Tabu
Fifty Shades of Grauzonen — Die Kulturwissenschaftlerin Mithu Melanie Sanyal über die öffentliche Wahrnehmung von Vergewaltigung
Als kürzlich die Debatte um die Vergewaltigungsszene im Film »Der letzte Tango in Paris« entbrannte, schlug ich den Sanyal-Test vor. Analog zum Bechdel-Wallace-Test, der anhand von drei simplen Fragen überprüft, ob weibliche Figuren in Filmen stereotypisiert werden (1. Gibt es mindestens zwei weibliche Rollen?, 2. Sprechen sie miteinander?, und 3. Über etwas anderes als einen Mann?). Der Sanyal-Test stellt ebenfalls drei Fragen:
1. Gibt es im Film/Theaterstück/Buch eine Vergewaltigung (oder mehrere)?
2. Ist diese für die Handlung nicht unbedingt notwendig, sondern lediglich eine Chiffre dafür, dass eine Figur eine emotional aufgeladene (Back-)Story hat?
3. Gäbe es eine originellere Möglichkeit, den Plot voranzutreiben? Wenn die Antwort auf diese Fragen Ja lautet, sollte die Szene gestrichen und stattdessen kreativer nachgedacht werden.
»Konsens« von Nina Raine besteht den Sanyal-Test, und zwar mit Bravour. Hier wird mit sexuellen und anderen Grenzüberschreitungen außergewöhnlich differenziert umgegangen, und was noch außergewöhnlicher ist, das Stück liefert keine allein gültigen Antworten, sondern lässt in verschiedenen Spiegelungen unterschiedlichen Reaktionen und Gedanken Raum, und am Ende gehen wir mit mehr Fragen nach Hause, als wir gekommen sind. Wie der, was schlimmer war: Edwards Untreue oder die Vergewaltigung seiner Ehefrau. Da! Ich habe es aufgeschrieben. Das war einer der schwierigsten Sätze in meiner Karriere als Autorin, und sogar jetzt ist es noch hart, ihn nicht sofort wieder zu löschen. Doch ist genau das die Aufgabe von Theater: einen Raum zu eröffnen, in dem wir über Dinge nachdenken und sie emotional durchspielen können.
Nur zur Verständigung: Vergewaltigung ist ein Verbrechen. Das ist richtig so. Und genauso ist es richtig, dass sich das Gesetz nicht zu sehr in intime Beziehungen und Treue und Untreue einmischt. Daran gibt es juristisch nichts zu rütteln.
Doch haben sexualisierte Grenzüberschreitungen nicht nur eine rechtliche Dimension. Seit 2016 meine Kulturgeschichte »Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens« erschienen ist, bekomme ich Briefe und E-Mails von Menschen, die mir ihre Geschichten erzählen. Geschichten, die meine Freundinnen und Freunde nicht mit mir geteilt haben (obwohl rein statistisch natürlich auch sie …). Weil es eben nicht einfach ist, über sexualisierte Gewalt zu sprechen. Weil die Geschichten, die wir ständig auf allen Kanälen im Fernsehen, im Kino, im Theater sehen, nur einen Teil der Wirklichkeit abbilden und ganz häufig nicht mit den Erfahrungen und Verarbeitungen übereinstimmen, die noch immer in meinem Postfach eintrudeln.
Und weil es neben den vielen klaren Geschichten auch noch die unscharfen gibt. Oder, um mit dem Stück zu sprechen, weil auf jede Gayle, deren Geschichte eindeutig und eindeutig grausam ist, mindestens eine Kitty kommt, bei der das komplizierter ist. Und dabei haben wir noch gar nicht von den Erfahrungen von Trans-Menschen und Männern mit sexualisierter Gewalt gesprochen.
Doch genau in den Grauzonen kann Prävention am erfolgreichsten ansetzen. Ich erinnere mich noch, wie bei einer Lesung plötzlich alle Anwesenden die Luft anhielten, weil eine Frau gesagt hatte: »Und was ist, wenn Grenzen nicht klar sind?« Diese Frage war ein Affront gegen die Vorstellung, dass sexuelle Grenzen so klar markiert sind wie die Grenze zwischen den USA und Mexiko, sobald Donald Trump seine Mauer gebaut haben wird. Dass sexuelle Grenzüberschreiter aussehen wie Donald Trump und eindeutig abzulehnen sind wie … na ist ja klar wer. »Das sind alles Ausreden«, fuhr eine andere Frau die Fragerin an. »Täter wissen sehr genau, was sie tun.« Und das Verblüffende war, dass beide recht hatten.
