Lust
Der Autor und Kleist-Biograf Peter Michalzik über die gescheiterte Uraufführung des »Krugs«, Kleists Modernität und Lust an Mehrdeutigkeit und die Verbindung von Theater und Begehren — Das Interview führte die Dramaturgin Felicitas Zürcher
Kleist hat mehrere Jahre am »Krug« gearbeitet: Uraufgeführt wurde das Lustspiel 1808, begonnen hatte Kleist die Arbeit aber schon 1802. Was führte zu dieser langen Entstehungszeit?
Der Beginn der Arbeit am »Krug« fällt zusammen mit der Entwicklung Kleists zum Schriftsteller. Als Kleist das erste Mal an das Stück dachte, war er seinem Selbstverständnis nach noch kein Dichter. Das passt gut zusammen mit der bekannten Geschichte, wonach es um einen privaten Wettstreit unterFreunden ging. Wer von drei Freunden erzählt die beste Geschichte zu dem Bild »Le Juge ou la Cruche cassée«, »Der Richter oder der zerbrochene Krug«? Diese Darstellung wird zuweilen bezweifelt, im Kern aber spricht nichts gegen ihren Wahrheitsgehalt. Es war sozusagen eine übermütige Laune (im Januar 1802), die am Anfang der Arbeit am »Krug« stand. Kleist schrieb bereits damals einen Teil des Stücks, den er seinen Freunden, sehr zu deren Vergnügen auch vorlas. Dann schoben sich andere Stücke, »Schroffenstein«, »Guiskard« (das Stück, an dem Kleist wirklich lange arbeitete), »Amphitryon« und vielfache Wendungen in Kleists bewegtem Leben dazwischen. Erst in Königsberg, wo er eine ruhige Arbeitsphase hatte, wahrscheinlich fünf, frühestens aber vier Jahre später, war das Stück fertig. Man muss davon ausgehen, dass Kleist bis dahin schlicht nicht genug Zeit für den »Krug« hatte.
Die Uraufführung des Stückes besorgte kein geringerer als Johann Wolfgang von Goethe in Weimar — trotzdem geriet die Inszenierung zum Flop. Warum? Und was war der Skandal zur damaligen Zeit?
Nun, vielleicht gerade deswegen, weil es Goethe war, der den »Krug« uraufführte, wurde es ein Misserfolg. Das zumindest wird oft gedacht. Immer wieder wird die Vermutung geäußert, dass Goethe Kleist schaden wollte, weil ihm seine Ästhetik missfiel, dass er ihn nicht richtig zur Aufführung bringen konnte, weil er seine neue Art zu schreiben und zu denken nicht verstand. Goethe warf Kleist vor, für das »unsichtbare Theater« zu schreiben. Aber Goethe war Profi und er war souverän, er wandte größte Aufmerksamkeit und Sorgfalt auf die Aufführung am Weimarer Hoftheater an. Er wollte Kleist also nicht schaden. Diese Aufführung wurde dann trotzdem zu einem der berühmten Skandale der Theatergeschichte. Dabei passierte gar nichts Außergewöhnliches. Das Publikum murrte. Das Stück war zu lang gewesen, vorher war noch eine kurze Oper gegeben worden, man saß mehr als vier Stunden im Theater. Das überforderte das Publikum, aber ein Skandal war es nicht. Das Stück habe anfangs gefallen, später gelangweilt, hieß es zunächst. Auch das hatte seinen Grund: Goethe hatte den Einakter in drei Akte eingeteilt und damit in die Länge gezogen. Entscheidend aber war wohl, dass die Rolle der Eve, die ja fast allein das gesamte Ende des Stückes zu bestreiten hat, ohnehin sehr lang nach zwei Aktunterbrechungen, von einer unerfahrenen Schauspielerin gespielt wurde, die die Aufmerksamkeit nicht aufrecht erhalten konnte. Am Ende pochten einige Zuschauer aus Unmut, andere klatschten. Das wars. Der Skandal entstand erst nachher, in der Rückschau einige Jahre später, als dann schon von großen Tumulten die Rede war. Dass sich diese Geschichte vom Skandal durchsetzen konnte, liegt daran, dass sie einfach zu gut passt: Goethe beschädigt Kleist, er sticht den Konkurrent aus dem Feld, Klassik vernichtet Romantik, Form vernichtet Herz.
Wie sehr hat Kleist der Misserfolg getroffen?
