Macht
Der Politologe und Populismusexperte Jan-Werner Müller über Caligula und heutige starke Männer
Nach 1989 herrschte die Erwartung, früher oder später würde die liberale Demokratie sich weltweit durchsetzen. Damit ging auch ein politisches Vokabular verloren, das einmal dazu gedient hatte, nichtdemokratische Regime voneinander zu unterscheiden. Einstmals wusste man beispielsweise noch, warum Tyrannei nicht gleich Totalitarismus ist – und dass sich aus den Selbstinszenierungen von autoritären Figuren viel schließen lässt. Heute fehlen uns nicht nur oft die Worte, sondern vor allem Begriffe und historische Bilder, um neue – zum Teil aber auch ganz alte – Herrschaftstechniken zu verstehen. Daher das letztlich hilflose Gerede von einer globalen »Rückkehr starker Männer«.
Ist Camus’ Caligula ein »starker Mann«? Er entspricht nicht dem klassischen Bild des Tyrannen, der charakterlich schwach ist, weil er sich von seinen eigenen Begierden beherrschen lässt – und im Übrigen nie genug bekommen kann. Ganz im Gegenteil: Dieser Caligula klingt bisweilen geradezu wie einer der heroischen Dissidenten, die ein Václav Havel einst beschrieben hat. Er will in der Wahrheit leben, die Dinge so betrachten, wie sie wirklich sind: Die Menschen sind nicht glücklich, und sie sterben. Dieser scheinbar Allmächtige will sich nicht persönlich bereichern – wie es bei so vielen Kleptokraten heute der Fall ist. Er hat auch keine allumfassende Ideologie inklusive Erklärung des gesamten Geschichtslaufs, wie es für die totalitären Herrscher des 20. Jahrhunderts charakteristisch war.
Camus’ Caligula versteht sich als eine Art Pädagoge des Absurden. Er lebt ein grausames Experiment vor. Er meint zu demonstrieren, wie man frei sein und gleichzeitig ganz und gar konsequent, ja gar im Zeichen der Logik leben könne – und vor allem was es hieße, sich über die Götter mit ihren »blöden, unverständlichen Gesichtern« zu stellen. Er sieht nur noch seine »Idee«, wie Caesonia sagt, aber er versteht sich gerade nicht als Ideologe und bestreitet im Gespräch mit Scipio – dem Caligula-Versteher – ganz ausdrücklich, ein Tyrann zu sein. Der Logik unerbittlich folgen – das geht mit traditionellen Vorstellungen einer sicheren Existenz in einer in sich stimmigen Welt, wie es sich ein Charea wünscht, nicht zusammen. Caligulas nihilistisches Experiment soll die Heuchelei und die Kleinmütigkeit der nach Sicherheit strebenden Römer zeigen. Es geht in jeder Hinsicht katastrophal aus.
Die Sache beginnt mit nervösen Eliten. Die Patrizier, die Camus beschreibt, entsprechen geradezu dem Klischee eines »Establishments«, das de facto immer herrscht, egal welcher Kaiser nominell gerade an der Macht ist. Kaiser, so denken sie, gebe es immer genug, wenn einer mal ausfalle; sogar mit einem Verrückten könne man sich arrangieren. Helicon attestiert ihnen Korruption, gar »inneren Morast«. Unter Caligula leiden die Senatoren nicht nur daran, dass ein Kaiser sie systematisch demütigt (und offenbar dem Volk gleichzeitig Wohltaten offeriert – denn sonst würde letzteres die Patrizier bei ihrem Komplott ja unterstützen). Ihr Problem besteht gerade darin, dass hier ein Kaiser plötzlich »große Motive« hat; er stellt einen philosophischen Anspruch, der sich auf Werte wie Freiheit und Gleichheit gründet – oder doch eher auf eine allumfassende Umwertung dieser Werte? Am Ende, so scheint es, ist nur einer im Imperium frei. Aber Caligulas Freiheit hängt von der Unterdrückung aller anderen ab. Und, so der Verdacht, wer von anderen auf diese Weise abhängt, ist natürlich nicht frei. Und auch nicht frei von seiner Sehnsucht nach dem Mond und allerlei anderem, was in Chereas stimmiger, sicherer, scheinbar »gesunder« Welt, in der die Menschen unglücklich sind und sterben, schlicht unmöglich ist. Am Ende muss Caligula sagen: »Meine Freiheit ist nicht die richtige.«
