Tier und Tanz
Die Rebellion im Kopf — Tierische Gedankenartistik in Friedrich Hebbels »Maria Magdalena« — von Verena Meis
»Ich kann’s Keinem beweisen, daß Bier und Religion sich nicht mit einander vertragen, […] ich bin nicht stark genug, um die Mode mitzumachen, ich kann die Andacht nicht, wie einen Maikäfer, auf der Straße einfangen, bei mir kann das Gezwitscher der Spatzen und Schwalben die Stelle der Orgel nicht vertreten, wenn ich mein Herz erhoben fühlen soll, so muß ich erst die schweren eisernen Kirchthüren hinter mir zuschlagen hören, und mir einbilden, es seyen die Thore der Welt gewesen.« Meister Anton
Meister Anton täte gut daran, Bier und Religion einmal zusammenzudenken, das Hirngespinst zu wagen, die festgefahrenen Knoten im Hirn zu lösen und sich dem Undenkbaren hinzugeben: nämlich der Möglichkeit, die Andacht wie einen Maikäfer auf der Straße einzufangen, das Gezwitscher der Spatzen und Schwalben Orgel sein zu lassen und Bier und Religion, Wirtshaus und Andacht gedanklich zu verknüpfen. Denn was geht schon groß anderes über den Tresen als über den Altar: Bier statt Wein und Prosit statt Psalm …
In seinem bürgerlichen Trauerspiel »Maria Magdalena« von 1843 führt uns Friedrich Hebbel unverblümt die Auswirkungen bürgerlicher Borniertheit vor Augen. Das Tragische resultiert dort nicht etwa aus einem Clash der Klassen, sondern aus der Mittelschicht selbst. Genauer und in Hebbels Worten »aus ihrem zähen und in sich selbst gegründeten Beharren auf den überlieferten patriarchalischen Anschauungen und ihrer Unfähigkeit, sich in verwickelten Lagen zu helfen«.
Unentdeckt bleibt dem dramatischen Personal, dass ausgerechnet Flora und Fauna einen Ausweg aus der gedanklichen Sackgasse bieten könnten: Ein von Raupen befallener Birnbaum wirft Meister Anton eine saftige Birne vor die Füße und verhindert, dass er seinen Sohn Karl im Wirtshaus aufsucht, um ihm die versäumte Andacht vorzuhalten. Das Bild eines borstigen Igels zeichnet Meister Anton als brummigen Patriarchen, der seine Stacheln blind verteidigend nach außen richtet, damit sie ihm nicht selbst in Haut und Herz dringen. Ein tierisches Unglück durch Pferd, Katze oder Maus dient Meister Anton seiner Tochter Klara an, um im Fall der Fälle seinen Suizid zu verschleiern. Trotz ihrer Artenvielfalt gestalten sich die tierischen Sprachspiele des Tischlermeisters alles andere als artgerecht. Doch eher noch als »Schützt die Tiere!« müssten wir in Hebbels Fall ausrufen: »Schützt den Menschen vor seinen Moralvorstellungen! « Tierisch gesagt: In »Maria Magdalena« sterben alle wie die Fliegen, weil Gesetz und Glaube als unbewegliche Ordnungen begriffen werden. Leonhard, der künftige Schwiegersohn, der Klara entehrt, hintergeht und verlässt, bemerkt beiläufig, ein Baum hänge von Wind und Wetter ab, der Mensch aber habe Gesetze und Regeln in sich. Will heißen: Der Baum sei fremd-, der Mensch selbstbestimmt. In »Maria Magdalena« hat sich Leonhards anthropologische Konstante jedoch verselbstständigt: Nicht der Mensch, sondern die Moral agiert autonom. Sie hat Augen. Sie schwebt über allen Köpfen. Sie ist omnipräsent. Wieder ist es Leonhard, die berechnendste von Hebbels Figuren, der sich der moralischen Sehkraft bewusst ist und seiner künftigen Braut Klara gegenüber äußert: »Ich glaubte, du wärst nicht allein! Im Vorübergehen kam es mir vor, als ob Nachbars Bärbchen am Fenster stände!« Ob Nachbar, Institution oder Hirngespinst, alles erscheint moralisiert. Hätte Hebbel sein bürgerliches Trauerspiel nicht vor 175 Jahren, sondern heute verfasst, so fänden sich unter den Dramatis Personae Roboter als moralische Agenten.
