Hafen
Auch wenn Arthur Millers Stück »Ein Blick von der Brücke« tragisch endet, erkennt die Autorin Fatma Aydemir darin Konzepte für ein besseres Zusammenleben
Solidarität ist für mich so etwas wie das heimliche Schlagwort der vergangenen drei Jahre gewesen. Der Zusammenhalt zwischen Alteingesessenen und Neuankommenden wurde im deutschen Mainstream-Diskurs zwar mit dem weniger kämpferischen Begriff »Willkommenskultur« umschrieben – und das auch nur für einen kurzen Sommer –, aber immerhin.
Zu diesen Alteingesessenen zähle ich hier übrigens auch Familien wie meine, die erst seit zwei bis drei Generationen in Deutschland leben und die sich, je nach Umstand, mal als Teil dieser Gesellschaft begreifen und mal nicht. Ersteres war der Fall im Sommer 2015, als Hunderttausende Geflüchtete Schutz in Europa suchten, weil sie ihre Heimat aufgrund von Krieg, Zerstörung, Vertreibung und Massakern verloren hatten. Wir waren alle mitverantwortlich für eine sichere Ankunft und eine schnelle Aufnahme dieser Menschen, gerade auch wir Deutschen mit Migrationshintergrund. Denn wir wissen allzu gut um die Konflikte, die in diesem Land immer wieder von Neuem aufflammen: Wann immer sich eine Krise bemerkbar macht, werden deren Ursachen sehr schnell und sehr pauschal auf all die fremd wirkenden Gesichter projiziert.
Mit der sogenannten »Willkommenskultur« war es relativ bald vorbei, nämlich in der Silvesternacht von 2015 auf 2016. Nach der alljährlichen Party auf der Kölner Domplatte gingen mehr als tausend Strafanzeigen wegen sexueller Belästigung, Diebstahl, versuchter Vergewaltigung und Vergewaltigung ein – vornehmlich gegen nordafrikanische geflüchtete Männer. Auch wenn es heute, gut zwei Jahre später, nur in einem winzigen Bruchteil der Fälle zu Verurteilungen gekommen ist: Silvester 2015/16 wurde zu einem deutschen Trauma.
Statt einer Aufarbeitung aber erfolgt eine Ausbeutung dieses Traumas. Und zwar durch Rechtspopulist*innen, die sich immer vehementer auf Köln beziehen, um jede Kinderkanal-Doku über interkulturelle Beziehungen als Verharmlosung sexueller Gewalt zu denunzieren. Um jeden muslimischen Mann pauschal als potenziellen Vergewaltiger darzustellen. Ein Bild, von dem sich gerade alteingesessene, privilegiertere Muslime distanzieren mussten und jederzeit distanzieren würden. Jedem Geflüchteten wird seither mit ebendieser Skepsis begegnet, ganz egal, ob er auch nur einmal in seinem Leben in der Nähe der Kölner Domplatte gewesen ist oder nicht. Es scheint vorbei mit der groß angelegten Solidaritätskampagne. Nun geht es darum, die eigenen Frauen und Töchter zu beschützen.
Oder die Nichte, wie in Arthur Millers »Ein Blick von der Brücke«. Vor dem Hintergrund dieser Ereignisse nämlich liest sich Millers Stück von 1956 erschreckend aktuell. Auch hier geht die Solidarität von Alteingessenen mit Neuankommenden in die Brüche, als sich ein Kampf um die Herrschaft über einen jungen Frauenkörper entzündet. Eddie Carbone, ein italoamerikanischer Hafenarbeiter in Brooklyn, nimmt zwei illegale Einwanderer aus der sizilianischen Heimat bei sich auf. Der Ältere, Marco, will ein paar Jahre arbeiten und Geld ansparen, um seine Familie im verarmten Nachkriegsitalien zu ernähren. Der Jüngere, Rodolpho, beginnt derweil immer mehr Zeit mit Eddies Nichte Catherine zu verbringen.