Kleist war tief gekränkt, er glaubte, dass Goethe ihm habe schaden wollen, sein erhitzbares Gemüt ging so weit, dass es Goethe zum Duell fordern wollte. Kleist sah sich bloßgestellt. Wieder war ein Karriereschritt misslungen. Wieder hatte er, in den Augen der Welt, versagt.
Nach der Uraufführung schrieb Kleist das Ende um, der ursprüngliche Schluss ist auch heute noch als Variant dem späteren Stückschluss hintangestellt. In Theaterkreisen heißt es, es bringe Unglück, den Variant zu spielen, inhaltlich ist aber die kurze Version kaum zu vertreten. Warum hat Kleist am Ende so sehr gekürzt?
Kleist wollte den Weimarer Misserfolg auf diese Weise ausbügeln. Er wollte eine theatergerechte Fassung schreiben. Er war verzweifelt genug, die inhaltlich fragwürdigen Abstriche in seinem eigenen Stück selbst vorzunehmen und zu tolerieren. Dass im Theater bis heute – in gut abergläubischer Tradition – an ein Unglück durch den sogenannten Variant geglaubt wird, das eigentliche Original, liegt an der Fixierung des Theaters auf Wirksamkeit und nicht auf Inhalt.
Trotz des Goethe’schen Misserfolgs trat der »Krug« seinen Sieges zug auf den deutschen Bühnen an. Wie kam es dazu?
Es ist doch ganz einfach: Der »Krug« ist die witzigste, geistreichste, überraschendste Komödie in deutscher Sprache. Die Sprache des Stückes ist kompliziert, aber sie ist auch fundamental lustig. Sie scheint von einem Witz in den nächsten zu stolpern. Der Witz scheint aus dem Sein selbst zu kommen. Er ist groß. Gleichzeitig sind die Figuren manchmal so lächerlich, weil so durchschaubar. Aber nur bis zu einem gewissen Grad. Dahinter bleibt immer ein Geheimnis der Figur, etwas nicht zu Beantwortendes. So hat dieses Stück mehrere großartige Rollen – und das haben natürlich Generationen von Schauspieler*innen erkannt.
Das Spiel mit Mehrdeutigkeiten war eine Passion des Autors Kleist. So ist »Der zerbrochne Krug« ein »Lustspiel«, was einerseits Komödie meint, aber ebenso als Spiel um die Lust (von Adam) zu verstehen ist. Warum betreibt Kleist das Spiel mit Wörtern in diesem Stück so exzessiv?
Kleist tut das nicht nur im »Krug«, denken Sie an den Anfang des »Amphitryon«, denken Sie an die »Familie Schroffenstein«, an »Penthesilea« oder manche Stelle der Erzählungen. Kleist liebte die Mehrdeutigkeit, weil die Welt für ihn mehrdeutig war. Sie war nicht fest gefügt, sie war fragil. Man konnte sie so und im nächsten Moment so sehen. Kleist hat die Erfahrung von Verunsicherung, die eine sehr heutige Erfahrung ist, die vielleicht die wesentlichste Erfahrung unserer Zeit ist, bereits vor 200 Jahren gemacht.
Das große Thema des Stückes ist Vertrauen: Das Vertrauen des Volkes in die Autoritäten, das vom Richter Adam stellvertretend für alle Obrigkeit missbraucht wird — und das von Gerichtsrat Walter im Variant wiederherzustellen versucht wird. Was sagt das aus über Kleists eigene Vertrauenskrise in seinen Staat?
Ja, eines von Kleists Themen ist Vertrauen bzw. Vertrauensverlust. Kleist hatte eine Vertrauenskrise. Aber bestimmt nicht nur eine Vertrauenskrise mit dem preußischen Staat. Er hatte eine viel fundamentalere Krise, er fand weder in der Religion, in Gott, in der Liebe noch in der Familie das Vertrauen, das er suchte. Was ist Vertrauen? Vertrauen ist das Grundeinverständnis über das Gegenüber. Da ist jemand anderer, der mich akzeptiert, annimmt, erkennt, anerkennt, mag, vielleicht liebt, wertschätzt. Egal was man dort, beim Anderen, beim Gegenüber einsetzt, Gott, Staat, Liebe, Familie – Kleist fand dort nicht, was er suchte. Kleist wollte sein Leben deswegen eine ganze Stufe grundsätzlicher begründen, als das die Menschen bis dahin getan hatten. Er wollte hinter den Sündenfall, diesen ursprünglichen Vertrauensverlust, zurückgehen. Ihm war klar, dass er das alleine hinbekommen musste, dass es keinen vorgegebenen Weg gab, auf dem er dabei gehen konnte. Und er war entschlossen, das zu tun.