Es ist schon so viel über Donald Trump geschrieben worden, dass es wohl nur eine Frage der Zeit war, bis jemand den Vergleich mit Caligula ziehen würde. Eines fällt in der Tat auf: Trump stellt bisweilen Grausamkeit ganz offen zur Schau. Er verhöhnte seine Gegner, als er behauptete, er könne jemanden auf der Fifth Avenue erschießen, und die Leute würden ihn immer noch wählen. Trump hat eine Art politisches Experiment gestartet, bei dem es zwar nicht um die Umwertung von Werten geht – aber um die Schaffung alternativer Fakten. Er hat ein Reality-TV-Starlet als Mitarbeiterin ins Weiße Haus geholt; diese behauptet, es sei »die ultimative Rache« an allen Kritikern, wenn man zum »mächtigsten Mann des Universums« gewählt werde. Alle würden sich nun vor ihm verneigen müssen. Und, an eine politische Gegnerin gewandt: »Sie wandeln nicht in ihrer eigenen Wahrheit.«
Enthüllen die »starken Männer« unserer Tage irgendeine Wahrheit? Illustrieren sie wie Camus’ Caligula auf perverse Weise eine philosophische Position, die, wie Cherea feststellt, zum Denken zwingt, weil von ihr aus die Dinge ins Äußerste getrieben werden und scheinbar »gesundes« Denken beispielsweise über den Staatsschatz als absurd entlarvt wird? Manche kommen allerdings der narzisstischen Selbstvergötterung nahe – und sind doch ganz von der Meinung anderer abhängig. Ein Trump wiederholte zwanghaft, dass mehr Bürger zu seiner Amtseinführung gekommen seien als zu jener Obamas; einem Erdoğan war es enorm wichtig, dass sein Präsidentenpalast nicht, wie in den Medien behauptet, tausend Räume habe, sondern 1.150.
Ein Tyrann, sagt Scipio, sei eine blinde Seele. Es wäre zu simpel, die heutigen starken Männer als blinde Seelen abzutun. Sie verwandeln nicht Philosophie in Leichen; sie erteilen keine Lehren in Sachen Freiheit und Logik. Sie versuchen nur, ihre eigenen Realitäten zu schaffen. Camus legt es seinem Caligula in den Mund: Die Dummen kann man abtun, allein die Rechtschaffenen und Mutigen, die glücklich sein wollen, könnten ihm gefährlich werden. Doch gerade die müssen sich auch immer wieder Rechenschaft über ihre eigene Rechtschaffenheit ablegen und fragen, wie stimmig ihre Vorstellung von der Welt eigentlich ist. — Erschienen im Spielzeitheft 2017/18
Jan-Werner Müller lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte in Princeton. 2016 erschien sein Buch »Was ist Populismus?«.
Ist Camus’ Caligula ein »starker Mann«? Er entspricht nicht dem klassischen Bild des Tyrannen, der charakterlich schwach ist, weil er sich von seinen eigenen Begierden beherrschen lässt – und im Übrigen nie genug bekommen kann. Ganz im Gegenteil: Dieser Caligula klingt bisweilen geradezu wie einer der heroischen Dissidenten, die ein Václav Havel einst beschrieben hat. Er will in der Wahrheit leben, die Dinge so betrachten, wie sie wirklich sind: Die Menschen sind nicht glücklich, und sie sterben. Dieser scheinbar Allmächtige will sich nicht persönlich bereichern – wie es bei so vielen Kleptokraten heute der Fall ist. Er hat auch keine allumfassende Ideologie inklusive Erklärung des gesamten Geschichtslaufs, wie es für die totalitären Herrscher des 20. Jahrhunderts charakteristisch war.
Camus’ Caligula versteht sich als eine Art Pädagoge des Absurden. Er lebt ein grausames Experiment vor. Er meint zu demonstrieren, wie man frei sein und gleichzeitig ganz und gar konsequent, ja gar im Zeichen der Logik leben könne – und vor allem was es hieße, sich über die Götter mit ihren »blöden, unverständlichen Gesichtern« zu stellen. Er sieht nur noch seine »Idee«, wie Caesonia sagt, aber er versteht sich gerade nicht als Ideologe und bestreitet im Gespräch mit Scipio – dem Caligula-Versteher – ganz ausdrücklich, ein Tyrann zu sein. Der Logik unerbittlich folgen – das geht mit traditionellen Vorstellungen einer sicheren Existenz in einer in sich stimmigen Welt, wie es sich ein Charea wünscht, nicht zusammen. Caligulas nihilistisches Experiment soll die Heuchelei und die Kleinmütigkeit der nach Sicherheit strebenden Römer zeigen. Es geht in jeder Hinsicht katastrophal aus.