Als Gastgeber Eddie bemerkt, wie sich zwischen seiner geliebten Nichte und Rodolpho eine Liebesbeziehung anbahnt, beschließt er, seine beiden Gäste bei der Einwanderungsbehörde zu verpfeifen. Und auch wenn Eddie behauptet, er fürchte den Betrug seiner Nichte, die wegen einer Aufenthaltserlaubnis bezirzt würde, so sind Eddies inzestuöse Neigungen zu Catherine mehr als offensichtlich. Weshalb ihn Catherines Interesse an Rodolpho hauptsächlich verletzt. So schlägt Eddie denn zuerst auch einen anderen Weg ein. Noch bevor er die beiden Neuankömm linge verrät, noch bevor diese aufgegriffen und auf Kaution kurzzeitig freigelassen werden, noch bevor Marco Eddie mit einem Messer ersticht und Rodolpho und Catherine sowieso heiraten werden, behauptet Eddie über Rodolpho immer wieder: »Der Junge ist nicht ganz richtig.«
Gemeint ist damit: Rodolpho sei schwul. Der schöne blonde Italiener trägt nämlich sein Haar lang und singt Arien. Eddie lässt sich nicht nur von seinem Anwalt über rechtliche Möglichkeiten beraten (dieser muss ihn enttäuschen, es ist keine Straftat, »nicht ganz richtig« zu sein). In seiner Verzweiflung knutscht Eddie Rodolpho vor aller Welt ab, nur um dessen Homosexualität zu beweisen. Niemand zeigt sich überzeugt, alle sind verstört (weshalb genau, das lässt Miller an dieser Stelle dankenswerterweise offen).
Es ist eine altbekannte simple Strategie, Nichtprivilegierte und Arme mit dem Vorwurf der sexuellen »Abartigkeit« zu denunzieren. Denn nichts scheint den Zusammenhalt der männlich dominierten Mehrheitsgesellschaft so sehr zu stärken wie der Schutz der als wehrlos, schwach und sexuell durchweg passiv verstandenen Frau vor den »perversen« Fremden. In dem von Miller konstruierten Fall geht diese Strategie nicht auf – sein Verrat kostet Eddie nämlich den Respekt all seiner Mitmenschen. Die Solidarität mit den verratenen Neuankommenden wirkt stärker. Der Blick auf sie bleibt differenziert. Vielleicht können wir uns etwas davon abschauen, um diese Art von Zusammenhalt auch in der Realität zu praktizieren. Es wäre jedenfalls eine schönere Realität.
Fatma Aydemir ist Redakteurin bei der taz und schreibt für zahlreiche Zeitschriften, u. a. Spex und Missy Magazine. 2017 erschien ihr Debütroman »Ellbogen «, der vergangene Spielzeit am Düsseldorfer Schauspielhaus auf die Bühne gebracht wurde.
Der Text ist erschienen im Spielzeitheft 2018/19.
Zu diesen Alteingesessenen zähle ich hier übrigens auch Familien wie meine, die erst seit zwei bis drei Generationen in Deutschland leben und die sich, je nach Umstand, mal als Teil dieser Gesellschaft begreifen und mal nicht. Ersteres war der Fall im Sommer 2015, als Hunderttausende Geflüchtete Schutz in Europa suchten, weil sie ihre Heimat aufgrund von Krieg, Zerstörung, Vertreibung und Massakern verloren hatten. Wir waren alle mitverantwortlich für eine sichere Ankunft und eine schnelle Aufnahme dieser Menschen, gerade auch wir Deutschen mit Migrationshintergrund. Denn wir wissen allzu gut um die Konflikte, die in diesem Land immer wieder von Neuem aufflammen: Wann immer sich eine Krise bemerkbar macht, werden deren Ursachen sehr schnell und sehr pauschal auf all die fremd wirkenden Gesichter projiziert.
Mit der sogenannten »Willkommenskultur« war es relativ bald vorbei, nämlich in der Silvesternacht von 2015 auf 2016. Nach der alljährlichen Party auf der Kölner Domplatte gingen mehr als tausend Strafanzeigen wegen sexueller Belästigung, Diebstahl, versuchter Vergewaltigung und Vergewaltigung ein – vornehmlich gegen nordafrikanische geflüchtete Männer. Auch wenn es heute, gut zwei Jahre später, nur in einem winzigen Bruchteil der Fälle zu Verurteilungen gekommen ist: Silvester 2015/16 wurde zu einem deutschen Trauma.
Statt einer Aufarbeitung aber erfolgt eine Ausbeutung dieses Traumas. Und zwar durch Rechtspopulist*innen, die sich immer vehementer auf Köln beziehen, um jede Kinderkanal-Doku über interkulturelle Beziehungen als Verharmlosung sexueller Gewalt zu denunzieren. Um jeden muslimischen Mann pauschal als potenziellen Vergewaltiger darzustellen. Ein Bild, von dem sich gerade alteingesessene, privilegiertere Muslime distanzieren mussten und jederzeit distanzieren würden. Jedem Geflüchteten wird seither mit ebendieser Skepsis begegnet, ganz egal, ob er auch nur einmal in seinem Leben in der Nähe der Kölner Domplatte gewesen ist oder nicht. Es scheint vorbei mit der groß angelegten Solidaritätskampagne. Nun geht es darum, die eigenen Frauen und Töchter zu beschützen.
