Sprung
Ein Buch, das kein Generationen-, Befreiungs- oder Entwicklungsroman ist — Dirk Knipphals über Fatma Aydemirs Debütroman »Ellbogen«
Ellbogen — nach dem Roman von Fatma Aydemir
Ellbogen — nach dem Roman von Fatma Aydemir
Ende 2013 organisierten Fatma Aydemir und ich – wir sind ja Kollegen bei der taz – eine Sonderausgabe zum Thema Emanzipation. Von Frauenemanzipation sollte sie handeln, aber auch von Emanzipation von der Arbeit, kulturellen Zuschreibungen, Nationalstaatsideen, überkommenen Bildern vom Alter – also von all dem, was einen manchmal herunterzieht, wenn man sich nicht dann und wann wappnet und die Lage ordentlich durchreflektiert. Ein Artikel drehte sich um die Emanzipation von der eigenen Familie und dabei vor allem um die Rolle von Literatur. John Williams’ Roman »Stoner«, der gerade in aller Munde war, diente als Aufhänger; der Held lässt darin ganz US-klassisch seine armen, redlichen Eltern auf der Farm zurück. Fatma Aydemir las diesen Text und warf mir danach einen Blick zu, den ich nicht recht einordnen konnte. Darin lag so etwas wie: Alles schön und gut, aber auch reichlich weit weg und lange her, oder? Als ginge es bei der Emanzipation von der Herkunft um theoretische Probleme oder um Hörensagen! Als sei das nicht das Härteste, was man sich vorstellen kann! Dieser Blick begleitete meine Lektüre ihres Romans. Nichts an ihm ist weit weg. Und er zeigt, wie hart es sein kann, um seine eigene Stimme zu kämpfen. Die Loslösung der Heldin Hazal von ihrer Familie agiert er voll aus, als Spiel auf Leben und Tod, selbst wenn das Hazal, der Hauptfigur, gar nicht so klar ist.
»Ellbogen« ist ein Roman mit Migrationshintergrund, aber vielleicht sollte man den Aspekt nicht ganz in den Vordergrund schieben. »Ellbogen« ist nämlich auch das Drama eines Sprungs in die Freiheit, glaube ich, eines Sprungs mit langem Anlauf, schief angesetzt, mit hartem Aufschlag und vor allem mit einem höchst unsicheren Ausgang. Ausgeführt, und das ist schon mal das Interessante daran, wird er von einer Figur, der man gemeinhin als legitimierte Sprecherposition eher das Einklagen eines ordentlichen Ausbildungsplatzes zugesteht. Es ist aber eben nicht der Aspekt der Sozialreportage, es ist der Existenzialismus des Springens, mit dem Hazal einen mitnehmen kann.
Über zwei Punkte habe ich nach dem Lesen lange nachdenken müssen. Der erste betrifft den Berliner Technoclub Berghain. Nichts wird ausgegrenzt außer das Ausgrenzen selbst, lautet eine der Urlosungen der Technokultur. Wenn sich coole türkische und deutsche Jugendliche in Berlin treffen, dann läuft tatsächlich meistens Elektromusik, da sind alle jungen Leute gleich weit weg von ihren Elternhäusern. Trotzdem ist es natürlich ein riesiges Missverständnis, wenn Hazal und ihre beiden Freundinnen sich in die Schlange vorm Berghain stellen. Klar kommen sie da nicht rein. Das hat nichts mit Rassismus zu tun – das Berghain ist nicht rassistisch –, aber mit kulturellen Codes, die die Welt der Hipster und der authentischen Prolls radikal trennen.
Es hat mir sofort eingeleuchtet, dass in dem Roman die Katastrophe ihren Lauf eben nicht nach den üblichen narzisstischen Kränkungen am Arbeitsplatz nimmt und auch nicht nach den genauso üblichen Zänkereien zu Hause im Wohnzimmer, sondern nachdem Hazal und ihre beiden Freundinnen von den Türstehern von Berlins berühmtestem Club abgewiesen wurden. Remember Franz Kafka. Es wird immer Türen geben, die den Studenten aufgehen, Menschen wie Hazal aber verschlossen bleiben. Klar macht das wütend.