Neben dem tierischen Imaginationsraum bringt insbesondere das weibliche Personal in »Maria Magdalena« eine weitere gedankliche Lockerungsübung ins Spiel, die auch zur moralischen Horizonterweiterung beitragen könnte. Aufgrund der sich ausbreitenden Schreibkompetenz insbesondere unter jungen Menschen ist Klaras Mutter unbehaglich zumute: »Die Welt wird immer klüger, vielleicht kommt noch einmal die Zeit, wo einer sich schämen muss, wenn er nicht auf dem Seil tanzen kann!« Ihre Tochter Klara berichtet indes von einem kleinen katholischen Mädchen, das seine Kirschen zum Altar trug und strenge Blicke vom Priester, milde aber von der abgebildeten Maria erntete, »als wünschte sie aus ihrem Rahmen herauszutreten «. Wenn aber Maria aus dem Rahmen träte, Klaras Mutter den Seiltanz wagte und der Birnbaum noch mehr fruchtige Denkanstöße austeilte, dann ginge wohlmöglich auch die Andacht über die Theke oder gleich in die Natur, und die Spatzen dürften Orgel sein. Dann sähe Klara vermutlich mehr Handlungsspielraum und nicht mehr nur den Brunnen als letzten Ausweg.
Ob Tier oder Tanz, in beidem steckt das Potenzial, unsere Moralvorstellungen ins ökologische Gleichgewicht zu bringen, Moral als fluides, nicht als zementiertes Konstrukt zu denken. Deshalb: Wagen wir die Rebellion im Kopf!
Verena Meis ist promovierte Literatur- und Theaterwissenschaftlerin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Vorsitzende der neu gegründeten Jungen Freunde des Düsseldorfer Schauspielhauses.
Der Text ist erschienen im Spielzeitheft 2018/19.
Meister Anton täte gut daran, Bier und Religion einmal zusammenzudenken, das Hirngespinst zu wagen, die festgefahrenen Knoten im Hirn zu lösen und sich dem Undenkbaren hinzugeben: nämlich der Möglichkeit, die Andacht wie einen Maikäfer auf der Straße einzufangen, das Gezwitscher der Spatzen und Schwalben Orgel sein zu lassen und Bier und Religion, Wirtshaus und Andacht gedanklich zu verknüpfen. Denn was geht schon groß anderes über den Tresen als über den Altar: Bier statt Wein und Prosit statt Psalm …
In seinem bürgerlichen Trauerspiel »Maria Magdalena« von 1843 führt uns Friedrich Hebbel unverblümt die Auswirkungen bürgerlicher Borniertheit vor Augen. Das Tragische resultiert dort nicht etwa aus einem Clash der Klassen, sondern aus der Mittelschicht selbst. Genauer und in Hebbels Worten »aus ihrem zähen und in sich selbst gegründeten Beharren auf den überlieferten patriarchalischen Anschauungen und ihrer Unfähigkeit, sich in verwickelten Lagen zu helfen«.