»Ich wusste ja nicht, dass mein Gegenüber das nicht wollte«, ist eine der häufigsten Ausreden und zugleich erschreckend häufig wahr. In seinem Buch »Boys Don’t Cry« stellt Jack Urwin die These auf, dass viele Vergewaltiger nicht wissen, dass sie eine Vergewaltigung begangen haben. Er bezieht sich dabei auf Vergewaltigungen, bei denen sich einvernehmlicher Sex in … etwas anderes gewandelt hat. Und darüber müssen wir reden. Schließlich spielt sich der Großteil der Vergewaltigungen, die in Deutschland angezeigt werden, im Nahbereich ab, und ein Teil davon eben auch in jenen unscharfen Gefilden. Nicht weil sexuelle Grenzen zu kompliziert sind, um sich um sie scheren zu müssen. Sondern weil das bedeutet, dass Aufklärung dringend notwendig ist. Denn einmal ganz im Ernst: Wissen wir um alle Grenzen immer und überall? Die von anderen und die von uns selbst? Die Journalistin Nora Lessing brachte das bei einer gemeinsamen Lesung auf den Punkt: »Das Problem ist ja, dass niemand auf einen zukommt und sagt: Ich habe vor, deine sexuellen und emotionalen Grenzen zu überschreiten, guten Tag.«
Lernen, was Einverständnis oder auf Englisch »Consent« – so der Originaltitel des Stückes – bedeutet, ist eine der Herausforderungen und Aufgaben, vor denen wir als Gesellschaft stehen. Denn wenn wir über Einverständnis oder Konsens reden, meinen wir damit in der Regel, dass Mädchen/Frauen lernen, Nein zu sagen, und Jungen/Männer, das Nein zu akzeptieren. Doch ist das Sexismus und keine Basis für eine erfreuliche Sexualität. Lasst uns lernen, über Sex zu sprechen. Und über Gefühle, Ängste, Verletzlichkeiten. In diesem Sinne ist Kitty eine Vorreiterin, wenn sie Respekt vor emotionalen Grenzen zusammen mit Respekt vor sexuellen Grenzen denkt. Nicht weil wir neue Gesetze wollen, die unser Miteinander kontrollieren und patrouillieren, sondern weil Respekt nicht plötzlich eingeschaltet werden kann, wenn es um Sex geht. Respekt, Achtsamkeit, Empathie sind zutiefst menschliche Reflexe, und zugleich sind sie zutiefst soziale und sozialisierte Handlungen. Ein Mehr davon macht nicht nur unsere Sexualität, sondern auch unsere Gesellschaft wunderbarer. — Erschienen im Spielzeitheft 2017/18
Mithu Melanie Sanyal ist Kulturwissenschaftlerin, Journalistin und Autorin der Bücher »Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts« (2009) und »Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens« (2016).
1. Gibt es im Film/Theaterstück/Buch eine Vergewaltigung (oder mehrere)?
2. Ist diese für die Handlung nicht unbedingt notwendig, sondern lediglich eine Chiffre dafür, dass eine Figur eine emotional aufgeladene (Back-)Story hat?
3. Gäbe es eine originellere Möglichkeit, den Plot voranzutreiben? Wenn die Antwort auf diese Fragen Ja lautet, sollte die Szene gestrichen und stattdessen kreativer nachgedacht werden.
»Konsens« von Nina Raine besteht den Sanyal-Test, und zwar mit Bravour. Hier wird mit sexuellen und anderen Grenzüberschreitungen außergewöhnlich differenziert umgegangen, und was noch außergewöhnlicher ist, das Stück liefert keine allein gültigen Antworten, sondern lässt in verschiedenen Spiegelungen unterschiedlichen Reaktionen und Gedanken Raum, und am Ende gehen wir mit mehr Fragen nach Hause, als wir gekommen sind. Wie der, was schlimmer war: Edwards Untreue oder die Vergewaltigung seiner Ehefrau. Da! Ich habe es aufgeschrieben. Das war einer der schwierigsten Sätze in meiner Karriere als Autorin, und sogar jetzt ist es noch hart, ihn nicht sofort wieder zu löschen. Doch ist genau das die Aufgabe von Theater: einen Raum zu eröffnen, in dem wir über Dinge nachdenken und sie emotional durchspielen können.
Nur zur Verständigung: Vergewaltigung ist ein Verbrechen. Das ist richtig so. Und genauso ist es richtig, dass sich das Gesetz nicht zu sehr in intime Beziehungen und Treue und Untreue einmischt. Daran gibt es juristisch nichts zu rütteln.
Doch haben sexualisierte Grenzüberschreitungen nicht nur eine rechtliche Dimension. Seit 2016 meine Kulturgeschichte »Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens« erschienen ist, bekomme ich Briefe und E-Mails von Menschen, die mir ihre Geschichten erzählen. Geschichten, die meine Freundinnen und Freunde nicht mit mir geteilt haben (obwohl rein statistisch natürlich auch sie …). Weil es eben nicht einfach ist, über sexualisierte Gewalt zu sprechen. Weil die Geschichten, die wir ständig auf allen Kanälen im Fernsehen, im Kino, im Theater sehen, nur einen Teil der Wirklichkeit abbilden und ganz häufig nicht mit den Erfahrungen und Verarbeitungen übereinstimmen, die noch immer in meinem Postfach eintrudeln.
