ankommen
Matin Soofipour, Autorin und Theaterpädagogin, über Gehen, Bleiben und die großen Fragen von Liebe und Sex
Menschen suchen nach Menschen, die ihnen das Gefühl von Geborgenheit geben. Egal ob wir uns in unserer Heimatstadt befinden oder tausend Kilometer entfernt von ihr, wir sind alle auf der Suche und sehnen uns danach, anzukommen. Aber zugleich fühlen wir uns dazu gezwungen, immer in Bewegung zu bleiben. Bei der Entscheidung zwischen Gehen und Bleiben beschließen die meisten zu gehen. Und ausgerechnet sie sind auch diejenigen, die unbedingt ankommen wollen. So gesehen geht man, um zu bleiben. Dieser Zwiespalt scheint der Charakter unserer Zeit zu sein. Nicht umsonst verlieren jegliche Grenzen ihre Bedeutung. Man hört immer weniger Menschen sagen: »Hier bin ich geboren, und hier werde ich sterben.« Man sieht immer weniger Ehepaare, die glauben: »… bis dass der Tod uns scheidet.« Sowohl im sozialen als auch im privaten Kontext ist man auf der Suche.
Die Suchenden sind zugleich die Wartenden. Wir begegnen überall Menschen, die auf die große Liebe warten – in der Annahme, dass man ihr überall begegnen kann. In der Straßenbahn, im Supermarkt, an jeder roten Ampel … Jeder zufälligen Begegnung im öffentlichen Raum wohnt die potenzielle Möglichkeit der großen Veränderung des Privatraums inne. Alles scheint allen möglich zu sein. Die neue Welt macht den Eindruck, sehr großzügig zu sein. Man könnte meinen, wir bewegen uns in einem Märchenland, halten ein märchenhaftes Glück für tatsächlich möglich und warten auf unseren Prinzen oder unsere Prinzessin und das erhoffte »eines Tages«. Eines Tages werden wir sie/ihn kennenlernen. Und dieses »eines Tages« kann gleich heute sein. Also verlassen wir jeden Tag unsere Häuser in der Erwartung, den besonderen Tag zu erleben. Aber was, wenn die Liebe auf den ersten Blick uns tatsächlich erwischt und wir auf den zweiten Blick feststellen, dass unser Partner nicht beschnitten ist? Oder wenn wir mit einem liebenswerten Menschen zu tun haben, der Sex außerhalb der Ehe verachtet oder für den es aus religiösen Gründen nicht infrage kommt, im Bett vollständig nackt zu sein? Wie haben wir es zu verstehen, wenn unser Partner/unsere Partnerin nach dem Sex rituelle Waschungen durchführt? Entscheiden wir uns für Gehen oder für Bleiben?
Der Einfluss von Kultur und Religion auf die Sexualität ist unumstritten – wobei sich dieser Einfluss ganz unterschiedlich gestaltet. Sigmund Freud schreibt in »Das Unbehagen in der Kultur«: »Es scheint nicht, dass man den Menschen durch irgendwelche Beeinflussung dazu bringen kann, seine Natur in die eines Termiten umzuwandeln, er wird wohl immer seinen Anspruch auf individuelle Freiheit gegen den Willen der Masse verteidigen.« Trotzdem ist das Verständnis von Sexualität sehr unterschiedlich, meist stark ideologisch geprägt. Gerade in Zeiten der Globalisierung und der zunehmenden interkulturellen Vielfalt unseres Umfeldes brauchen wir einen gemeinsamen Diskurs zum Thema mehr denn je.
Migration schreibt neue Geschichten auf das Papier der Gesellschaft, und wenn man von der Metapher vom Gesellschaftspapier ausgeht, dann weiß man sofort, dass wir nicht vor einem weißen Blatt stehen. Darauf ist schon einiges geschrieben. Es gibt Mechanismen, die nicht wegzustreichen sind. Und jede Menge Vorurteile, die auch ihre Berechtigung haben, solange man ihnen nicht tief in die Augen geschaut hat. Neue gesellschaftliche Dynamiken fördern neue gesellschaftliche Konzepte.
Eins steht fest: Deutschland ist ein Einwanderungsland. Die kulturelle Diversität der Städte zeigt uns, was alles schon vorhanden ist. Aber wollen wir uns darauf einlassen? Die Frage scheint an sich eine rhetorische zu sein. Wer würde darauf mit einem Nein antworten? Bestimmt nicht wir. Wer sind wir? Wir sind alles andere als die, die sich nur mit ihrer Nationalität definieren lassen. Und wenn man das Glas als halb voll betrachtet: Wir sind viele! Und doch sollten wir nicht aufhören, die Dinge infrage zu stellen. Die Frage wäre, inwiefern unser kultureller Hintergrund unseren Zustand in dieser Welt beeinflusst. Reicht es, beim Auftreten von jedem Problem, jeder unterschiedlichen Vorstellung von Zusammenleben zu sagen: Bei uns macht man das aber so! Was heißt das überhaupt, bei uns? Wie schaffen wir es, ein gemeinsames Weihnachten zu organisieren, wenn der andere gerade Ramadan feiert? Redet eine Iranerin von derselben Liebe wie eine Deutsche oder eine Araberin? Kann es sein, dass wir in den unterschiedlichen Sprachen von den gleichen Gefühlen reden? Aber wie sollen wir diese verstehen, wenn es so unterschiedliche Übersetzungen davon in unserer Körpersprache gibt, und wie soll es uns gelingen, anzukommen? Fragen in diesem Feld gibt es viele, aber nur eine Antwort: Lasst uns darüber reden, lasst uns einander kennenlernen, lasst uns ankommen. Denn die Liebe ist lieb genug, um uns allen eine Heimat zu bieten. Selbst wenn es heißt nur für eine Nacht. — erschienen im Spielzeitheft 2017/18
Matin Soofipour, geb. 1984 im Iran, ist Autorin, Regisseurin und seit Sommer 2016 Theaterpädagogin im Team des Schauspielhauses.