Oder die Nichte, wie in Arthur Millers »Ein Blick von der Brücke«. Vor dem Hintergrund dieser Ereignisse nämlich liest sich Millers Stück von 1956 erschreckend aktuell. Auch hier geht die Solidarität von Alteingessenen mit Neuankommenden in die Brüche, als sich ein Kampf um die Herrschaft über einen jungen Frauenkörper entzündet. Eddie Carbone, ein italoamerikanischer Hafenarbeiter in Brooklyn, nimmt zwei illegale Einwanderer aus der sizilianischen Heimat bei sich auf. Der Ältere, Marco, will ein paar Jahre arbeiten und Geld ansparen, um seine Familie im verarmten Nachkriegsitalien zu ernähren. Der Jüngere, Rodolpho, beginnt derweil immer mehr Zeit mit Eddies Nichte Catherine zu verbringen.
Als Gastgeber Eddie bemerkt, wie sich zwischen seiner geliebten Nichte und Rodolpho eine Liebesbeziehung anbahnt, beschließt er, seine beiden Gäste bei der Einwanderungsbehörde zu verpfeifen. Und auch wenn Eddie behauptet, er fürchte den Betrug seiner Nichte, die wegen einer Aufenthaltserlaubnis bezirzt würde, so sind Eddies inzestuöse Neigungen zu Catherine mehr als offensichtlich. Weshalb ihn Catherines Interesse an Rodolpho hauptsächlich verletzt. So schlägt Eddie denn zuerst auch einen anderen Weg ein. Noch bevor er die beiden Neuankömm linge verrät, noch bevor diese aufgegriffen und auf Kaution kurzzeitig freigelassen werden, noch bevor Marco Eddie mit einem Messer ersticht und Rodolpho und Catherine sowieso heiraten werden, behauptet Eddie über Rodolpho immer wieder: »Der Junge ist nicht ganz richtig.«
Gemeint ist damit: Rodolpho sei schwul. Der schöne blonde Italiener trägt nämlich sein Haar lang und singt Arien. Eddie lässt sich nicht nur von seinem Anwalt über rechtliche Möglichkeiten beraten (dieser muss ihn enttäuschen, es ist keine Straftat, »nicht ganz richtig« zu sein). In seiner Verzweiflung knutscht Eddie Rodolpho vor aller Welt ab, nur um dessen Homosexualität zu beweisen. Niemand zeigt sich überzeugt, alle sind verstört (weshalb genau, das lässt Miller an dieser Stelle dankenswerterweise offen).
Es ist eine altbekannte simple Strategie, Nichtprivilegierte und Arme mit dem Vorwurf der sexuellen »Abartigkeit« zu denunzieren. Denn nichts scheint den Zusammenhalt der männlich dominierten Mehrheitsgesellschaft so sehr zu stärken wie der Schutz der als wehrlos, schwach und sexuell durchweg passiv verstandenen Frau vor den »perversen« Fremden. In dem von Miller konstruierten Fall geht diese Strategie nicht auf – sein Verrat kostet Eddie nämlich den Respekt all seiner Mitmenschen. Die Solidarität mit den verratenen Neuankommenden wirkt stärker. Der Blick auf sie bleibt differenziert. Vielleicht können wir uns etwas davon abschauen, um diese Art von Zusammenhalt auch in der Realität zu praktizieren. Es wäre jedenfalls eine schönere Realität.
Fatma Aydemir ist Redakteurin bei der taz und schreibt für zahlreiche Zeitschriften, u. a. Spex und Missy Magazine. 2017 erschien ihr Debütroman »Ellbogen «, der vergangene Spielzeit am Düsseldorfer Schauspielhaus auf die Bühne gebracht wurde.
Der Text ist erschienen im Spielzeitheft 2018/19.
Besetzung
AlfieriLea Ruckpaul
EddieWolfgang Michalek
CatherineLieke Hoppe
BeatriceCathleen Baumann
MarcoThiemo Schwarz
RodolphoSerkan Kaya
ChorführerinBelina Mohamed-Ali
ChorAshgar Aboosi, Nuri Fitturi, Maryam Vaghefi-Hosseini, Mortaza Husseini, Padideh Jalilian, Ali Delsouz Khaki, Anastasios Kortselidis, Erkan Kuervek, Rami Lazkani, Mohsen Lotfi, Omid Mirabzadeh, Kenan Mstou, Paolo Priester, Abdullah Teczan, Jamila Vidas, Chen Yan
RegieArmin Petras
BühneJulian Marbach
KostümCinzia Fossati
MusikJörg Kleemann
ChoreografieBerit Jentzsch
DramaturgieFrederik Tidén
Dauer
2 Stunden, 15 Minuten — keine Pause