Die Sache beginnt mit nervösen Eliten. Die Patrizier, die Camus beschreibt, entsprechen geradezu dem Klischee eines »Establishments«, das de facto immer herrscht, egal welcher Kaiser nominell gerade an der Macht ist. Kaiser, so denken sie, gebe es immer genug, wenn einer mal ausfalle; sogar mit einem Verrückten könne man sich arrangieren. Helicon attestiert ihnen Korruption, gar »inneren Morast«. Unter Caligula leiden die Senatoren nicht nur daran, dass ein Kaiser sie systematisch demütigt (und offenbar dem Volk gleichzeitig Wohltaten offeriert – denn sonst würde letzteres die Patrizier bei ihrem Komplott ja unterstützen). Ihr Problem besteht gerade darin, dass hier ein Kaiser plötzlich »große Motive« hat; er stellt einen philosophischen Anspruch, der sich auf Werte wie Freiheit und Gleichheit gründet – oder doch eher auf eine allumfassende Umwertung dieser Werte? Am Ende, so scheint es, ist nur einer im Imperium frei. Aber Caligulas Freiheit hängt von der Unterdrückung aller anderen ab. Und, so der Verdacht, wer von anderen auf diese Weise abhängt, ist natürlich nicht frei. Und auch nicht frei von seiner Sehnsucht nach dem Mond und allerlei anderem, was in Chereas stimmiger, sicherer, scheinbar »gesunder« Welt, in der die Menschen unglücklich sind und sterben, schlicht unmöglich ist. Am Ende muss Caligula sagen: »Meine Freiheit ist nicht die richtige.«
Es ist schon so viel über Donald Trump geschrieben worden, dass es wohl nur eine Frage der Zeit war, bis jemand den Vergleich mit Caligula ziehen würde. Eines fällt in der Tat auf: Trump stellt bisweilen Grausamkeit ganz offen zur Schau. Er verhöhnte seine Gegner, als er behauptete, er könne jemanden auf der Fifth Avenue erschießen, und die Leute würden ihn immer noch wählen. Trump hat eine Art politisches Experiment gestartet, bei dem es zwar nicht um die Umwertung von Werten geht – aber um die Schaffung alternativer Fakten. Er hat ein Reality-TV-Starlet als Mitarbeiterin ins Weiße Haus geholt; diese behauptet, es sei »die ultimative Rache« an allen Kritikern, wenn man zum »mächtigsten Mann des Universums« gewählt werde. Alle würden sich nun vor ihm verneigen müssen. Und, an eine politische Gegnerin gewandt: »Sie wandeln nicht in ihrer eigenen Wahrheit.«
Enthüllen die »starken Männer« unserer Tage irgendeine Wahrheit? Illustrieren sie wie Camus’ Caligula auf perverse Weise eine philosophische Position, die, wie Cherea feststellt, zum Denken zwingt, weil von ihr aus die Dinge ins Äußerste getrieben werden und scheinbar »gesundes« Denken beispielsweise über den Staatsschatz als absurd entlarvt wird? Manche kommen allerdings der narzisstischen Selbstvergötterung nahe – und sind doch ganz von der Meinung anderer abhängig. Ein Trump wiederholte zwanghaft, dass mehr Bürger zu seiner Amtseinführung gekommen seien als zu jener Obamas; einem Erdoğan war es enorm wichtig, dass sein Präsidentenpalast nicht, wie in den Medien behauptet, tausend Räume habe, sondern 1.150.
Ein Tyrann, sagt Scipio, sei eine blinde Seele. Es wäre zu simpel, die heutigen starken Männer als blinde Seelen abzutun. Sie verwandeln nicht Philosophie in Leichen; sie erteilen keine Lehren in Sachen Freiheit und Logik. Sie versuchen nur, ihre eigenen Realitäten zu schaffen. Camus legt es seinem Caligula in den Mund: Die Dummen kann man abtun, allein die Rechtschaffenen und Mutigen, die glücklich sein wollen, könnten ihm gefährlich werden. Doch gerade die müssen sich auch immer wieder Rechenschaft über ihre eigene Rechtschaffenheit ablegen und fragen, wie stimmig ihre Vorstellung von der Welt eigentlich ist. — Erschienen im Spielzeitheft 2017/18
Jan-Werner Müller lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte in Princeton. 2016 erschien sein Buch »Was ist Populismus?«.
Besetzung
CaligulaAndré Kaczmarczyk
CaesoniaYohanna Schwertfeger
HeliconBen Daniel Jöhnk
LepidusRainer Philippi
MuciusKonstantin Lindhorst
PatriciusMarkus Danzeisen
MusikerJovan Stojšin
RegieSebastian Baumgarten
BühneBarbara Steiner
KostümChristina Schmitt
MusikStefan Schneider
VideoHannah Dörr
DramaturgieJanine Ortiz
Dauer
2 Stunden — keine Pause
Wir danken dem Brockerhof in Düsseldorf-Angermund für das Fotoshooting zum Vorab-Foto!