radical chic
Rock the Kasbah — Notizen zu Pop und Dschihad von Lutz Hübner und Sarah
Take me down to the paradise city / where the grass is green and the girls are pretty (Guns N’ Roses)
- — Es gibt viele Erklärungsversuche, warum sich Jugendliche radikalisieren und in den Dschihad ziehen: schwache Väter, entwurzelte Familien, Diskriminierungserfahrungen, fehlende Chancen auf dem Arbeitsmarkt, der innere Konflikt durch sich ausschließende Wertesysteme und natürlich ein verzerrtes Islamverständnis. All diese Erklärungsansätze sind sicher richtig, aber sie liefern keine Hinweise darauf, was genau das Faszinosum des Islamismus ist. Die Debatte über die religiöse Dimension des Phänomens (überflüssig zu erwähnen, dass es sich um einen Missbrauch des Islam handelt) verdeckt, dass der Islamismus alle Merkmale einer Jugendbewegung aufweist. Religion ist nur der Botenstoff, der Kampf um die Befreiung der Umma nur ideologische Camouflage, wie es die Begeisterung linksradikaler Teenager der 1960er- und 1970er-Jahre für den weltweiten Sieg des Sozialismus war – Radical Chic mit dem Vorteil, dass die große Idee jegliches Handeln legitimiert. Der Markenkern des IS passt in einen Popsong: I want to be somebody. I wanna be loved. I wish I were a princess. Ich, ich, ich … Eine Mischung aus Narzissmus und der Sehnsucht, Teil von etwas Großem (und Heiligem) zu sein: Ein Selbstmordanschlag ist der ultimative narzisstische Akt.
- — Der Musikkritiker Nick Kent beschreibt in seinen Memoiren sein erstes Konzert der Rolling Stones Mitte der 1960er. Das Publikum, meist weibliche Teenager, hört sich die Vorgruppen, geschniegelte Beatcombos, die über Herzschmerz singen, gleichmütig an. Als die Stones die Bühne betreten, ändert sich die Stimmung komplett. Ein Mädchen fordert ihn auf, seinen Platz in der ersten Reihe für sie zu räumen, und geht mit gezücktem High Heel auf ihn los, als er sich weigert. Eine kollektive, sexuell aufgeladene Hysterie ergreift das Publikum, als der erste Song erklingt, es gibt keine Grenzen mehr … Und all das für eine Gruppe von jungen Männern, die nach dem damaligen Schönheitsbegriff hässlich und verwahrlost waren, arrogant und obszön. Aber sie sind ein Versprechen: die Erfüllung aller Wünsche, das Ende aller Tabus und Regeln, sexuelle Befriedigung und Rache an allem, was den eigenen Bedürfnissen bisher im Weg stand. Ende der Diskussion (mit den Eltern, den Lehrern, dem Chef …). An den Pforten des Paradieses stehen nicht überirdisch schöne und sanfte Engel, sondern hässliche, furchteinflößende, unfreundliche Gestalten, der kompromisslose Schrecken ist der Garant der Wunscherfüllung.
- — Wie die Kindheit im Gefolge der Rousseau’schen Empfindsamkeit erfunden wurde, so ist die Jugend eine Erfindung des frühen 20. Jahrhunderts. In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg beginnt die Jugend, eigene Codes zu entwickeln, eigene Moden, eigene Musikstile und Ideologien. Es ist immer ein Widerstand gegen die »Alten«, das Establishment, den grauen Alltag und die vorherbestimmten Lebensentwürfe (Beruf, Familie …). Jugend ist nicht mehr nur Vorbereitungsraum, sondern das große Jetzt, ohne Vergangenheit und Zukunft. Die große Liebe, Befreiung und die große Utopie. Jugendbewegung im wörtlichen Sinn: Es wird getanzt oder marschiert, man trifft sich, geht dahin, wo das Leben explodiert und wo alle anderen auch sind. Wichtig ist das große Wir. Wir sind anders. Wir stehen füreinander ein. Wir halten das aus, und wir werden siegen.
