Kristall
Der Regisseur und Autor Kristo Šagor über das diesjährige Familienstück und seine Lesart von Hans Christian Andersens Märchen
Als Kay beginnt, sich die Schneekönigin genau vorzustellen, wechselt die Großmutter schnell das Thema. Eigentlich sprach sie nur über Schneeflocken, sprach von ihnen als weißen Bienen, die schwärmen. Es ist Kay, der fragt, ob sie auch eine »Bienenkönigin« haben. Ja, sagt die Großmutter, das haben sie: »Sie ist die größte von allen. In mancher Winternacht guckt sie in die Fenster hinein, und dann frieren die so zu, dass es aussieht wie Blumen.« »Ja, das habe ich gesehen!«, sagen die beiden Kinder, und nun wissen sie, dass es wahr ist. – In dem Moment kann der Leser über die Leichtgläubigkeit der Kleinen noch lächeln. – »Kann die Schneekönigin hier hereinkommen?« Die Bezeichnung »Schneekönigin« wiederum ist von Gerda. Es sind die Kinder, die das Wort und damit auch die Figur erfinden. Schon zwei Seiten weiter ist die Schneekönigin Wirklichkeit und nimmt Kay mit sich. Die kindliche Fantasie erzeugt Realität.
Andersens Märchen sind zauberhaft, auch wenn ihre Protagonisten so gebeutelt sind. »Die wilden Schwäne«, »Die kleine Meerjungfrau«, »Die Schneekönigin« – im Zentrum von Andersens schönsten Märchen steht immer die so verzweifelte wie unbeirrbare Suche nach dem oder den geliebten Menschen, stets verbunden mit dem Versprechen, dabei zugleich den richtigen Platz im Leben zu finden. Und mit der Drohung, zu scheitern und jede Zugehörigkeit zu verlieren. Andersen hat Sympathie für die Ausgegrenzten, für die Verstummten. Elisa, die kleine Meerjungfrau und auch Kay sind Figuren, die nicht mehr sprechen können und sich darauf verlassen müssen, von den wahren Geliebten als die erkannt zu werden, die sie sind.
Das Märchenhafte (oder Humanistische) besteht aber auch darin, dass fast alle, denen Gerda begegnet, ihr freundlich gesinnt sind und ihr bei ihrer Suche nach Kay helfen. Die Krähen verraten für sie Prinz und Prinzessin und lassen sie heimlich ins Schloss. Das gefährliche Räubermädchen schenkt ihr sein Rentier, das es vorher so gern mit dem Messer gekitzelt hat. Die Figur, die Gerda bei ihrer Suche schadet, indem sie versucht, sie für immer bei sich zu behalten, wirkt auf den ersten Blick sehr freundlich: eine gute Hexe mit einem atemberaubenden Sommergarten, in dem jede erdenkliche Blume wächst. Nur die Rosen rottet sie aus, als sie begreift, dass diese Blumen Gerda an Kay und an ihre Suche nach ihm erinnern. Diese gute Hexe steht für eine beschützende Liebe, die erdrückt.
Die Schneekönigin dagegen steht für den kalten Intellekt. Symmetrie und Logik der Formen machen sie so verführerisch für Kay. Er verfällt der Perfektion der Schneeflocken, noch bevor die Schneekönigin ihm mit einem Kuss jede Erinnerung an sein altes Leben nimmt. Und danach widmet er all seine Zeit der Aufgabe, mit Eisstücken Figuren zu legen. Ganz den Geschlechterklischees entsprechend verkörpert Kay den Verstand und Gerda die Empfindung. Und für beide ist ihre jeweilige Begabung die Falle, in die sie laufen. Darin sind sie ganz Mensch. Unsere Stärken und Schwächen hängen unmittelbar zusammen. Oft werden wir Opfer gerade unserer Talente.
