Zeit
Bernhard Mikeska inszeniert Ingmar Bergmans »Nach der Probe«. Ein Porträt des Regisseurs — von Sascha Westphal
Die Stimme kommt aus dem Kopfhörer, der einem zu Beginn der Aufführung ausgehändigt wurde. Aber das gerät schnell in Vergessenheit. Sie ist einfach da, um einen herum, vielleicht sogar in einem drin. Ist es das, was Menschen widerfährt, die Stimmen hören? Auf jeden Fall drängt sich diese forsche, einen mit Fragen bombardierende Stimme mit all ihrer Macht in die eigenen Gedanken hinein. Wer spricht da, ist die eine Frage, die an einem nagt. Die andere: Wer bin ich in diesem Moment? Von Anfang an ist da also eine Unsicherheit, die noch weiter wächst, sobald man der Aufforderung der Stimme nachkommt und durch eine Tür in den im Erdgeschoss des Dreischeibenhauses stehenden Kubus eintritt. Ein Mann sitzt auf einer auf dem Boden liegenden Matratze und spricht einen an. Auch seine Stimme kommt aus dem Kopfhörer, und wieder stellt sich das Gefühl ein, bedrängt zu werden.
So beginnt in »Die dritte Haut :: Der Fall Simon«, Bernhard Mikeskas erster Arbeit am Düsseldorfer Schauspielhaus, ein verstörendes und doch verführerisches Pas de deux für einen Schauspieler und einen Zuschauer. Rainer Philippi umgarnt sein Gegenüber und stößt es vor den Kopf, um es dann doch wieder zu umschmeicheln. Das Fahrige und Zerrissene von Philippis Figur, diese ständigen Widersprüche hallen währenddessen laut in einem nach. Man verliert vielleicht nicht gleich den Boden unter den Füßen, aber doch die Orientierung, zumal einen Philippi die ganze Zeit über mustert und beobachtet. Je länger die Situation währt, desto mehr wird man sich seiner selbst bewusst und hinterfragt mit einem Mal jede Reaktion. Nichts ist noch selbstverständlich. Auch die kleinste Regung bekommt eine immense Bedeutung. Das Theater wird zum Mikroskop, unter dem man liegt und durch das man zugleich selbst blickt.
»Das Wichtigste im Theater ist der Zuschauer«, das betont Bernhard Mikeska in Gesprächen immer wieder. Aber eigentlich ist es offensichtlich. Wer einmal eine seiner Eins-zu-eins-Arbeiten erlebt hat, wird daran kaum zweifeln. Im Gespräch verrät der in München geborene Theatermacher, der erst einmal theoretische Physik in Heidelberg und Hamburg studiert hat, dass die Wurzeln dieser Produktionen in ebenjener Zeit liegen, als er selbst »Zuschauer im Theater war«: »Man möchte näher an den Protagonisten sein.« Während er das sagt, umspielt ein Lächeln seinen Mund. Natürlich geht es in diesen Arbeiten um weitaus mehr als nur die Sehnsucht eines Theatergängers, den Schauspielern einmal viel näher als sonst üblich zu kommen. Sie werfen grundsätzliche Fragen auf und verschieben den Blick auf das Theater und damit auch auf die Welt an sich.
Die großen, grundlegenden Fragen unseres Seins sind es, die Bernhard Mikeska beschäftigen: Wie ist die Welt aufgebaut? Wie funktioniert das Universum? Was ist Zeit? Und diese Fragen lassen sich in der theoretischen Physik ebenso wie im Theater formulieren. Insofern stand das eine für Mikeska, der während seiner Promotion als Regieassistent am Deutschen Schauspielhaus Hamburg unter der Intendanz von Frank Baumbauer und Chefdramaturg Wilfried Schulz angefangen hat, nie im Widerspruch zum anderen. Im Gegenteil, die Wissenschaft und die Kunst ergänzen sich perfekt. Zudem unterscheidet sich die Arbeit eines Regisseurs in Mikeskas Augen gar nicht so sehr von der eines theoretischen Physikers: »Als Physiker habe ich mich immer gefreut, wenn am Ende einer Berechnung eine ästhetisch schöne Formel stand. Als Theatermacher suche ich in meinen Arbeiten nach einer abgeschlossenen Form, die eine bestimmte Ästhetik schon in sich trägt.«
Von diesem enormen Formbewusstsein zeugen alle Arbeiten Mikeskas, die Eins-zu-eins-Installationen ebenso wie die Inszenierungen, die eher konventionelle Bühnen- und Raumanordnungen nutzen. Dabei greifen Form und Inhalt immer ineinander. Vor den Augen des Zuschauers entsteht eine Welt en miniature, die seinen Blick und sein Denken fokussiert. So war es schon bei Mikeskas erster Regiearbeit, einer Inszenierung von Romuald Karmakars und Michael Farins Kammerspiel »Der Totmacher«, die 1999 am Landestheater Tübingen entstanden ist. Damals hat er eine Situation geschaffen, in der sich Publikum und Darsteller extrem nahe kamen. Jede Bewegung der Schauspieler in dem engen Raum ermöglichte den Zuschauern, die entlang der Wände um sie herum saßen, eine neue Perspektive.