Der zweite Punkt betrifft Istanbul. Was für große, schöne Liebesgeschichten es mit dieser Stadt gegeben hat! Meine eigene begann, genau wie im Roman die von Hazal, mit einem Film, Fatih Akins »Gegen die Wand«. Als ich dann das erste Mal in Istanbul war, hatte ich noch ganz falsche, nämlich orientalische Bilder im Kopf. Aber die trieb mir diese Stadt schnell aus. Beim ersten Ausgehen rempelte mich eine Gruppe Transvestiten kichernd aus dem Weg. Ich fühlte mich wie ein Landei, das es ins heiße, tolle Zentrum der Subkulturen verschlagen hat, wie früher mal New York.
Beim zweiten Besuch glaubte ich dann schon, Istanbul sei sowieso die Lösung. Die Kunstkollegen schwärmten von der Stadt, die Musikkollegen auch, und ich habe selbst mal gedacht: Warum nicht hier ein Buch schreiben? (So wie Fatma Aydemir es dann getan hat.) Manche Stadtteile Istanbuls waren einem ein paar Jahre lang näher als der Wedding. Alle trauten Istanbul die Kraft zu, unterschiedliche kulturelle Einflüsse aufzunehmen und zu etwas Tollem, Attraktivem, Neuem zu mixen (wieder: wie früher New York). Doch auch das waren Projektionen und falsche Bilder. Der Gezi-Park steht inzwischen nicht für Befreiung und Bürgerbewegung, sondern für Erdoğans Sieg.
Von der Verheißung Istanbuls ist nichts mehr übrig, in der Wirklichkeit nicht, im Buch auch nicht. »Ellbogen« ist kein Generationen-, Befreiungs- oder Entwicklungsroman. Diese Hazal repräsentiert nichts, keine deutsch-türkische Community, kein Weddinger Milieu, keinen Widerstand in Istanbul, lange Zeit noch nicht einmal sich selbst. Aber sie ist auf dem Sprung. Und das ist erst einmal alles, was wirklich zählt. Man fiebert mit ihr mit, bis zum Schluss – und heimlich auch darüber hinaus. Emanzipation geht oft Umwege. Die Hoffnung ist, dass, wenn es in der Literatur auf Leben und Tod geht, im wirklichen Leben die Fehler, die man dabei macht, als Erfahrungen verarbeitet werden können. — erschienen im Spielzeitheft 2017/18 des Düsseldorfer Schauspielhauses
Dirk Knipphals, geb. 1963 in Kiel, ist Literaturredakteur der taz. 2014 erschien sein Buch »Die Kunst der Bruchlandung. Warum Lebenskrisen unverzichtbar sind«.
»Ellbogen« ist ein Roman mit Migrationshintergrund, aber vielleicht sollte man den Aspekt nicht ganz in den Vordergrund schieben. »Ellbogen« ist nämlich auch das Drama eines Sprungs in die Freiheit, glaube ich, eines Sprungs mit langem Anlauf, schief angesetzt, mit hartem Aufschlag und vor allem mit einem höchst unsicheren Ausgang. Ausgeführt, und das ist schon mal das Interessante daran, wird er von einer Figur, der man gemeinhin als legitimierte Sprecherposition eher das Einklagen eines ordentlichen Ausbildungsplatzes zugesteht. Es ist aber eben nicht der Aspekt der Sozialreportage, es ist der Existenzialismus des Springens, mit dem Hazal einen mitnehmen kann.
Über zwei Punkte habe ich nach dem Lesen lange nachdenken müssen. Der erste betrifft den Berliner Technoclub Berghain. Nichts wird ausgegrenzt außer das Ausgrenzen selbst, lautet eine der Urlosungen der Technokultur. Wenn sich coole türkische und deutsche Jugendliche in Berlin treffen, dann läuft tatsächlich meistens Elektromusik, da sind alle jungen Leute gleich weit weg von ihren Elternhäusern. Trotzdem ist es natürlich ein riesiges Missverständnis, wenn Hazal und ihre beiden Freundinnen sich in die Schlange vorm Berghain stellen. Klar kommen sie da nicht rein. Das hat nichts mit Rassismus zu tun – das Berghain ist nicht rassistisch –, aber mit kulturellen Codes, die die Welt der Hipster und der authentischen Prolls radikal trennen.
