Krähe
Der Düsseldorfer Autor und Illustrator Martin Baltscheit lässt den kleinen Prinzen auf die Erde zurückkehren.
Das moderne Kunstmärchen »Der kleine Prinz« gehört zu den meistgelesenen Büchern, es wurde weltweit über 140 Millionen Mal verkauft. Es geht um Gefühle, das Leben. Der kleine Prinz erzählt von seinem Universum, reist von Planet zu Planet, kommt auf die Erde. Diese Reise spricht uns an, denn sie hinterfragt unseren Bezug zur Welt. Die Kinder finden sich wieder, im Fuchs, in der Rose, im kleinen Prinzen. Erwachsene geben es ihren Kindern und lesen es selbst. Doch Antoine de Saint-Exupérys Geschichte ist kein reines Kinderbuch. Es hat auch eine trübe Seite, beschäftigt sich mit der Frage, wie man in einer Welt, die von Lügen, von Illusionen durchzogen ist, glücklich leben kann. Die Geschichte endet, als der kleine Prinz wieder zurück zu seinem Planeten will. Er verlässt den Piloten, macht sich auf den Rückweg zu seiner Rose. Seinen Körper lässt er auf der Erde. Zu schwer wäre der für die lange Reise. Am Ende stirbt der kleine Prinz. Aber stirbt er wirklich? Wenn er stirbt, dann nur um zu seiner Rose zurückzukehren. In Wirklichkeit stirbt er also nicht. Zum 75. Jubiläum hat der deutsche Verlag des »Kleinen Prinzen« Martin Baltscheit gebeten, eine Fortsetzung der großen Geschichte um Freundschaft und Menschlichkeit zu schreiben. Baltscheit, selbst begeisterter Leser des Buchs, zögerte bei der Anfrage. Soll man das, ein so bedeutsames Werk weiterschreiben? Nun, als seine Tochter ihm Größenwahn attestierte, machte er sich an die Arbeit. Baltscheit, bekannt durch seine witzigen Tierparabeln, stellt dem kleinen Prinzen die freche Krähe zur Seite. Die Geschichte wurde keine richtige Fortsetzung und vor allem keine Imitation. Und so blickt der Düsseldorfer Autor, Illustrator und Schauspieler Martin Baltscheit auf seinen kleinen Prinzen:
Als der kleine Prinz zum zweiten Mal auf die Erde kam, um nach über 80 Jahren seinen Pilotenfreund zu finden, stand sein Buch in jedem Schaufenster. Zwischen Keksen und Klimbim. Das Buch. Die Geschichte des kleinen Prinzen. Der Prinz wunderte sich. Menschen lasen seine Geschichten, erzählten vom Laternenanzünder, dem Säufer oder dem Geografen. Nun, Geschichten waren eine Nahrung, die nur den eigenen Atem kostete. Im ganzen All waren sie von Anfang an eine Aufmerksamkeit ohne Gegenleistung, waren Teil des Lebens, waren das Leben selbst und keine von ihnen würde jemals beendet sein, solange sie erzählt wurde. Der kleine Prinz lief mit dem Buch in der Hand unter den Lichtern der Stadt auf der Suche nach seinem Freund. Er sah Schatten unter seinen Füßen auf- und abtauchen und niemand beachtete ihn. Anders als in der Wüste lebten hier unzählige Menschen auf engem Raum. Eine Rose wusste mehr von ihren Nachbarn und grüßte höflicher, dachte der kleine Prinz. Doch die gab es ja nicht mehr. Das Schaf hatte die Rose gefressen, als der Riemen seines Maulkorbes sich gelöst hatte. Deshalb musste er ja den Piloten wiederfinden. Der Junge aus dem All irrte weiter durch die Stadt. Immer wieder begegnete er einer Krähe, die vor allem auf ihr Futter bedacht schien. Und immer weiter suchte er nach dem Freund, der ihm doch eine neue Rose zeichnen sollte. Am Ende seines Weges war er fast ganz verschwunden, als er im letzten Augenblick ein Plakat vor sich sah: ›Der kleine Prinz und die Krähe‹ war da zu lesen. Mitten in der Stadt hing das Plakat, an einem Haus, das sich Theater nannte. Die Kassiererin lobte den blonden Jungen für seine Verkleidung, lächelte und setzte ihn in die erste Reihe. Der kleine Prinz sah ein Stück über sich selbst und hatte nicht eine Sekunde das Gefühl, etwas Bekanntes zu erleben. Inmitten eines neugierigen Publikums, das miteinander lachte, sich fürchtete, ungeduldig fieberte und sich flüsternd auf gewisse Dinge aufmerksam machte, begegnete er sich selbst, aber vor allem einer Krähe. Ziemlich frech und ewig hungrig wurde sie ihm zur Begleiterin. Wer nun wen gezähmt hatte, war nicht ganz eindeutig, doch der kleine Prinz spürte, dass sie auf ihn aufpasste.
