Stadtkinder
Eltern sind Pioniere — von Kirsten Boie
Stärker als jemals zuvor sitzt Eltern heute der Anspruch im Nacken, dass alles im Leben der Kinder nur von ihnen abhängt: Intelligenz; Sozialverhalten; dass ihnen nichts Schlimmes passiert sowieso; und vor allem dass sie (möglichst permanent) glücklich sind. Kinder empfinden diese Dauersorge dann schnell als mangelndes Zutrauen: Den Schulweg können sie nicht allein schaffen, ohne Elternaufsicht auf dem Spielpatz spielen auch nicht und schon gar nicht ihre Konflikte allein lösen. Wie sollen sie aber Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten gewinnen, wenn Mama und Papa es nicht haben? Wenn sie nie die Erfahrung machen, was sie alles allein hinkriegen? Ihr Selbstbewusstsein müssen Kinder heute häufig nur aus ihren (schulischen, sportlichen, musischen) Leistungen ziehen, kaum mehr daraus, dass sie ganz selbstverständlich allein ihren Alltag bewältigen. Für manches Kind, das diese Leistungen eben nicht bringen kann, fehlt da der tröstende Ausgleich. Dabei brauchen alle Kinder die Überzeugung: Ich bin so richtig, wie ich bin, auch wenn es in Mathe nicht klappt! (Bei einem Kind, das sich etwas zutraut, klappt es dann übrigens später manchmal sogar auch in Mathe.)
Großeltern haben in diesen Fragen oft eine entspanntere Haltung. Sie erinnern sich daran, wie anders ihre eigenen Kinder aufgewachsen sind, sie trauen den Enkelkindern mehr zu, verlangen dafür auf manchen Gebieten auch mehr, und vor allem spüren sie nicht diese unglaubliche Last der Verantwortung dafür, dass das Kind einmal den Nobelpreis gewinnen muss. Sie haben die verblüffende Erfahrung gemacht, dass mit Kindern am Ende in der Regel alles gut wird, selbst wenn es in der Schule nicht so toll läuft, selbst wenn es in der Pubertät vielleicht so aussieht, als strebe das Enkelkind zielsicher eine Zukunft in der Mafia oder unter der Brücke an. (Auch wenn das »Alles wird gut« oft vielleicht etwas vollkommen anderes bedeutet, als die Eltern ursprünglich für ihr Kind geplant hatten.) Darum können Großeltern gelassener sein und ihre Enkelkinder einfach nur lieben. Und das hilft gerade in schwierigen Zeiten manchmal am meisten.
Da viele Eltern trotz aller (Über-)Behütung den Anspruch haben, ihr Kind nicht zu sehr einzuengen, ihm möglichst wenig zu verweigern, schon überhaupt nicht mit negativen Konsequenzen zu arbeiten, fällt es ihnen oft schwer, die Zeit der Handynutzung zu begrenzen. Außerdem haben viele inzwischen Sorge, dass es in seiner Gruppe sonst ausgegrenzt werden könnte. Für Kinder (und Jugendliche) bedeutet die ständige Erreichbarkeit aber nicht weniger Stress als für Erwachsene. Und der Zwang zur permanenten Selbstdarstellung in den sozialen Medien mit der Jagd nach dauernder Anerkennung durch Likes oder Kommentare, das »Alle müssen mich immer toll finden!«, übt darüber hinaus einen enormen Druck aus. Wem es nicht gelingt, seine Social-Media-Popularität aufrechtzuerhalten oder sogar immer weiter zu steigern, der gerät (wie bei jeder Sucht) im schlimmsten Fall in die klassische Depressionsspirale. Die Persönlichkeitsentwicklung verläuft heute anders als früher, darüber haben wir bisher vielleicht noch zu wenig nachgedacht.
Ich würde mir für Kinder viel mehr »wirkliches Leben« wünschen – und dazu gehören (was gerade für Stadtkinder schwierig zu organisieren ist, ich weiß!) Erfahrungen nicht nur mit Menschen, sondern auch mit der Natur. Nein, das finde ich nicht überromantisch. Aus den verschiedensten Medien wissen und kennen Kinder heute schon ganz früh viel mehr von der Welt als andere Generationen – und das ist großartig. Aber sie kennen es nur virtuell. Das wirkliche Leben muss man riechen, anfassen, auf der Haut spüren können. (In den bei Jugendlichen beliebten dystopischen Romanen geht es übrigens häufig darum, dass irgendwann in der Zukunft die gesamte Technik zusammenbricht, es keinen Strom mehr gibt, digitale Medien sowieso nicht – und dass nur überlebt, wer in der Lage ist, sich in der Natur durchzuschlagen. Das finden die Jugendlichen krass.)
Aber natürlich sind Eltern in der Regel auch nicht die besten Vorbilder. Und manchmal machen sie es sich sogar zusätzlich schwer, wenn sie z. B. glauben, ihre Kinder per Tracking-App permanent überwachen zu müssen. Seit es die Möglichkeit der digitalen Kontrolle gibt, fühlen Eltern sich dazu verpflichtet, sie auch zu nutzen und möglichst oft zu kontrollieren: eine weitere Belastung für die Eltern und noch weniger Autonomie für die Kinder. Für Eltern, davon bin ich überzeugt, ist das Leben heute sehr viel schwieriger als früher. Für vieles gibt es noch keine gesellschaftlich akzeptierten Regeln, Patentlösungen sowieso nicht. Lösungen muss nun jede Familie für sich selbst finden. Heutige Eltern sind darum Pioniere. Und das war noch niemals einfach.