Es hat mir sofort eingeleuchtet, dass in dem Roman die Katastrophe ihren Lauf eben nicht nach den üblichen narzisstischen Kränkungen am Arbeitsplatz nimmt und auch nicht nach den genauso üblichen Zänkereien zu Hause im Wohnzimmer, sondern nachdem Hazal und ihre beiden Freundinnen von den Türstehern von Berlins berühmtestem Club abgewiesen wurden. Remember Franz Kafka. Es wird immer Türen geben, die den Studenten aufgehen, Menschen wie Hazal aber verschlossen bleiben. Klar macht das wütend.
Der zweite Punkt betrifft Istanbul. Was für große, schöne Liebesgeschichten es mit dieser Stadt gegeben hat! Meine eigene begann, genau wie im Roman die von Hazal, mit einem Film, Fatih Akins »Gegen die Wand«. Als ich dann das erste Mal in Istanbul war, hatte ich noch ganz falsche, nämlich orientalische Bilder im Kopf. Aber die trieb mir diese Stadt schnell aus. Beim ersten Ausgehen rempelte mich eine Gruppe Transvestiten kichernd aus dem Weg. Ich fühlte mich wie ein Landei, das es ins heiße, tolle Zentrum der Subkulturen verschlagen hat, wie früher mal New York.
Beim zweiten Besuch glaubte ich dann schon, Istanbul sei sowieso die Lösung. Die Kunstkollegen schwärmten von der Stadt, die Musikkollegen auch, und ich habe selbst mal gedacht: Warum nicht hier ein Buch schreiben? (So wie Fatma Aydemir es dann getan hat.) Manche Stadtteile Istanbuls waren einem ein paar Jahre lang näher als der Wedding. Alle trauten Istanbul die Kraft zu, unterschiedliche kulturelle Einflüsse aufzunehmen und zu etwas Tollem, Attraktivem, Neuem zu mixen (wieder: wie früher New York). Doch auch das waren Projektionen und falsche Bilder. Der Gezi-Park steht inzwischen nicht für Befreiung und Bürgerbewegung, sondern für Erdoğans Sieg.
Von der Verheißung Istanbuls ist nichts mehr übrig, in der Wirklichkeit nicht, im Buch auch nicht. »Ellbogen« ist kein Generationen-, Befreiungs- oder Entwicklungsroman. Diese Hazal repräsentiert nichts, keine deutsch-türkische Community, kein Weddinger Milieu, keinen Widerstand in Istanbul, lange Zeit noch nicht einmal sich selbst. Aber sie ist auf dem Sprung. Und das ist erst einmal alles, was wirklich zählt. Man fiebert mit ihr mit, bis zum Schluss – und heimlich auch darüber hinaus. Emanzipation geht oft Umwege. Die Hoffnung ist, dass, wenn es in der Literatur auf Leben und Tod geht, im wirklichen Leben die Fehler, die man dabei macht, als Erfahrungen verarbeitet werden können. — erschienen im Spielzeitheft 2017/18 des Düsseldorfer Schauspielhauses
Dirk Knipphals, geb. 1963 in Kiel, ist Literaturredakteur der taz. 2014 erschien sein Buch »Die Kunst der Bruchlandung. Warum Lebenskrisen unverzichtbar sind«.
Besetzung
HazalCennet Rüya Voß
Elma / HazaliaLou Strenger
Gül / HazaliaLieke Hoppe
Ebru / Semra / HazaliaTabea Bettin
RegieJan Gehler
BühneSabrina Rox
KostümClaudia Irro
KompositionVredeber Albrecht
DramaturgieFrederik Tidén
Dauer
2 Stunden — keine Pause