Martin Baltscheit erzählt mit klarer Sprache und haucht seinen Figuren ein ganz eigenes Leben ein. Er verleiht ihnen Witz, ohne zugleich die philosophische Tiefe der Dialoge oder die existenziellen Sorgen zu schmälern. Vielleicht ist es diese von Exupéry geliehene, wunderbar ätherische Naivität, die dem kleinen Prinzen bei seiner Wiederkehr auf die Erde die unmöglichsten Begegnungen verschafft. Und vielleicht ist es seine unprätentiöse Weisheit, ganz sicher aber die Erkenntnis über die neu gewonnene Freundschaft zu einer höchst lebendigen Krähe, die ihn zum Schluss eine kräftige, lebensbejahende Entscheidung treffen lässt. Ganz nebenbei räumt Baltscheit dem kleinen Prinzen das Recht auf Autonomie ein. So entsteht eine Geschichte übers Erwachsenwerden und eine über unsere Zeit. Im dreißigsten Jubiläumsjahr der UN-Kinderrechtskonvention bringt das Junge Schauspiel dieses Loblied auf eine naive Weltsicht zur Uraufführung.
Der Text ist erschienen im Spielzeitheft 2019/20.
Als der kleine Prinz zum zweiten Mal auf die Erde kam, um nach über 80 Jahren seinen Pilotenfreund zu finden, stand sein Buch in jedem Schaufenster. Zwischen Keksen und Klimbim. Das Buch. Die Geschichte des kleinen Prinzen. Der Prinz wunderte sich. Menschen lasen seine Geschichten, erzählten vom Laternenanzünder, dem Säufer oder dem Geografen. Nun, Geschichten waren eine Nahrung, die nur den eigenen Atem kostete. Im ganzen All waren sie von Anfang an eine Aufmerksamkeit ohne Gegenleistung, waren Teil des Lebens, waren das Leben selbst und keine von ihnen würde jemals beendet sein, solange sie erzählt wurde. Der kleine Prinz lief mit dem Buch in der Hand unter den Lichtern der Stadt auf der Suche nach seinem Freund. Er sah Schatten unter seinen Füßen auf- und abtauchen und niemand beachtete ihn. Anders als in der Wüste lebten hier unzählige Menschen auf engem Raum. Eine Rose wusste mehr von ihren Nachbarn und grüßte höflicher, dachte der kleine Prinz. Doch die gab es ja nicht mehr. Das Schaf hatte die Rose gefressen, als der Riemen seines Maulkorbes sich gelöst hatte. Deshalb musste er ja den Piloten wiederfinden. Der Junge aus dem All irrte weiter durch die Stadt. Immer wieder begegnete er einer Krähe, die vor allem auf ihr Futter bedacht schien. Und immer weiter suchte er nach dem Freund, der ihm doch eine neue Rose zeichnen sollte. Am Ende seines Weges war er fast ganz verschwunden, als er im letzten Augenblick ein Plakat vor sich sah: ›Der kleine Prinz und die Krähe‹ war da zu lesen. Mitten in der Stadt hing das Plakat, an einem Haus, das sich Theater nannte. Die Kassiererin lobte den blonden Jungen für seine Verkleidung, lächelte und setzte ihn in die erste Reihe. Der kleine Prinz sah ein Stück über sich selbst und hatte nicht eine Sekunde das Gefühl, etwas Bekanntes zu erleben. Inmitten eines neugierigen Publikums, das miteinander lachte, sich fürchtete, ungeduldig fieberte und sich flüsternd auf gewisse Dinge aufmerksam machte, begegnete er sich selbst, aber vor allem einer Krähe. Ziemlich frech und ewig hungrig wurde sie ihm zur Begleiterin. Wer nun wen gezähmt hatte, war nicht ganz eindeutig, doch der kleine Prinz spürte, dass sie auf ihn aufpasste.
Martin Baltscheit erzählt mit klarer Sprache und haucht seinen Figuren ein ganz eigenes Leben ein. Er verleiht ihnen Witz, ohne zugleich die philosophische Tiefe der Dialoge oder die existenziellen Sorgen zu schmälern. Vielleicht ist es diese von Exupéry geliehene, wunderbar ätherische Naivität, die dem kleinen Prinzen bei seiner Wiederkehr auf die Erde die unmöglichsten Begegnungen verschafft. Und vielleicht ist es seine unprätentiöse Weisheit, ganz sicher aber die Erkenntnis über die neu gewonnene Freundschaft zu einer höchst lebendigen Krähe, die ihn zum Schluss eine kräftige, lebensbejahende Entscheidung treffen lässt. Ganz nebenbei räumt Baltscheit dem kleinen Prinzen das Recht auf Autonomie ein. So entsteht eine Geschichte übers Erwachsenwerden und eine über unsere Zeit. Im dreißigsten Jubiläumsjahr der UN-Kinderrechtskonvention bringt das Junge Schauspiel dieses Loblied auf eine naive Weltsicht zur Uraufführung.
Der Text ist erschienen im Spielzeitheft 2019/20.
Besetzung
Kleiner PrinzJonathan Gyles
KräheNoëmi Krausz
Die Erzähler*innen, die Band, die coole Crew und außerdem Bäckerin, Müllmänner, Weihnachtsmann, Schaf, Christuskind, Küster, Polizistin und Psychologe, geschmückter Baum, Antoine, die Fischerin und Antoine de Saint-ExupérySelin Dörtkardeş, Natalie Hanslik, Eduard Lind
Regie
Bühne und KostümStefanie Stuhldreier
MusikSebastian Maier
DramaturgieKirstin Hess
TheaterpädagogikSaliha Shagasi
Dauer
1 Stunde, 30 Minuten — keine Pause