Die beiden Frauen rauben den Kindern ihre Vergangenheit. Die gute Hexe ist nicht die Gegenspielerin der Schneekönigin, sondern ihr Pendant: Wenn Gefühle alles überwältigen – Erinnerungen, Überzeugungen und Ziele –, verliert der Mensch die Kontrolle über sein Leben. Und wenn der Verstand alles dominiert, erscheint das Leben nicht lebenswert. Andersen propagiert eine Verschmelzung von Kopf und Herz. Erst als Gerda Kay zum Weinen bringt, tanzen die Eisstücke von ganz allein in die richtige Position, und Kay ist frei. Wenn wir unser Leben im Gleichgewicht halten, fügt sich vieles von selbst. Intuition, Kairos, Gottesgeschenk, welche Sprache auch immer man wählt – vieles fällt uns zu, wenn wir Herz und Hirn gleichermaßen folgen. Das ist leider fast immer unmöglich. Deswegen ist »Die Schneekönigin« ein Märchen.
Erst vier Jahre nach Andersens Tod gelang Johann Flögel die erste Fotografie einer Schneeflocke, und erst zehn Jahre nach Andersens Tod begann Wilson A. Bentley, systematisch fünftausend verschiedene Schneekristalle zu fotografieren. Eine Schneeflocke enthält 1018 Wassermoleküle, und es gibt mehr mögliche Formationen als Atome im All. Wissenschaftler gehen davon aus, dass keine zwei Schneekristalle jemals gleich sind, selbst wenn es jedes Jahr 1024 von ihnen gibt.
Es ist die Schneekönigin, die Kay auffordert, das Wort »Ewigkeit« zu legen, und vor dem Hintergrund der Einzigartigkeit aller 10xyz Schneeflocken, die jemals gefallen sind und jemals fallen werden, wirkt die Unmöglichkeit dieser Aufgabe ganz konkret. Andersen hat nicht gewusst, was wir heute wissen, aber er hat es, so scheint es, gefühlt.
Als Kay und Gerda glücklich aus dem Eis zurückkehren, haben sie einen Zyklus hinter sich gebracht: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Zu Hause angekommen bemerken sie plötzlich, dass sie Erwachsene geworden sind. Eben noch Nachbarsbrüderchen und Nachbarsschwesterchen, sind sie plötzlich Mann und Frau, ein Paar, das umeinander gerungen hat. Die Kinderstühle von damals sind plötzlich so klein. Kay und Gerda haben die Märchenwelt, von der die Großmutter nur spricht, gelebt.
Kristo Šagor, geb. 1976, wuchs in Lübeck auf und studierte Neuere Deutsche Literatur, Theaterwissenschaften und Linguistik an der Freien Universität Berlin. Er arbeitet als Dramatiker und Regisseur.
Andersens Märchen sind zauberhaft, auch wenn ihre Protagonisten so gebeutelt sind. »Die wilden Schwäne«, »Die kleine Meerjungfrau«, »Die Schneekönigin« – im Zentrum von Andersens schönsten Märchen steht immer die so verzweifelte wie unbeirrbare Suche nach dem oder den geliebten Menschen, stets verbunden mit dem Versprechen, dabei zugleich den richtigen Platz im Leben zu finden. Und mit der Drohung, zu scheitern und jede Zugehörigkeit zu verlieren. Andersen hat Sympathie für die Ausgegrenzten, für die Verstummten. Elisa, die kleine Meerjungfrau und auch Kay sind Figuren, die nicht mehr sprechen können und sich darauf verlassen müssen, von den wahren Geliebten als die erkannt zu werden, die sie sind.
Das Märchenhafte (oder Humanistische) besteht aber auch darin, dass fast alle, denen Gerda begegnet, ihr freundlich gesinnt sind und ihr bei ihrer Suche nach Kay helfen. Die Krähen verraten für sie Prinz und Prinzessin und lassen sie heimlich ins Schloss. Das gefährliche Räubermädchen schenkt ihr sein Rentier, das es vorher so gern mit dem Messer gekitzelt hat. Die Figur, die Gerda bei ihrer Suche schadet, indem sie versucht, sie für immer bei sich zu behalten, wirkt auf den ersten Blick sehr freundlich: eine gute Hexe mit einem atemberaubenden Sommergarten, in dem jede erdenkliche Blume wächst. Nur die Rosen rottet sie aus, als sie begreift, dass diese Blumen Gerda an Kay und an ihre Suche nach ihm erinnern. Diese gute Hexe steht für eine beschützende Liebe, die erdrückt.
