66 Prozent
Der Politikwissenschaftler Ulrich von Alemann schätzt die Düsseldorfer Bürgergesellschaft und die rheinische Protestkultur
Düsseldorf ist eine Bürgerstadt. Kein Wunder als Heimstatt von Heinrich Heine, dem großen Spötter aller Mächtigen, Preußens oder der Päpste. Die Duodezfürsten der damaligen Zeit waren für ihn nur »eine Handvoll Junker, die nichts gelernt haben als ein bisschen Rosstäuscherei, Kartenspielertricks, Becherspiel oder sonstige plumpe Schelmenkünste, womit man höchstens nur Bauern auf Jahrmärkten übertölpeln kann – diese wähnen, damit ein ganzes Volk betören zu können, und zwar ein Volk, welches das Pulver erfunden hat und die Buchdruckerei und die ›Kritik der reinen Vernunft‹«.
Ja, die Düsseldorfer haben trotzdem auf ihrem Rathausplatz ein großes Herrscherbildnis als Reiterstatue aufgerichtet. Aber es ist zur Sicherheit vor den Bürgern mit einem eisernen Zaun eingefriedet. Auch weil der Rosenmontagszug das Denkmal einmal umrundet. Es wird nicht nach irgendeinem Herzog benannt, sondern es ist für die Düsseldorfer einfach »dä Jan Wellem«. Denn dieser beliebte und beleibte Herzog von Berg mischte sich auch gerne einmal inkognito unter das Volk, um zu erfahren, wie seine Bürger redeten und dachten. Und die stiefelknarrenden Preußen mochten die fröhlichen Rheinländer erst recht nicht. Als König Friedrich Wilhelm die spätere Kö einweihen wollte, wurde er mit Pferdeäpfeln beworfen. Der Kaiser Wilhelm II. hat sich revanchiert und später gemeint, nach Düsseldorf gehe er nicht mehr, denn die mögen Künstler mehr als Könige.
Und heute? Die großen Brauchtumsvereine von Düsseldorf sind so demokratisch, dass sie auch gerne mal ihre Präsidenten stürzen. Intrigen? I wo! Das gehört einfach zur rheinischen Protestkultur. Im Karneval sind sie stolz, am Rosenmontag die politisch schärfsten Wagen weltweit im Fernsehen zu präsentieren, dank des begnadeten Wagenbauers Jacques Tilly. Manche schätzen an der »Session« nicht so sehr den bürgerlichen Lackschuhkarneval der großen Sitzungen oder den straff organisierten Rosenmontagszug, sondern das anarchische Feiern der normalen Bürger in den Kneipen der Altstadt oder die spontanen Gruppen, die am Karnevalssonntag auf der Kö flanieren.
Ja, Düsseldorf war schon immer eine weltoffene Bürgerstadt des Handels und des Wandels. Die Düsseldorfer Messe spielt weltweit eine Spitzenrolle, die Mode täte das auch gerne, die Kö sowieso. Düsseldorf hat nach dem Zweiten Weltkrieg viele Tausend Flüchtlinge aufgenommen, hat sich bemüht, die »Gastarbeiter« zu integrieren, und sich den jüngsten Flüchtlingswellen aus dem Mittelmeerraum geöffnet. Das Engagement von Verwaltung, Wohlfahrtsverbänden und Ehrenamtlichen war beispiellos.
Die Bürgerstadt Düsseldorf hat sogar eine Bürgerbühne, auf der unter professioneller Leitung mit Bürgern erfolgreich Theater gemacht wird. Neuerdings hat Düsseldorf auch eine Bürgeruniversität, weil sich die Heinrich-Heine-Universität immer stärker bemüht, auf die Bürger der Stadt zuzugehen. Durch das Haus der Universität im Herzen der Stadt, am Schadowplatz, ist die Universität den Bürgern bis ins Zentrum auf den Pelz gerückt. Die Vorträge, Workshops, Konzerte und Weiterbildungen werden von den Bürgern gerne angenommen.
Die politische Beteiligung der Düsseldorfer ist häufig, wie bei der letzten Bundestagswahl, gegenüber dem Bundesdurchschnitt überproportional. Aber: Wählen ist nicht alles. Die Zivilgesellschaft ist in Düsseldorf überaus lebendig. Von den traditionellen Brauchtumsvereinigungen über die »BürgerStiftung« bis zu Umwelt-, Bürgerrechts- und Initiativgruppen. Von den Rockgruppen ganz zu schweigen. Schließlich kann Düsseldorf auf mindestens zwei Bands verweisen, die Weltruf haben, nämlich Kraftwerk, und, ja, auch Die Toten Hosen.