Die Suchenden sind zugleich die Wartenden. Wir begegnen überall Menschen, die auf die große Liebe warten – in der Annahme, dass man ihr überall begegnen kann. In der Straßenbahn, im Supermarkt, an jeder roten Ampel … Jeder zufälligen Begegnung im öffentlichen Raum wohnt die potenzielle Möglichkeit der großen Veränderung des Privatraums inne. Alles scheint allen möglich zu sein. Die neue Welt macht den Eindruck, sehr großzügig zu sein. Man könnte meinen, wir bewegen uns in einem Märchenland, halten ein märchenhaftes Glück für tatsächlich möglich und warten auf unseren Prinzen oder unsere Prinzessin und das erhoffte »eines Tages«. Eines Tages werden wir sie/ihn kennenlernen. Und dieses »eines Tages« kann gleich heute sein. Also verlassen wir jeden Tag unsere Häuser in der Erwartung, den besonderen Tag zu erleben. Aber was, wenn die Liebe auf den ersten Blick uns tatsächlich erwischt und wir auf den zweiten Blick feststellen, dass unser Partner nicht beschnitten ist? Oder wenn wir mit einem liebenswerten Menschen zu tun haben, der Sex außerhalb der Ehe verachtet oder für den es aus religiösen Gründen nicht infrage kommt, im Bett vollständig nackt zu sein? Wie haben wir es zu verstehen, wenn unser Partner/unsere Partnerin nach dem Sex rituelle Waschungen durchführt? Entscheiden wir uns für Gehen oder für Bleiben?
Der Einfluss von Kultur und Religion auf die Sexualität ist unumstritten – wobei sich dieser Einfluss ganz unterschiedlich gestaltet. Sigmund Freud schreibt in »Das Unbehagen in der Kultur«: »Es scheint nicht, dass man den Menschen durch irgendwelche Beeinflussung dazu bringen kann, seine Natur in die eines Termiten umzuwandeln, er wird wohl immer seinen Anspruch auf individuelle Freiheit gegen den Willen der Masse verteidigen.« Trotzdem ist das Verständnis von Sexualität sehr unterschiedlich, meist stark ideologisch geprägt. Gerade in Zeiten der Globalisierung und der zunehmenden interkulturellen Vielfalt unseres Umfeldes brauchen wir einen gemeinsamen Diskurs zum Thema mehr denn je.
Migration schreibt neue Geschichten auf das Papier der Gesellschaft, und wenn man von der Metapher vom Gesellschaftspapier ausgeht, dann weiß man sofort, dass wir nicht vor einem weißen Blatt stehen. Darauf ist schon einiges geschrieben. Es gibt Mechanismen, die nicht wegzustreichen sind. Und jede Menge Vorurteile, die auch ihre Berechtigung haben, solange man ihnen nicht tief in die Augen geschaut hat. Neue gesellschaftliche Dynamiken fördern neue gesellschaftliche Konzepte.
Eins steht fest: Deutschland ist ein Einwanderungsland. Die kulturelle Diversität der Städte zeigt uns, was alles schon vorhanden ist. Aber wollen wir uns darauf einlassen? Die Frage scheint an sich eine rhetorische zu sein. Wer würde darauf mit einem Nein antworten? Bestimmt nicht wir. Wer sind wir? Wir sind alles andere als die, die sich nur mit ihrer Nationalität definieren lassen. Und wenn man das Glas als halb voll betrachtet: Wir sind viele! Und doch sollten wir nicht aufhören, die Dinge infrage zu stellen. Die Frage wäre, inwiefern unser kultureller Hintergrund unseren Zustand in dieser Welt beeinflusst. Reicht es, beim Auftreten von jedem Problem, jeder unterschiedlichen Vorstellung von Zusammenleben zu sagen: Bei uns macht man das aber so! Was heißt das überhaupt, bei uns? Wie schaffen wir es, ein gemeinsames Weihnachten zu organisieren, wenn der andere gerade Ramadan feiert? Redet eine Iranerin von derselben Liebe wie eine Deutsche oder eine Araberin? Kann es sein, dass wir in den unterschiedlichen Sprachen von den gleichen Gefühlen reden? Aber wie sollen wir diese verstehen, wenn es so unterschiedliche Übersetzungen davon in unserer Körpersprache gibt, und wie soll es uns gelingen, anzukommen? Fragen in diesem Feld gibt es viele, aber nur eine Antwort: Lasst uns darüber reden, lasst uns einander kennenlernen, lasst uns ankommen. Denn die Liebe ist lieb genug, um uns allen eine Heimat zu bieten. Selbst wenn es heißt nur für eine Nacht. — erschienen im Spielzeitheft 2017/18
Matin Soofipour, geb. 1984 im Iran, ist Autorin, Regisseurin und seit Sommer 2016 Theaterpädagogin im Team des Schauspielhauses.
Besetzung
MitMarius Popescu Ciprian, Maximilian Hanka, Rami Lazkani, Holali Oumata, Rainer Sann, Nazli Saremi, Katja Uhlig, Nurdan Yakup
Regie
TextMatin Soofipour
Bühne und KostümStefanie Dellmann
MusikMatts Johan Leenders
ChoreografiePhaedra Pisimisi
DramaturgieJascha Sommer
LichtMichael Röther
Dauer
1 Stunde, 15 Minuten