Liebe im Anthropozän
— Der spanische Philosoph Paul B. Preciado über unsere Vorstellung von Natur unter den Vorzeichen einer neuen Tier-Mensch-Beziehung
Ich habe eine Hin- und Rückfahrt von mehreren Hunderten Kilometern auf mich genommen, nur um Philomènes Wärme zu spüren. Sie ist klug, ein bisschen geheimnisvoll und außergewöhnlich schön. Ihr Enthusiasmus ist ansteckend, und es ist unmöglich, nicht zu lächeln, wenn man sie anschaut. Ihre bloße Anwesenheit erfüllt mich mit inniger Freude, mit einer intensiven organischen Lust. Sie liebt mich. Wenn ich das Zimmer betrete, weiß sie es, ohne dass sie mich anschauen müsste. Sie versucht, sich an meine Haut zu schmiegen, behutsam, ohne sich aufzudrängen. Wenn ich sie streichle, schließt sie vor Wohligkeit die Augen. Es rührt mich, wenn sich dann drei kleine Falten auf ihrer Stirn abzeichnen, und es scheint mir unvorstellbar, jetzt zu gehen und mich schlafen zu legen, ohne sie in meiner Nähe zu spüren.
Philomène ist flauschig und hat ein weißes Gesicht, aber das Fell um ihre Augen und auf den hochstehenden Ohren ist schwarz. Nach Carl von Linnés biologischer Taxonomie von 1758, die bis heute in Gebrauch ist, gehört sie zur Spezies Canis lupus familiaris, ich zur Spezies Homo sapiens. Sollte ich je eine deanthropozentrierte Autobiografie schreiben, müsste ich nicht nur bekennen, dass ich mich viermal heftig in Canis lupus verliebt habe, sondern dass die Canis lupus die großen Lieben meines Lebens sind. Philomène ist nicht meine Projektionsfläche und nicht mein Spielzeug, sie ist kein Mittel gegen die Einsamkeit und sie ist auch kein Ersatz für das Kind, das ich nicht habe. Ja, ich bekräftige es, ich kenne die Hundeliebe.
Als Kind war ich ein Körper, der über die Felder streifte, ein Bruder der Tiere. Ich war ihresgleichen. Im Haus dagegen, in der Schule, der Kirche, überall, wo Tiere keinen Zutritt hatten, fühlte ich mich allein. Ja, das ist es, was ich fühle. Und noch ein Coming-out, ein endgültiges diesmal: Ich bin terraphil. Verliebt in diesen Planeten. Dichtes Gras betört mich, nichts berührt mich mehr als die sanfte Bewegung einer Raupe, die auf der Rinde eines Baums nach oben kriecht. Wenn mich niemand sieht, bücke ich mich manchmal, um einen Regenwurm zu küssen, und habe dabei das Gefühl, dass mein Atem vielleicht den Rhythmus seines Gasaustauschs beschleunigt.
Erdgeschichtler sagen, wir hätten das Holozän hinter uns gelassen und seien ins Anthropozän eingetreten. Spätestens mit der industriellen Revolution ist unsere Art, der Homo sapiens, zur Hauptkraft der Veränderung des Ökosystems der Erde geworden. Das Anthropozän definiert sich nicht allein durch unseren Protagonismus, sondern vor allem durch Ausweitung der nekropolitischen Technologien, die unsere Art ersonnen hat, auf den gesamten Planeten: Die kapitalistischen und kolonialen Praktiken, die Kultur der Kohle und des Öls, die Verwandlung von Ökosystemen in verwertbare Ressourcen haben eine Welle der Auslöschung von Tieren und Pflanzen und die Erderwärmung ausgelöst. Um unsere Beziehung zum Planeten Erde in eine Souveränitäts-, Herrschafts- und Todesbeziehung zu verwandeln, war es unerlässlich, einen Prozess des Bruchs, der Abspaltung, der Entfremdung, des Verlusts von Liebe und Zuneigung in Gang zu setzen. Unsere Beziehung zur Macht zu erotisieren und unser Verhältnis zum Planeten zu enterotisieren. Uns davon zu überzeugen, dass wir außerhalb stehen, dass wir anders sind.
Philomène und ich sind Kinder des Anthropozäns. Unsere Beziehung bleibt von Machtasymmetrien geprägt. Von Rechts wegen bin ich befugt, sie zu unterwerfen, sie einzusperren, über ihre Jungen zu verfügen, sie zu verlassen, sie zu verkaufen. Und dennoch, wir lieben uns. Haben doch Canis lupus und Homo sapiens, wie Donna Haraway uns gelehrt hat, über die letzten 9000 Jahre hinweg einander zu »Gefährtenspezies« gemacht. Der Hund ist das Tier, das über die Schwelle des menschlichen Hauses getreten ist, nicht, um gegessen zu werden, sondern um mit uns zu essen. Es gab eine Zeit, da wir die Beute des Wolfs waren, und wir haben ihn verändert, wir haben uns verändert, in Beutegefährten. In dem Maße, in dem sie Hunde wurden, wurden wir Menschen. Wie konnte es dazu kommen? Was es hier zu begreifen gilt, ist zweifellos ein außergewöhnlicher, ja singulärer politischer Prozess. Philomène und ich lieben uns in der Lücke, die die Nekropolitik gelassen hat. Hundeliebe, sagt Haraway, »ist eine historische Aberration und ein Natur-Kultur-Erbe«. Vielleicht ist dies der einzige Beweis dafür, dass ein erdumspannendes demokratisches Projekt möglich ist. Dass der Feminismus, die Dekolonialisierung, die Versöhnung, von der Mandela träumte, möglich sind.