Darum geht es Bernhard Mikeska in all seinen Arbeiten: »Der ständige Wechsel von Perspektiven entspringt der Sehnsucht, alle Beteiligten zu ihrem Recht kommen zu lassen.« Das fordert dem Publikum eine besondere Aufmerksamkeit ab. Mikeskas Inszenierungen schärfen die Wahrnehmung, denn sie schaffen wie in »Die dritte Haut :: Der Fall Simon« immer wieder Situationen, in denen sich der Zuschauer seiner eigenen Position bewusst wird, in denen er nicht mehr nur die Schauspieler beobachtet. Dafür reicht wie seinerzeit in »Der Totmacher« ein Blick eines Darstellers, der für einen flüchtigen Moment aus der Rolle fällt und einen oder mehrere Zuschauer fixiert, oder wie in Mikeskas Frankfurter Inszenierung von Jennifer Haleys »Die Netzwelt« ein kurzer Lichtwechsel, der eine Scheibe in einen großen Spiegel verwandelt, in dem sich das Publikum plötzlich selbst sieht. So schließt sich auch der Kreis zur Physik. Das Postulat der Heisenberg’schen Unschärferelation, dass der Beobachter das Experiment verändert, gilt genauso im Theater. Der Zuschauer verändert die Aufführung … und das nicht nur in der Eins-zu-eins-Situation. Aber Bernhard Mikeskas Theater schärft nicht nur unsere Wahrnehmung. Es hinterfragt sie zugleich. Wer etwas wahrnimmt, nimmt es zugleich für wahr und vergisst darüber meist, dass sein Blick verändert, was er betrachtet. Das gilt für die Wirklichkeit und viel mehr noch für Erinnerungen. Um die kreist Ingmar Bergmans 1983 gedrehtes Kammerspiel »Nach der Probe«. Ein Theaterregisseur und eine junge Schauspielerin spielen mit der Idee einer kurzen, heftigen Liebesbeziehung. Doch dann taucht unvermittelt ihre schon vor zehn Jahren gestorbene Mutter, eine frühere Geliebte des Regisseurs, auf. Die Vergangenheit drängt sich in die Gegenwart. Eine Situation wie geschaffen für Bernhard Mikeska. Denn da sind sie wieder, die grundsätzlichen Fragen der Physik wie des Theaters: Was ist Zeit? Und wie nehmen wir sie wahr?
Sascha Westphal ist Theater- und Filmkritiker und schreibt u. a. für nachtkritik.de, für K.West, für die WAZ und für epd Film.
So beginnt in »Die dritte Haut :: Der Fall Simon«, Bernhard Mikeskas erster Arbeit am Düsseldorfer Schauspielhaus, ein verstörendes und doch verführerisches Pas de deux für einen Schauspieler und einen Zuschauer. Rainer Philippi umgarnt sein Gegenüber und stößt es vor den Kopf, um es dann doch wieder zu umschmeicheln. Das Fahrige und Zerrissene von Philippis Figur, diese ständigen Widersprüche hallen währenddessen laut in einem nach. Man verliert vielleicht nicht gleich den Boden unter den Füßen, aber doch die Orientierung, zumal einen Philippi die ganze Zeit über mustert und beobachtet. Je länger die Situation währt, desto mehr wird man sich seiner selbst bewusst und hinterfragt mit einem Mal jede Reaktion. Nichts ist noch selbstverständlich. Auch die kleinste Regung bekommt eine immense Bedeutung. Das Theater wird zum Mikroskop, unter dem man liegt und durch das man zugleich selbst blickt.
»Das Wichtigste im Theater ist der Zuschauer«, das betont Bernhard Mikeska in Gesprächen immer wieder. Aber eigentlich ist es offensichtlich. Wer einmal eine seiner Eins-zu-eins-Arbeiten erlebt hat, wird daran kaum zweifeln. Im Gespräch verrät der in München geborene Theatermacher, der erst einmal theoretische Physik in Heidelberg und Hamburg studiert hat, dass die Wurzeln dieser Produktionen in ebenjener Zeit liegen, als er selbst »Zuschauer im Theater war«: »Man möchte näher an den Protagonisten sein.« Während er das sagt, umspielt ein Lächeln seinen Mund. Natürlich geht es in diesen Arbeiten um weitaus mehr als nur die Sehnsucht eines Theatergängers, den Schauspielern einmal viel näher als sonst üblich zu kommen. Sie werfen grundsätzliche Fragen auf und verschieben den Blick auf das Theater und damit auch auf die Welt an sich.