Und weil es neben den vielen klaren Geschichten auch noch die unscharfen gibt. Oder, um mit dem Stück zu sprechen, weil auf jede Gayle, deren Geschichte eindeutig und eindeutig grausam ist, mindestens eine Kitty kommt, bei der das komplizierter ist. Und dabei haben wir noch gar nicht von den Erfahrungen von Trans-Menschen und Männern mit sexualisierter Gewalt gesprochen.
Doch genau in den Grauzonen kann Prävention am erfolgreichsten ansetzen. Ich erinnere mich noch, wie bei einer Lesung plötzlich alle Anwesenden die Luft anhielten, weil eine Frau gesagt hatte: »Und was ist, wenn Grenzen nicht klar sind?« Diese Frage war ein Affront gegen die Vorstellung, dass sexuelle Grenzen so klar markiert sind wie die Grenze zwischen den USA und Mexiko, sobald Donald Trump seine Mauer gebaut haben wird. Dass sexuelle Grenzüberschreiter aussehen wie Donald Trump und eindeutig abzulehnen sind wie … na ist ja klar wer. »Das sind alles Ausreden«, fuhr eine andere Frau die Fragerin an. »Täter wissen sehr genau, was sie tun.« Und das Verblüffende war, dass beide recht hatten.
»Ich wusste ja nicht, dass mein Gegenüber das nicht wollte«, ist eine der häufigsten Ausreden und zugleich erschreckend häufig wahr. In seinem Buch »Boys Don’t Cry« stellt Jack Urwin die These auf, dass viele Vergewaltiger nicht wissen, dass sie eine Vergewaltigung begangen haben. Er bezieht sich dabei auf Vergewaltigungen, bei denen sich einvernehmlicher Sex in … etwas anderes gewandelt hat. Und darüber müssen wir reden. Schließlich spielt sich der Großteil der Vergewaltigungen, die in Deutschland angezeigt werden, im Nahbereich ab, und ein Teil davon eben auch in jenen unscharfen Gefilden. Nicht weil sexuelle Grenzen zu kompliziert sind, um sich um sie scheren zu müssen. Sondern weil das bedeutet, dass Aufklärung dringend notwendig ist. Denn einmal ganz im Ernst: Wissen wir um alle Grenzen immer und überall? Die von anderen und die von uns selbst? Die Journalistin Nora Lessing brachte das bei einer gemeinsamen Lesung auf den Punkt: »Das Problem ist ja, dass niemand auf einen zukommt und sagt: Ich habe vor, deine sexuellen und emotionalen Grenzen zu überschreiten, guten Tag.«
Lernen, was Einverständnis oder auf Englisch »Consent« – so der Originaltitel des Stückes – bedeutet, ist eine der Herausforderungen und Aufgaben, vor denen wir als Gesellschaft stehen. Denn wenn wir über Einverständnis oder Konsens reden, meinen wir damit in der Regel, dass Mädchen/Frauen lernen, Nein zu sagen, und Jungen/Männer, das Nein zu akzeptieren. Doch ist das Sexismus und keine Basis für eine erfreuliche Sexualität. Lasst uns lernen, über Sex zu sprechen. Und über Gefühle, Ängste, Verletzlichkeiten. In diesem Sinne ist Kitty eine Vorreiterin, wenn sie Respekt vor emotionalen Grenzen zusammen mit Respekt vor sexuellen Grenzen denkt. Nicht weil wir neue Gesetze wollen, die unser Miteinander kontrollieren und patrouillieren, sondern weil Respekt nicht plötzlich eingeschaltet werden kann, wenn es um Sex geht. Respekt, Achtsamkeit, Empathie sind zutiefst menschliche Reflexe, und zugleich sind sie zutiefst soziale und sozialisierte Handlungen. Ein Mehr davon macht nicht nur unsere Sexualität, sondern auch unsere Gesellschaft wunderbarer. — Erschienen im Spielzeitheft 2017/18
Mithu Melanie Sanyal ist Kulturwissenschaftlerin, Journalistin und Autorin der Bücher »Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts« (2009) und »Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens« (2016).
Besetzung
JakeThiemo Schwarz
KittySonja Beißwenger
EdwardTorben Kessler
RachelCathleen Baumann
MattMoritz Führmann
Gayle / LauraKarin Pfammatter
ZaraTabea Bettin
Dauer
2 Stunde, 30 Minuten — eine Pause