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»Ich weiß, dass ich alles weiß (wenn ich nachgucke)« — von Philipp Löhle
1994 habe ich mit vier Freunden Interrail gemacht. Man kaufte bei der Bahn ein Ticket – es kostete (ungelogen) hundertfünzig Mark –, wählte drei Länder und fuhr vier Wochen durch Europa. Wir waren damals 16 Jahre alt, und es ging uns natürlich nicht ums Reisen, sondern ums Nicht-zu-Hause-Sein. Wir fuhren kreuz und quer durch die Gegend. Irgendwo im United Kingdom of Brexit. Kurz bevor wir mit der Fähre nach Irland wollten – die Fähren waren im Preis inbegriffen! –, haben wir uns verloren. Ich weiß nicht mehr, wie wir das geschafft haben, jedenfalls war ich allein mit D., und keine Spur von den anderen drei. Ich nahm mein Handy raus, öffnete WhatsApp und sendete in die Interrail-Gruppe unseren Standort. Danach chatteten wir ca. hundertzwanzigmal hin und her, um zu klären, wer sich in wessen Richtung begibt. Zehn Minuten später hatten wir uns wiedergefunden. Ist natürlich Quatsch, denn wir hatten keine Handys und kein WhatsApp und kein GPS. Nur einen Standort, den hatten wir. Aber keiner kannte ihn.
Neulich erzählte mir ein Freund, dass man auf seinem Google-Konto eine Einstellung findet, mit der man erklärt, einverstanden zu sein, dass Google ab und zu das Mikrofon des Handys einschaltet. Google braucht das, um die Texterkennung zu verbessern. Moment mal: Die hören ab und zu rein, wie ich mit Freunden diskutiere, mit meiner Freundin Liebesschwüre austausche oder vor dem Fernseher einschlafe? Ich habe die sehr unübersichtlichen Einstellungen meines Google-Kontos durchforstet und nach dieser Einstellung gesucht. Ich habe sie nicht gefunden. Was sicher an mir liegt und nicht an Google. Dafür habe ich alle jemals von mir in mein Handy diktierten Sprache-in-Text-Nachrichten noch mal anhören können. »Ich. Hole. Noch. Müsli. Und. Milch. Bis. Gleich.« Botschaften dieser Brisanz, in dämlicher Sprechweise, weil ins Handy diktiert, konnte ich mir zuhauf anhören. Ich war einigermaßen schockiert, mir selbst in einem vermeintlich unbeobachteten Moment zu begegnen. Ich setzte also alle Google-Verlaufs-Verfolgungs-Speicher-irgendwas-Häkchen, die ich finden konnte, auf »Nein«.
Aber wenn ich jetzt Google-Maps verwenden wollte, musste ich zuerst dreimal auf »Ablehnen« drücken, bevor ich das gesuchte Ziel in die Suchzeile eintippen konnte. Denn Google riet mir jedes Mal aufs Neue, ich solle doch die Standortverfolgung zulassen, dann könnte ich auch schon einmal gesuchte Ziele im Verlauf wiederfinden. Ich lehnte ab! Pah! Verlauf! Nicht mit mir, Google!
Nach etwa einer Woche wurde es mir zu blöd, und ich erlaubte die Standortverfolgung wieder. Und jetzt kommt’s: Denn in meinem von jetzt an für mich wieder lesbaren Verlauf waren alle Ziele, die ich in der letzten Woche eingegeben hatte, trotzdem gespeichert. Jawohl. D. h., die Funktion auszuschalten gab nur mir das Gefühl, nicht verfolgt zu werden. In Wahrheit wurde immer noch alles aufgezeichnet und gespeichert, es wurde mir nur nicht mehr angezeigt.
Wow! Auf meinem Google-Konto fand ich auch eine Weltkarte, die überall dort mit einem kleinen schwarzen Punkt markiert war, wo sich mein Handy mit meinem Google-Konto verbunden hatte. Wohlgemerkt nicht ich, sondern mein Handy! Wer besitzt hier eigentlich wen?
Ich wischte mit der Maus über die Weltkarte und rief mir anhand der kleinen Pünktchen vergangene Reisen und Orte in Erinnerung. Vor zwei Jahren fuhr ich sechs Wochen durch die USA. Angefangen in Hawaii. Auf dem Flug von Honolulu nach Los Angeles habe ich mein Handy im Flugzeug liegen lassen. Ich erspare den Bericht über meine Anrufe beim Lost-and-Found-Department und mache es kurz: Mein Handy war weg. Ich kaufte auch kein neues, sondern hatte einfach die nächsten Wochen keines. Auf meiner Google-Konto-Weltkarte fehlte von meiner USA-Reise ab Hawaii jede Spur. Ist das die einzige Möglichkeit zu verschwinden? Und will man das überhaupt? Verschwinden? Ist es nicht auch toll, nostalgisch vergangene Orte anzuklicken und wieder zu erinnern? Die Reise von 1994 ist jedenfalls ziemlich verblasst und kaum nachvollziehbar.
Ach ja. Wiedergefunden haben wir uns damals übrigens so: Wir haben gegenseitig auf uns gewartet. Einmal haben wir keine hundert Meter voneinander entfernt geschlafen. Die einen drei hinter, die anderen zwei vor dem Bahnhofsgebäude. Ab und zu haben wir von einer Telefonzelle aus bei unseren Eltern angerufen und unsere Reiseplanung der nächsten Tage durchgegeben bzw. von der Reiseplanung der anderen drei erfahren. Und auf der Fähre nach Irland waren wir schon wieder zu fünft. Ganz einfach. Und ohne die Hilfe von Google. — Erschienen im Spielzeitheft 2017/18
Der Dramatiker Philipp Löhle, geb. 1978 in Ravensburg, war Hausautor am Maxim Gorki Theater in Berlin, am Nationaltheater Mannheim und am Staatstheater Mainz. »Die Mitwisser« schreibt er als Auftragswerk für das Düsseldorfer Schauspielhaus.
