetzen darüber nachlässt, dass ich den entscheidenden Schritt ins Leere gemacht, die Meeresströmung unterschätzt, den rechts abbiegenden LKW übersehen habe. Wenn ich nachgebe, aufgebe, mich hingebe. Sollte ich mein Leben je selbst beenden wollen, erwarte ich das Gefühl nach dem Einnehmen des Mittels meiner Wahl. Sich erschießen, sich erhängen, sich vor einen Zug werfen oder irgendwo hinunterspringen erfordert ein sepiafarbenes Gefühl lange vor dem point of no return, und das ist nichts für mich. Es ist kein Gefühl, das mein Handeln bestimmt. Es gehört zum Ausgeliefertsein, zum Loslassen.
Das sepiafarbene Gefühl duldet kein anderes Gefühl neben sich. Keine Trauer, keine Verzweiflung, keine Hoffnung. Angst vor ihm bekam ich erst, als es längst vorbei war. Auch seine Farbe und die Bedeutung habe ich ihm erst hinterher geben können. Kein Grund also, sich davor zu fürchten, dass es wiederkommt. Been there. Not done yet.
Susann Pásztor ist Schriftstellerin, lebt in Berlin und arbeitet seit neun Jahren als ehrenamtliche Sterbebegleiterin in einem Berliner Hospiz.
Der Text erschien im Spielzeitheft 2019/20.
Sterben ist privat. Es ist zutiefst intim und persönlich, ob es im Beisein anderer geschieht oder nicht. Was auch immer Sterbende erleben, niemand außer ihnen kann es wissen. Es ist keine geteilte Erfahrung. Ich habe Menschen beim Sterben begleitet und mich gefragt, wer am Ende wen allein lässt, und dann gedacht: ich sie.
Die Vorstellung, hinterher niemandem erzählen zu können, wie das war, als ich gestorben bin, hat mich schon als Kind wahnsinnig gemacht. Dass andere behaupteten, es zu wissen, erschien mir nicht glaubwürdig, auch wenn mir der Gedanke gefiel, einfach einzuschlafen und dann von Vater und Mutter und all den lieben Verstorbenen oder gar dem Herrn Jesus am Himmelstor in Empfang genommen zu werden. Hölle interessierte mich nicht. Dafür später umso mehr ein Sterben mit Aussicht auf Wiedergeburt, was für ein geniales Konzept, da nimmt man den Abschied doch leicht, denn wir sehen uns bald wieder, als Küchenschabe oder Perserkatze oder karmabeladene Büßerin: ohne Erinnerung an mein Leben und Sterben davor, aber egal, Hauptsache wieder da.
Inzwischen bin ich alt genug, um weder Licht noch tote Verwandte an Tunnelenden zu erwarten und Reinkarnationsfantasien gaga zu finden, wenn es meine eigenen sind. Ich rechne mit nichts. Mir ein Nichts vorzustellen gelingt mir allerdings nicht gut, ein bisschen Weltall ist mit dabei, ein bisschen Meditation, ein bisschen Vollnarkose. Was ich mir jedoch mühelos vorstellen kann, ist das sepiafarbene Gefühl, das noch vor dem Nichts kommt.
Natürlich ist auch mein sepiafarbenes Gefühl pure Behauptung. Ich behaupte: Es wird mich finden, wenn es so weit ist. Es kommt in dem Moment zurück, in dem es keine Rolle mehr spielt, wie sehr ich die Menschen geliebt habe, die an meinem Sterbebett sitzen. Wenn mich mein eigenes Bedauern, dass sie ohne mich weiterleben werden, nicht mehr interessiert. Wenn ich begriffen habe, dass es mir passiert, und zwar genau jetzt. Wenn mein Entsetzen darüber nachlässt, dass ich den entscheidenden Schritt ins Leere gemacht, die Meeresströmung unterschätzt, den rechts abbiegenden LKW übersehen habe. Wenn ich nachgebe, aufgebe, mich hingebe. Sollte ich mein Leben je selbst beenden wollen, erwarte ich das Gefühl nach dem Einnehmen des Mittels meiner Wahl. Sich erschießen, sich erhängen, sich vor einen Zug werfen oder irgendwo hinunterspringen erfordert ein sepiafarbenes Gefühl lange vor dem point of no return, und das ist nichts für mich. Es ist kein Gefühl, das mein Handeln bestimmt. Es gehört zum Ausgeliefertsein, zum Loslassen.
Das sepiafarbene Gefühl duldet kein anderes Gefühl neben sich. Keine Trauer, keine Verzweiflung, keine Hoffnung. Angst vor ihm bekam ich erst, als es längst vorbei war. Auch seine Farbe und die Bedeutung habe ich ihm erst hinterher geben können. Kein Grund also, sich davor zu fürchten, dass es wiederkommt. Been there. Not done yet.
Susann Pásztor ist Schriftstellerin, lebt in Berlin und arbeitet seit neun Jahren als ehrenamtliche Sterbebegleiterin in einem Berliner Hospiz.
Der Text erschien im Spielzeitheft 2019/20.
Besetzung
Biegler, RechtsanwältinCathleen Baumann
Vorsitzende des EthikratsJudith Bohle
Sperling, medizinischer SachverständigerAndreas Grothgar
Brandt, AugenarztFlorian Lange
Richard, GärtnerWolfgang Reinbacher
Keller, Mitglied des EthikratsMichaela Steiger
Litten, RechtssachverständigerRaphael Gehrmann
Thiel, theologischer SachverständigerThomas Wittmann
RegieRobert Gerloff
BühneMaximilian Lindner
KostümNina Kroschinske
MusikCornelius Borgolte
VideoSimon Hegenberg
DramaturgieRobert Koall
Dauer
2 Stunden — keine Pause
Liebe Lehrer*innen, wenn Sie theaterpädagogische Angebote wie Workshops, Nachgespräche oder Einführungen zu dieser Inszenierung wünschen, wenden Sie sich bitte an den Theaterpädagogin Lama Ali unter lama.ali@dhaus.de
Termine
Fr, 15.12. / 20:00 - 22:00
Schauspiel
http://www.dhaus.de/
D'haus - Düsseldorfer Schauspielhaus, Junges Schauspiel, Stadt:Kollektiv
Gustaf-Gründgens-Platz 1, 40211 Düsseldorf
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Schauspielhaus — Kleines Haus
Mi, 31.01. / 20:00 - 22:00
Schauspiel
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Gustaf-Gründgens-Platz 1, 40211 Düsseldorf
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Schauspielhaus — Kleines Haus