Die großen, grundlegenden Fragen unseres Seins sind es, die Bernhard Mikeska beschäftigen: Wie ist die Welt aufgebaut? Wie funktioniert das Universum? Was ist Zeit? Und diese Fragen lassen sich in der theoretischen Physik ebenso wie im Theater formulieren. Insofern stand das eine für Mikeska, der während seiner Promotion als Regieassistent am Deutschen Schauspielhaus Hamburg unter der Intendanz von Frank Baumbauer und Chefdramaturg Wilfried Schulz angefangen hat, nie im Widerspruch zum anderen. Im Gegenteil, die Wissenschaft und die Kunst ergänzen sich perfekt. Zudem unterscheidet sich die Arbeit eines Regisseurs in Mikeskas Augen gar nicht so sehr von der eines theoretischen Physikers: »Als Physiker habe ich mich immer gefreut, wenn am Ende einer Berechnung eine ästhetisch schöne Formel stand. Als Theatermacher suche ich in meinen Arbeiten nach einer abgeschlossenen Form, die eine bestimmte Ästhetik schon in sich trägt.«
Von diesem enormen Formbewusstsein zeugen alle Arbeiten Mikeskas, die Eins-zu-eins-Installationen ebenso wie die Inszenierungen, die eher konventionelle Bühnen- und Raumanordnungen nutzen. Dabei greifen Form und Inhalt immer ineinander. Vor den Augen des Zuschauers entsteht eine Welt en miniature, die seinen Blick und sein Denken fokussiert. So war es schon bei Mikeskas erster Regiearbeit, einer Inszenierung von Romuald Karmakars und Michael Farins Kammerspiel »Der Totmacher«, die 1999 am Landestheater Tübingen entstanden ist. Damals hat er eine Situation geschaffen, in der sich Publikum und Darsteller extrem nahe kamen. Jede Bewegung der Schauspieler in dem engen Raum ermöglichte den Zuschauern, die entlang der Wände um sie herum saßen, eine neue Perspektive.
Darum geht es Bernhard Mikeska in all seinen Arbeiten: »Der ständige Wechsel von Perspektiven entspringt der Sehnsucht, alle Beteiligten zu ihrem Recht kommen zu lassen.« Das fordert dem Publikum eine besondere Aufmerksamkeit ab. Mikeskas Inszenierungen schärfen die Wahrnehmung, denn sie schaffen wie in »Die dritte Haut :: Der Fall Simon« immer wieder Situationen, in denen sich der Zuschauer seiner eigenen Position bewusst wird, in denen er nicht mehr nur die Schauspieler beobachtet. Dafür reicht wie seinerzeit in »Der Totmacher« ein Blick eines Darstellers, der für einen flüchtigen Moment aus der Rolle fällt und einen oder mehrere Zuschauer fixiert, oder wie in Mikeskas Frankfurter Inszenierung von Jennifer Haleys »Die Netzwelt« ein kurzer Lichtwechsel, der eine Scheibe in einen großen Spiegel verwandelt, in dem sich das Publikum plötzlich selbst sieht. So schließt sich auch der Kreis zur Physik. Das Postulat der Heisenberg’schen Unschärferelation, dass der Beobachter das Experiment verändert, gilt genauso im Theater. Der Zuschauer verändert die Aufführung … und das nicht nur in der Eins-zu-eins-Situation. Aber Bernhard Mikeskas Theater schärft nicht nur unsere Wahrnehmung. Es hinterfragt sie zugleich. Wer etwas wahrnimmt, nimmt es zugleich für wahr und vergisst darüber meist, dass sein Blick verändert, was er betrachtet. Das gilt für die Wirklichkeit und viel mehr noch für Erinnerungen. Um die kreist Ingmar Bergmans 1983 gedrehtes Kammerspiel »Nach der Probe«. Ein Theaterregisseur und eine junge Schauspielerin spielen mit der Idee einer kurzen, heftigen Liebesbeziehung. Doch dann taucht unvermittelt ihre schon vor zehn Jahren gestorbene Mutter, eine frühere Geliebte des Regisseurs, auf. Die Vergangenheit drängt sich in die Gegenwart. Eine Situation wie geschaffen für Bernhard Mikeska. Denn da sind sie wieder, die grundsätzlichen Fragen der Physik wie des Theaters: Was ist Zeit? Und wie nehmen wir sie wahr?
Sascha Westphal ist Theater- und Filmkritiker und schreibt u. a. für nachtkritik.de, für K.West, für die WAZ und für epd Film.
Besetzung
Dauer
1 Stunde, 30 Minuten — keine Pause