Nach einer jüngsten Umfrage leben beachtliche 89 Prozent gerne in Düsseldorf, 66 Prozent engagieren sich und beteiligen sich am gesellschaftlichen Leben – sagen sie in der Umfrage. Aber wo bleiben die im Alltag? In den Parteien, den Kirchen, den Gewerkschaften? Sicherlich nicht, denn diese verlieren alle seit Jahren Mitglieder, gerade die jungen. Beschweren über mangelnde kulturelle Angebote tut sich nur eine kleine radikale Minderheit von vier Prozent. Eine noch kleinere Minderheit von drei Prozent bedauert fehlende Möglichkeiten für politisches Engagement. Heißt das im Umkehrschluss, dass 97 Prozent mit den Möglichkeiten des politischen Engagements einverstanden sind? Das kann nicht sein und zeigt einmal mehr, wie verzerrt Umfragen die Realität widerspiegeln.
Also ist alles gut in der Bürgerstadt Düsseldorf? Mitnichten. Die Kommunalwahlbeteiligung von blamablen unter fünfzig Prozent könnte endlich wieder die Schwelle von sechzig überschreiten. Aber das wäre nur der Durchschnitt. In Kaiserswerth/Wittlaer/Angermund wurde diese Marge mit gut sechzig Prozent zwar übertroffen. Aber in Flingern-Süd und Oberbilk-Südost hing sie mit 32 Prozent bei knapp der Hälfte durch. Und auch die Zivilgesellschaft der Ehrenamtlichen ist im Norden breiter als im Süden der Stadt. Ein Graben tut sich auf, das darf nicht sein. Es gibt soziale Brennpunkte, auch im reichen Düsseldorf. Dort entfremdet sich die Bürgerschaft mehr und mehr von den gesellschaftlichen Bindungen.
Politik, Wirtschaft und gerade auch die Kultur sind gefordert, dies nicht zuzulassen. Der Bürgerbegriff ist eben doppeldeutig: Im Norden scheint eine bürgerliche Gesellschaft intakt. Im Süden fühlen sich viele Menschen abgehängt. Juristisch sind sie (fast) alle Staatsbürger, aber real nicht gleichberechtigte Partner. Von den Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit ganz zu schweigen. Die zählen noch weniger. Das muss sich ändern. — Erschienen im Spielzeitheft 2017/18
Ulrich von Alemann lehrte nach Stationen in Neuss, Duisburg und Hagen von 1998 bis 2012 als Professor für Politikwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und hat nicht aufgehört zu forschen, zu schreiben und zu beraten. Jüngst publizierte er den Bildband »Düsseldorf und die Heinrich-Heine-Universität« sowie das Sachbuch »NRW. Ein Land blickt nach vorn«.
Ja, die Düsseldorfer haben trotzdem auf ihrem Rathausplatz ein großes Herrscherbildnis als Reiterstatue aufgerichtet. Aber es ist zur Sicherheit vor den Bürgern mit einem eisernen Zaun eingefriedet. Auch weil der Rosenmontagszug das Denkmal einmal umrundet. Es wird nicht nach irgendeinem Herzog benannt, sondern es ist für die Düsseldorfer einfach »dä Jan Wellem«. Denn dieser beliebte und beleibte Herzog von Berg mischte sich auch gerne einmal inkognito unter das Volk, um zu erfahren, wie seine Bürger redeten und dachten. Und die stiefelknarrenden Preußen mochten die fröhlichen Rheinländer erst recht nicht. Als König Friedrich Wilhelm die spätere Kö einweihen wollte, wurde er mit Pferdeäpfeln beworfen. Der Kaiser Wilhelm II. hat sich revanchiert und später gemeint, nach Düsseldorf gehe er nicht mehr, denn die mögen Künstler mehr als Könige.
Und heute? Die großen Brauchtumsvereine von Düsseldorf sind so demokratisch, dass sie auch gerne mal ihre Präsidenten stürzen. Intrigen? I wo! Das gehört einfach zur rheinischen Protestkultur. Im Karneval sind sie stolz, am Rosenmontag die politisch schärfsten Wagen weltweit im Fernsehen zu präsentieren, dank des begnadeten Wagenbauers Jacques Tilly. Manche schätzen an der »Session« nicht so sehr den bürgerlichen Lackschuhkarneval der großen Sitzungen oder den straff organisierten Rosenmontagszug, sondern das anarchische Feiern der normalen Bürger in den Kneipen der Altstadt oder die spontanen Gruppen, die am Karnevalssonntag auf der Kö flanieren.
Ja, Düsseldorf war schon immer eine weltoffene Bürgerstadt des Handels und des Wandels. Die Düsseldorfer Messe spielt weltweit eine Spitzenrolle, die Mode täte das auch gerne, die Kö sowieso. Düsseldorf hat nach dem Zweiten Weltkrieg viele Tausend Flüchtlinge aufgenommen, hat sich bemüht, die »Gastarbeiter« zu integrieren, und sich den jüngsten Flüchtlingswellen aus dem Mittelmeerraum geöffnet. Das Engagement von Verwaltung, Wohlfahrtsverbänden und Ehrenamtlichen war beispiellos.