Paris, 12. April 2014
Philomène ist flauschig und hat ein weißes Gesicht, aber das Fell um ihre Augen und auf den hochstehenden Ohren ist schwarz. Nach Carl von Linnés biologischer Taxonomie von 1758, die bis heute in Gebrauch ist, gehört sie zur Spezies Canis lupus familiaris, ich zur Spezies Homo sapiens. Sollte ich je eine deanthropozentrierte Autobiografie schreiben, müsste ich nicht nur bekennen, dass ich mich viermal heftig in Canis lupus verliebt habe, sondern dass die Canis lupus die großen Lieben meines Lebens sind. Philomène ist nicht meine Projektionsfläche und nicht mein Spielzeug, sie ist kein Mittel gegen die Einsamkeit und sie ist auch kein Ersatz für das Kind, das ich nicht habe. Ja, ich bekräftige es, ich kenne die Hundeliebe.
Als Kind war ich ein Körper, der über die Felder streifte, ein Bruder der Tiere. Ich war ihresgleichen. Im Haus dagegen, in der Schule, der Kirche, überall, wo Tiere keinen Zutritt hatten, fühlte ich mich allein. Ja, das ist es, was ich fühle. Und noch ein Coming-out, ein endgültiges diesmal: Ich bin terraphil. Verliebt in diesen Planeten. Dichtes Gras betört mich, nichts berührt mich mehr als die sanfte Bewegung einer Raupe, die auf der Rinde eines Baums nach oben kriecht. Wenn mich niemand sieht, bücke ich mich manchmal, um einen Regenwurm zu küssen, und habe dabei das Gefühl, dass mein Atem vielleicht den Rhythmus seines Gasaustauschs beschleunigt.
Erdgeschichtler sagen, wir hätten das Holozän hinter uns gelassen und seien ins Anthropozän eingetreten. Spätestens mit der industriellen Revolution ist unsere Art, der Homo sapiens, zur Hauptkraft der Veränderung des Ökosystems der Erde geworden. Das Anthropozän definiert sich nicht allein durch unseren Protagonismus, sondern vor allem durch Ausweitung der nekropolitischen Technologien, die unsere Art ersonnen hat, auf den gesamten Planeten: Die kapitalistischen und kolonialen Praktiken, die Kultur der Kohle und des Öls, die Verwandlung von Ökosystemen in verwertbare Ressourcen haben eine Welle der Auslöschung von Tieren und Pflanzen und die Erderwärmung ausgelöst. Um unsere Beziehung zum Planeten Erde in eine Souveränitäts-, Herrschafts- und Todesbeziehung zu verwandeln, war es unerlässlich, einen Prozess des Bruchs, der Abspaltung, der Entfremdung, des Verlusts von Liebe und Zuneigung in Gang zu setzen. Unsere Beziehung zur Macht zu erotisieren und unser Verhältnis zum Planeten zu enterotisieren. Uns davon zu überzeugen, dass wir außerhalb stehen, dass wir anders sind.
Philomène und ich sind Kinder des Anthropozäns. Unsere Beziehung bleibt von Machtasymmetrien geprägt. Von Rechts wegen bin ich befugt, sie zu unterwerfen, sie einzusperren, über ihre Jungen zu verfügen, sie zu verlassen, sie zu verkaufen. Und dennoch, wir lieben uns. Haben doch Canis lupus und Homo sapiens, wie Donna Haraway uns gelehrt hat, über die letzten 9000 Jahre hinweg einander zu »Gefährtenspezies« gemacht. Der Hund ist das Tier, das über die Schwelle des menschlichen Hauses getreten ist, nicht, um gegessen zu werden, sondern um mit uns zu essen. Es gab eine Zeit, da wir die Beute des Wolfs waren, und wir haben ihn verändert, wir haben uns verändert, in Beutegefährten. In dem Maße, in dem sie Hunde wurden, wurden wir Menschen. Wie konnte es dazu kommen? Was es hier zu begreifen gilt, ist zweifellos ein außergewöhnlicher, ja singulärer politischer Prozess. Philomène und ich lieben uns in der Lücke, die die Nekropolitik gelassen hat. Hundeliebe, sagt Haraway, »ist eine historische Aberration und ein Natur-Kultur-Erbe«. Vielleicht ist dies der einzige Beweis dafür, dass ein erdumspannendes demokratisches Projekt möglich ist. Dass der Feminismus, die Dekolonialisierung, die Versöhnung, von der Mandela träumte, möglich sind.
Paris, 12. April 2014
Besetzung
MitKilian Land
Szenische EinrichtungRoger Vontobel
DramaturgieLynn Takeo Musiol
Dauer
45 Minuten — keine Pause