Kirsten Boie ist eine der wichtigsten deutschsprachigen Kinder- und Jugendbuchautor*innen. Inzwischen sind von ihr rund hundert Bücher erschienen und in zahlreiche Sprachen übersetzt worden. Neben Kinder- und Jugendbüchern schreibt Kirsten Boie auch Vorträge und Aufsätze zu Aspekten der Kinder- und Jugendliteratur und der Leseförderung.
Der Text erschien im Spielzeitheft 2019/20.
Großeltern haben in diesen Fragen oft eine entspanntere Haltung. Sie erinnern sich daran, wie anders ihre eigenen Kinder aufgewachsen sind, sie trauen den Enkelkindern mehr zu, verlangen dafür auf manchen Gebieten auch mehr, und vor allem spüren sie nicht diese unglaubliche Last der Verantwortung dafür, dass das Kind einmal den Nobelpreis gewinnen muss. Sie haben die verblüffende Erfahrung gemacht, dass mit Kindern am Ende in der Regel alles gut wird, selbst wenn es in der Schule nicht so toll läuft, selbst wenn es in der Pubertät vielleicht so aussieht, als strebe das Enkelkind zielsicher eine Zukunft in der Mafia oder unter der Brücke an. (Auch wenn das »Alles wird gut« oft vielleicht etwas vollkommen anderes bedeutet, als die Eltern ursprünglich für ihr Kind geplant hatten.) Darum können Großeltern gelassener sein und ihre Enkelkinder einfach nur lieben. Und das hilft gerade in schwierigen Zeiten manchmal am meisten.
Da viele Eltern trotz aller (Über-)Behütung den Anspruch haben, ihr Kind nicht zu sehr einzuengen, ihm möglichst wenig zu verweigern, schon überhaupt nicht mit negativen Konsequenzen zu arbeiten, fällt es ihnen oft schwer, die Zeit der Handynutzung zu begrenzen. Außerdem haben viele inzwischen Sorge, dass es in seiner Gruppe sonst ausgegrenzt werden könnte. Für Kinder (und Jugendliche) bedeutet die ständige Erreichbarkeit aber nicht weniger Stress als für Erwachsene. Und der Zwang zur permanenten Selbstdarstellung in den sozialen Medien mit der Jagd nach dauernder Anerkennung durch Likes oder Kommentare, das »Alle müssen mich immer toll finden!«, übt darüber hinaus einen enormen Druck aus. Wem es nicht gelingt, seine Social-Media-Popularität aufrechtzuerhalten oder sogar immer weiter zu steigern, der gerät (wie bei jeder Sucht) im schlimmsten Fall in die klassische Depressionsspirale. Die Persönlichkeitsentwicklung verläuft heute anders als früher, darüber haben wir bisher vielleicht noch zu wenig nachgedacht.
Ich würde mir für Kinder viel mehr »wirkliches Leben« wünschen – und dazu gehören (was gerade für Stadtkinder schwierig zu organisieren ist, ich weiß!) Erfahrungen nicht nur mit Menschen, sondern auch mit der Natur. Nein, das finde ich nicht überromantisch. Aus den verschiedensten Medien wissen und kennen Kinder heute schon ganz früh viel mehr von der Welt als andere Generationen – und das ist großartig. Aber sie kennen es nur virtuell. Das wirkliche Leben muss man riechen, anfassen, auf der Haut spüren können. (In den bei Jugendlichen beliebten dystopischen Romanen geht es übrigens häufig darum, dass irgendwann in der Zukunft die gesamte Technik zusammenbricht, es keinen Strom mehr gibt, digitale Medien sowieso nicht – und dass nur überlebt, wer in der Lage ist, sich in der Natur durchzuschlagen. Das finden die Jugendlichen krass.)
Aber natürlich sind Eltern in der Regel auch nicht die besten Vorbilder. Und manchmal machen sie es sich sogar zusätzlich schwer, wenn sie z. B. glauben, ihre Kinder per Tracking-App permanent überwachen zu müssen. Seit es die Möglichkeit der digitalen Kontrolle gibt, fühlen Eltern sich dazu verpflichtet, sie auch zu nutzen und möglichst oft zu kontrollieren: eine weitere Belastung für die Eltern und noch weniger Autonomie für die Kinder. Für Eltern, davon bin ich überzeugt, ist das Leben heute sehr viel schwieriger als früher. Für vieles gibt es noch keine gesellschaftlich akzeptierten Regeln, Patentlösungen sowieso nicht. Lösungen muss nun jede Familie für sich selbst finden. Heutige Eltern sind darum Pioniere. Und das war noch niemals einfach.
Kirsten Boie ist eine der wichtigsten deutschsprachigen Kinder- und Jugendbuchautor*innen. Inzwischen sind von ihr rund hundert Bücher erschienen und in zahlreiche Sprachen übersetzt worden. Neben Kinder- und Jugendbüchern schreibt Kirsten Boie auch Vorträge und Aufsätze zu Aspekten der Kinder- und Jugendliteratur und der Leseförderung.
Der Text erschien im Spielzeitheft 2019/20.
Besetzung
MarthaMarie Jensen
MikkelAli Aykar
MatsJonathan Gyles
EnesRon Iyamu
Mama / Eine MaklerinNatalie Hanslik
Papa / Herr BoysenEduard Lind
RegieJuliane Kann
Bühne und KostümMarie Gimpel
MusikMiriam Berger
DramaturgieDavid Benjamin Brückel
TheaterpädagogikThiemo Hackel