Die Bürgerstadt Düsseldorf hat sogar eine Bürgerbühne, auf der unter professioneller Leitung mit Bürgern erfolgreich Theater gemacht wird. Neuerdings hat Düsseldorf auch eine Bürgeruniversität, weil sich die Heinrich-Heine-Universität immer stärker bemüht, auf die Bürger der Stadt zuzugehen. Durch das Haus der Universität im Herzen der Stadt, am Schadowplatz, ist die Universität den Bürgern bis ins Zentrum auf den Pelz gerückt. Die Vorträge, Workshops, Konzerte und Weiterbildungen werden von den Bürgern gerne angenommen.
Die politische Beteiligung der Düsseldorfer ist häufig, wie bei der letzten Bundestagswahl, gegenüber dem Bundesdurchschnitt überproportional. Aber: Wählen ist nicht alles. Die Zivilgesellschaft ist in Düsseldorf überaus lebendig. Von den traditionellen Brauchtumsvereinigungen über die »BürgerStiftung« bis zu Umwelt-, Bürgerrechts- und Initiativgruppen. Von den Rockgruppen ganz zu schweigen. Schließlich kann Düsseldorf auf mindestens zwei Bands verweisen, die Weltruf haben, nämlich Kraftwerk, und, ja, auch Die Toten Hosen.
Nach einer jüngsten Umfrage leben beachtliche 89 Prozent gerne in Düsseldorf, 66 Prozent engagieren sich und beteiligen sich am gesellschaftlichen Leben – sagen sie in der Umfrage. Aber wo bleiben die im Alltag? In den Parteien, den Kirchen, den Gewerkschaften? Sicherlich nicht, denn diese verlieren alle seit Jahren Mitglieder, gerade die jungen. Beschweren über mangelnde kulturelle Angebote tut sich nur eine kleine radikale Minderheit von vier Prozent. Eine noch kleinere Minderheit von drei Prozent bedauert fehlende Möglichkeiten für politisches Engagement. Heißt das im Umkehrschluss, dass 97 Prozent mit den Möglichkeiten des politischen Engagements einverstanden sind? Das kann nicht sein und zeigt einmal mehr, wie verzerrt Umfragen die Realität widerspiegeln.
Also ist alles gut in der Bürgerstadt Düsseldorf? Mitnichten. Die Kommunalwahlbeteiligung von blamablen unter fünfzig Prozent könnte endlich wieder die Schwelle von sechzig überschreiten. Aber das wäre nur der Durchschnitt. In Kaiserswerth/Wittlaer/Angermund wurde diese Marge mit gut sechzig Prozent zwar übertroffen. Aber in Flingern-Süd und Oberbilk-Südost hing sie mit 32 Prozent bei knapp der Hälfte durch. Und auch die Zivilgesellschaft der Ehrenamtlichen ist im Norden breiter als im Süden der Stadt. Ein Graben tut sich auf, das darf nicht sein. Es gibt soziale Brennpunkte, auch im reichen Düsseldorf. Dort entfremdet sich die Bürgerschaft mehr und mehr von den gesellschaftlichen Bindungen.
Politik, Wirtschaft und gerade auch die Kultur sind gefordert, dies nicht zuzulassen. Der Bürgerbegriff ist eben doppeldeutig: Im Norden scheint eine bürgerliche Gesellschaft intakt. Im Süden fühlen sich viele Menschen abgehängt. Juristisch sind sie (fast) alle Staatsbürger, aber real nicht gleichberechtigte Partner. Von den Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit ganz zu schweigen. Die zählen noch weniger. Das muss sich ändern. — Erschienen im Spielzeitheft 2017/18
Ulrich von Alemann lehrte nach Stationen in Neuss, Duisburg und Hagen von 1998 bis 2012 als Professor für Politikwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und hat nicht aufgehört zu forschen, zu schreiben und zu beraten. Jüngst publizierte er den Bildband »Düsseldorf und die Heinrich-Heine-Universität« sowie das Sachbuch »NRW. Ein Land blickt nach vorn«.
Besetzung
MitHeiner Geldermann, Britta Kollmann, Aljoscha Leonard, Anna-Maria Lienau, Marie-Catherine Meyer, Stephan Meyer, Gedeon Mfebe, Tobias Reichelt, Anja Scheuermann, Michael Swoboda, Marvin Wittiber
Text und RegieMiriam Tscholl
Text und DramaturgieDagrun Hintze
Bühne und KostümBernhard Siegl
Musik und VideoFabian Schulz
Programmierung und VideotechnikPeter Thoma
LichtPeter Bothmann