Neulich erzählte mir ein Freund, dass man auf seinem Google-Konto eine Einstellung findet, mit der man erklärt, einverstanden zu sein, dass Google ab und zu das Mikrofon des Handys einschaltet. Google braucht das, um die Texterkennung zu verbessern. Moment mal: Die hören ab und zu rein, wie ich mit Freunden diskutiere, mit meiner Freundin Liebesschwüre austausche oder vor dem Fernseher einschlafe? Ich habe die sehr unübersichtlichen Einstellungen meines Google-Kontos durchforstet und nach dieser Einstellung gesucht. Ich habe sie nicht gefunden. Was sicher an mir liegt und nicht an Google. Dafür habe ich alle jemals von mir in mein Handy diktierten Sprache-in-Text-Nachrichten noch mal anhören können. »Ich. Hole. Noch. Müsli. Und. Milch. Bis. Gleich.« Botschaften dieser Brisanz, in dämlicher Sprechweise, weil ins Handy diktiert, konnte ich mir zuhauf anhören. Ich war einigermaßen schockiert, mir selbst in einem vermeintlich unbeobachteten Moment zu begegnen. Ich setzte also alle Google-Verlaufs-Verfolgungs-Speicher-irgendwas-Häkchen, die ich finden konnte, auf »Nein«.
Aber wenn ich jetzt Google-Maps verwenden wollte, musste ich zuerst dreimal auf »Ablehnen« drücken, bevor ich das gesuchte Ziel in die Suchzeile eintippen konnte. Denn Google riet mir jedes Mal aufs Neue, ich solle doch die Standortverfolgung zulassen, dann könnte ich auch schon einmal gesuchte Ziele im Verlauf wiederfinden. Ich lehnte ab! Pah! Verlauf! Nicht mit mir, Google!
Nach etwa einer Woche wurde es mir zu blöd, und ich erlaubte die Standortverfolgung wieder. Und jetzt kommt’s: Denn in meinem von jetzt an für mich wieder lesbaren Verlauf waren alle Ziele, die ich in der letzten Woche eingegeben hatte, trotzdem gespeichert. Jawohl. D. h., die Funktion auszuschalten gab nur mir das Gefühl, nicht verfolgt zu werden. In Wahrheit wurde immer noch alles aufgezeichnet und gespeichert, es wurde mir nur nicht mehr angezeigt.
Wow! Auf meinem Google-Konto fand ich auch eine Weltkarte, die überall dort mit einem kleinen schwarzen Punkt markiert war, wo sich mein Handy mit meinem Google-Konto verbunden hatte. Wohlgemerkt nicht ich, sondern mein Handy! Wer besitzt hier eigentlich wen?
Ich wischte mit der Maus über die Weltkarte und rief mir anhand der kleinen Pünktchen vergangene Reisen und Orte in Erinnerung. Vor zwei Jahren fuhr ich sechs Wochen durch die USA. Angefangen in Hawaii. Auf dem Flug von Honolulu nach Los Angeles habe ich mein Handy im Flugzeug liegen lassen. Ich erspare den Bericht über meine Anrufe beim Lost-and-Found-Department und mache es kurz: Mein Handy war weg. Ich kaufte auch kein neues, sondern hatte einfach die nächsten Wochen keines. Auf meiner Google-Konto-Weltkarte fehlte von meiner USA-Reise ab Hawaii jede Spur. Ist das die einzige Möglichkeit zu verschwinden? Und will man das überhaupt? Verschwinden? Ist es nicht auch toll, nostalgisch vergangene Orte anzuklicken und wieder zu erinnern? Die Reise von 1994 ist jedenfalls ziemlich verblasst und kaum nachvollziehbar.
Ach ja. Wiedergefunden haben wir uns damals übrigens so: Wir haben gegenseitig auf uns gewartet. Einmal haben wir keine hundert Meter voneinander entfernt geschlafen. Die einen drei hinter, die anderen zwei vor dem Bahnhofsgebäude. Ab und zu haben wir von einer Telefonzelle aus bei unseren Eltern angerufen und unsere Reiseplanung der nächsten Tage durchgegeben bzw. von der Reiseplanung der anderen drei erfahren. Und auf der Fähre nach Irland waren wir schon wieder zu fünft. Ganz einfach. Und ohne die Hilfe von Google. — Erschienen im Spielzeitheft 2017/18
Der Dramatiker Philipp Löhle, geb. 1978 in Ravensburg, war Hausautor am Maxim Gorki Theater in Berlin, am Nationaltheater Mannheim und am Staatstheater Mainz. »Die Mitwisser« schreibt er als Auftragswerk für das Düsseldorfer Schauspielhaus.
Besetzung
Theo Glass, EnzyklopädistSebastian Tessenow
Anna Glass, seine Frau, BlumenhändlerinTanja Schleiff
Herr KwantFlorian Lange
Sabrina David, Kollegin von TheoLou Strenger
Fred Jäger, Nachbar der Glass' / KwantAlexej Lochmann
Herr Fürst, Theos Chef / KwantThomas Wittmann
KwantsNadja Görts, Richard Kreutz, Alexandra Peschke, Jochen Moser, Marvin Wittiber
BühneMartin Miotk
KostümTanja Kramberger
MusikTobias Vethake
VideoStefano di Buduo
LichtChristian Schmidt
DramaturgieFrederik Tidén
Dauer
1 Stunde, 45 Minuten — keine Pause
Mit freundlicher Unterstützung der Freunde des Düsseldorfer Schauspielhauses.