Unentdeckt bleibt dem dramatischen Personal, dass ausgerechnet Flora und Fauna einen Ausweg aus der gedanklichen Sackgasse bieten könnten: Ein von Raupen befallener Birnbaum wirft Meister Anton eine saftige Birne vor die Füße und verhindert, dass er seinen Sohn Karl im Wirtshaus aufsucht, um ihm die versäumte Andacht vorzuhalten. Das Bild eines borstigen Igels zeichnet Meister Anton als brummigen Patriarchen, der seine Stacheln blind verteidigend nach außen richtet, damit sie ihm nicht selbst in Haut und Herz dringen. Ein tierisches Unglück durch Pferd, Katze oder Maus dient Meister Anton seiner Tochter Klara an, um im Fall der Fälle seinen Suizid zu verschleiern. Trotz ihrer Artenvielfalt gestalten sich die tierischen Sprachspiele des Tischlermeisters alles andere als artgerecht. Doch eher noch als »Schützt die Tiere!« müssten wir in Hebbels Fall ausrufen: »Schützt den Menschen vor seinen Moralvorstellungen! « Tierisch gesagt: In »Maria Magdalena« sterben alle wie die Fliegen, weil Gesetz und Glaube als unbewegliche Ordnungen begriffen werden. Leonhard, der künftige Schwiegersohn, der Klara entehrt, hintergeht und verlässt, bemerkt beiläufig, ein Baum hänge von Wind und Wetter ab, der Mensch aber habe Gesetze und Regeln in sich. Will heißen: Der Baum sei fremd-, der Mensch selbstbestimmt. In »Maria Magdalena« hat sich Leonhards anthropologische Konstante jedoch verselbstständigt: Nicht der Mensch, sondern die Moral agiert autonom. Sie hat Augen. Sie schwebt über allen Köpfen. Sie ist omnipräsent. Wieder ist es Leonhard, die berechnendste von Hebbels Figuren, der sich der moralischen Sehkraft bewusst ist und seiner künftigen Braut Klara gegenüber äußert: »Ich glaubte, du wärst nicht allein! Im Vorübergehen kam es mir vor, als ob Nachbars Bärbchen am Fenster stände!« Ob Nachbar, Institution oder Hirngespinst, alles erscheint moralisiert. Hätte Hebbel sein bürgerliches Trauerspiel nicht vor 175 Jahren, sondern heute verfasst, so fänden sich unter den Dramatis Personae Roboter als moralische Agenten.
Neben dem tierischen Imaginationsraum bringt insbesondere das weibliche Personal in »Maria Magdalena« eine weitere gedankliche Lockerungsübung ins Spiel, die auch zur moralischen Horizonterweiterung beitragen könnte. Aufgrund der sich ausbreitenden Schreibkompetenz insbesondere unter jungen Menschen ist Klaras Mutter unbehaglich zumute: »Die Welt wird immer klüger, vielleicht kommt noch einmal die Zeit, wo einer sich schämen muss, wenn er nicht auf dem Seil tanzen kann!« Ihre Tochter Klara berichtet indes von einem kleinen katholischen Mädchen, das seine Kirschen zum Altar trug und strenge Blicke vom Priester, milde aber von der abgebildeten Maria erntete, »als wünschte sie aus ihrem Rahmen herauszutreten «. Wenn aber Maria aus dem Rahmen träte, Klaras Mutter den Seiltanz wagte und der Birnbaum noch mehr fruchtige Denkanstöße austeilte, dann ginge wohlmöglich auch die Andacht über die Theke oder gleich in die Natur, und die Spatzen dürften Orgel sein. Dann sähe Klara vermutlich mehr Handlungsspielraum und nicht mehr nur den Brunnen als letzten Ausweg.
Ob Tier oder Tanz, in beidem steckt das Potenzial, unsere Moralvorstellungen ins ökologische Gleichgewicht zu bringen, Moral als fluides, nicht als zementiertes Konstrukt zu denken. Deshalb: Wagen wir die Rebellion im Kopf!
Verena Meis ist promovierte Literatur- und Theaterwissenschaftlerin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Vorsitzende der neu gegründeten Jungen Freunde des Düsseldorfer Schauspielhauses.
Der Text ist erschienen im Spielzeitheft 2018/19.
Besetzung
Meister AntonJan Maak
Therese, seine FrauTanja Schleiff
Klara, seine TochterCennet Rüya Voß
Karl, sein SohnAlexej Lochmann
LeonhardChristof Seeger-Zurmühlen
FriedrichHenning Flüsloh
MusikerTobias Vethake
RegieKlaus Schumacher
BühneKatrin Plötzky
KostümKaren Simon
MusikTobias Vethake
DramaturgieFrederik Tidén
Dauer
1 Stunde, 45 Minuten — keine Pause