Die Schneekönigin dagegen steht für den kalten Intellekt. Symmetrie und Logik der Formen machen sie so verführerisch für Kay. Er verfällt der Perfektion der Schneeflocken, noch bevor die Schneekönigin ihm mit einem Kuss jede Erinnerung an sein altes Leben nimmt. Und danach widmet er all seine Zeit der Aufgabe, mit Eisstücken Figuren zu legen. Ganz den Geschlechterklischees entsprechend verkörpert Kay den Verstand und Gerda die Empfindung. Und für beide ist ihre jeweilige Begabung die Falle, in die sie laufen. Darin sind sie ganz Mensch. Unsere Stärken und Schwächen hängen unmittelbar zusammen. Oft werden wir Opfer gerade unserer Talente.
Die beiden Frauen rauben den Kindern ihre Vergangenheit. Die gute Hexe ist nicht die Gegenspielerin der Schneekönigin, sondern ihr Pendant: Wenn Gefühle alles überwältigen – Erinnerungen, Überzeugungen und Ziele –, verliert der Mensch die Kontrolle über sein Leben. Und wenn der Verstand alles dominiert, erscheint das Leben nicht lebenswert. Andersen propagiert eine Verschmelzung von Kopf und Herz. Erst als Gerda Kay zum Weinen bringt, tanzen die Eisstücke von ganz allein in die richtige Position, und Kay ist frei. Wenn wir unser Leben im Gleichgewicht halten, fügt sich vieles von selbst. Intuition, Kairos, Gottesgeschenk, welche Sprache auch immer man wählt – vieles fällt uns zu, wenn wir Herz und Hirn gleichermaßen folgen. Das ist leider fast immer unmöglich. Deswegen ist »Die Schneekönigin« ein Märchen.
Erst vier Jahre nach Andersens Tod gelang Johann Flögel die erste Fotografie einer Schneeflocke, und erst zehn Jahre nach Andersens Tod begann Wilson A. Bentley, systematisch fünftausend verschiedene Schneekristalle zu fotografieren. Eine Schneeflocke enthält 1018 Wassermoleküle, und es gibt mehr mögliche Formationen als Atome im All. Wissenschaftler gehen davon aus, dass keine zwei Schneekristalle jemals gleich sind, selbst wenn es jedes Jahr 1024 von ihnen gibt.
Es ist die Schneekönigin, die Kay auffordert, das Wort »Ewigkeit« zu legen, und vor dem Hintergrund der Einzigartigkeit aller 10xyz Schneeflocken, die jemals gefallen sind und jemals fallen werden, wirkt die Unmöglichkeit dieser Aufgabe ganz konkret. Andersen hat nicht gewusst, was wir heute wissen, aber er hat es, so scheint es, gefühlt.
Als Kay und Gerda glücklich aus dem Eis zurückkehren, haben sie einen Zyklus hinter sich gebracht: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Zu Hause angekommen bemerken sie plötzlich, dass sie Erwachsene geworden sind. Eben noch Nachbarsbrüderchen und Nachbarsschwesterchen, sind sie plötzlich Mann und Frau, ein Paar, das umeinander gerungen hat. Die Kinderstühle von damals sind plötzlich so klein. Kay und Gerda haben die Märchenwelt, von der die Großmutter nur spricht, gelebt.
Kristo Šagor, geb. 1976, wuchs in Lübeck auf und studierte Neuere Deutsche Literatur, Theaterwissenschaften und Linguistik an der Freien Universität Berlin. Er arbeitet als Dramatiker und Regisseur.
Besetzung
Gerda, Teresa Zschernig
Kind 3, das mutigste (Die gute Hexe / Der Prinz)Jonathan Gyles
Kind 4, das klügste (Das Räubermädchen / Die Finnin)Maëlle Giovanetti
Kind 5, das feinste (Die Krähe / Das Rentier)Jonathan Schimmer
Kind 6, das ernsteste (Die Großmutter / Die Räubermutter)Kerstin König
Kind 7, das gemeinste (Der Teufel / Die Prinzessin)Thomas Kitsche
Kind 8, das zarteste (Die Schneekönigin)Anna Beetz
Besetzungsänderung: Aufgrund einer Erkrankung wird Teresa Zschernig die Rolle der Gerda in »Die Schneekönigin« übernehmen. In den Vorstellungen am 14. Januar wird Anke Retzlaff die Rolle der Gerda spielen.
Mit freundlicher Unterstützung der Stadtsparkasse Düsseldorf