- — Dieses revolutionäre Potenzial ist leider nicht per se humanitär und emanzipatorisch. (Die Horte rechtsradikaler Ideen in der Weimarer Republik waren die Universitäten, nicht die Stammtische.) Und es ist vor allem nur in zweiter Linie politisch oder religiös. Deshalb genügt es nicht, mit einem Islamisten über den Koran zu sprechen. Der Reiz des Islamismus liegt in seiner Unterkomplexität und seinen Versprechen (für die Jungs: Gemeinschaft, Anerkennung, eine Knarre, die Lizenz zu töten, Geld und Sexsklavinnen – für die Mädchen: ein Mann, der ein Krieger ist, ein »Löwe«, geachtet werden als Frau, dazugehören …). Es genügt nicht, auf Grausamkeit und Größenwahn des IS hinzuweisen, denn das ist Teil der Anziehungskraft, es ist die Faszination der Tabuüberschreitung, anything goes, und sie wird befeuert durch das Entsetzen der Umwelt. Entkräftet werden kann die Attraktivität des IS nicht auf einer ausschließlich argumentativen Ebene, sondern durch eine Alternative, in der diese (letztlich sentimentale) Triebenergie in andere Bahnen gelenkt wird. Diese Alternative kann nur aus der Jugend selbst kommen und muss Pop und Terror wieder trennen. Erst wenn eine authentische arabische Jugendkultur entstanden ist (wie auch immer sie aussehen wird), wird sich die Faszination des Islamismus abschwächen. Wenn sich die Erkenntnis durchsetzt, dass der IS von ehemaligen irakischen Offizieren der Baath-Partei geführt wird (das alte Lied: Alte Männer verheizen junge Männer). Wenn es muslimischen Mädchen überall auf der Welt möglich ist, sich mit einem High Heel einen Platz in der ersten Reihe eines Rockkonzerts zu erkämpfen, wenn Sex keine Frage von Leben und Tod mehr ist, sondern von Spaß und Experimentierfreude. Wenn arabischer Gangsta-Rap Mainstream wird in der Umma und wenn der Wunsch, Teil eines großen Ganzen zu sein, sich auf Sommerfestivals ausleben lässt. Wenn der Himmel nur das bedeutet: dancing cheek to cheek. Wenn dann noch Euroislam, Lehrstellen, gesellschaftliche Akzeptanz und das Ende von Diskriminierung und patriarchalischen Strukturen dazukommen, wäre man dem Paradies einen Schritt näher. — erschienen im Spielzeitheft 2017/18 des Düsseldorfer Schauspielhauses
Die Stücke von Lutz Hübner und Sarah Nemitz wurden in über ein Dutzend Sprachen übersetzt. Hübner und Nemitz zählen zu den meistgespielten deutschsprachigen Dramatikern. Ihre Klassenzimmerkomödie »Frau Müller muss weg« wurde 2016 von Sönke Wortmann verfilmt und von über einer Million Kinobesuchern gesehen.
Besetzung
Hamid, 19 JahrePaul Jumin Hoffmann
Sonja, Hamids Freundin / Abu, PredigerSelin Dörtkardeş
Miray, Schwester von Bruder 1 / Zeynep, Hamids große SchwesterMarie Jensen
Bruder 1Eduard Lind
Bruder 2 / Krieger, IS-KämpferDenis Geyersbach
Bruder 3 / Vater von Hamid / Tayfun, Sozialarbeiter im JugendclubBernhard Schmidt-Hackenberg
DJMarco Schretter
RegieMina Salehpour
Bühne und KostümMaria Anderski
MusikSandro Tajouri
LichtEdgar Auell
DramaturgieKirstin Hess
Dauer
1 Stunde, 15 Minuten — keine Pause