Der Text wimmelt auch von Anspielungen auf das Alte Testament — Adam und Eva, der Sündenfall, der oberste Richter etc. Was bezweckte Kleist mit dieser Ebene des Textes?
Es gibt eine weitere Ebene, die das Stück auch als eine Überschreibung von Sophokles’ König Ödipus erweist. Es gibt also zwei Fundamentalfolien, auf denen das Stück spielt. Zunächst geht es dabei um die enorme Lust an der Kunstfertigkeit: Ich kann ein Stück schreiben, das eine neue Bibel, eine neueSchöpfungsgeschichte ist, und das ein neuer Ödipus, ein neuer Mythos ist. Kann man als Autor mehr erreichen? Dann, ich nehme an, dass Sie darauf anspielen, hat Kleist sich mit dem Paradies auseinandergesetzt. Sowohl am Anfang seiner Karriere in »Schroffenstein« als auch am Ende im »Marionettentheater« spielt das Paradiesmotiv eine zentrale Rolle. Er dachte, dass wir aus dem Paradies grundsätzlich und für immer ausgeschlossen sind. Adam im »Krug« führt das als Komödie vor.
Ein Jahr nach dem Beginn der #MeTooBewegung liest sich das Stück wie ein Kommentar »avant la lettre« zu dieser Debatte: Ein Mann in einer Machtposition nutzt diese unter einem Vorwand aus, um Geschlechtsverkehr zu erpressen. Und obwohl es zahl reiche Hinweise gibt, schaut keiner hin, hört niemand zu — weder die Mutter, noch der Bräutigam, noch die Nachbarin Frau Brigitte. Wie kommt dieses heutige Thema, und noch dazu in dieser präzisen Beschreibung, in Kleists Werk?
Damit sprechen Sie ein schwieriges Verhältnis, einen komplizierten Komplex an. Kleists Verhältnis zu Sexualität und Erotik ist bis heute ein Feld der Spekulation. War er hetero-, homo-, bi-, asexuell? Ich vertrete die Ansicht, dass er alle diese Varianten in sich trug, aber keine auslebte. Man könnte sagen, er war latent allsexuell oder fundamentalsexuell. Was durch #MeToo so deutlich wird, ist die Verbindung von Macht und Sex. Weil Macht, und zwar ganz fundamental, im Spiel ist, ins Spiel gekommen ist, deswegen wird ja weggeschaut. Macht lenkt die Blicke, denken Sie an des Kaisers neue Kleider. Diese Verbindung zwischen Sex und Macht wird fast ausschließlich auf der männlichen Seite hergestellt, Frauen haben seit Menschengedenken darunter zu leiden. Was nun durch #MeToo erstmals deutlich zur Sprache kommt. Aber tatsächlich gab es das ja schon immer bzw. solange unser kulturelles Gedächtnis zurückreicht. Kleist war für solche verborgenen, verdrängten, geleugneten Zusammenhänge und Zustände extrem offen. Er war sozusagen ein schonungslos ehrlicher Mensch, seine Augen waren ganz weit geöffnet. Ein wenig ist damit übrigens wieder das Verhältnis zu Goethe angesprochen, dessen Qualitäten sicherlich auf anderen Feldern als dieser Offenheit lagen.
Nachdem Adam verjagt ist und Walter Eves Vertrauen in den Staat wieder herzustellen versucht, besiegelt er dies mit einem Kuss. Damit wiederholt Walter im Kleinen Adams Vergehen — diesmal unter der offenen Zustimmung des Volkes. Wie ist das zu Kleists Zeiten zu verstehen?
Gute Frage. So wie heute. Im ersten Moment denkt man, alles wieder gut, alles einvernehmlich geregelt. Super. Im zweiten Moment fällt einem auf, wenn man denn dafür sensibel ist, dass alles genau so bleibt, wie es ist und war, dass gar nichts super ist, und dass man darüber gerade noch selbst für einen Moment glücklich war. Man erschrickt über sich selbst. Man muss, schaut man sich selbst an, denken: Es wird sich nie etwas ändern. Oder nur mit größten Mühen. Deswegen denke ich: Die Frauen dürfen nun bloß nicht aufgeben, aber auch die Männer nicht. Wir dürfen diese Verquickung von Sex und Macht nie mehr akzeptieren. Es wird lange, sehr lange dauern, bis sich ein neues Geschlechterverhältnis als Selbstverständlichkeit durchsetzt. Und es wird immer bedroht bleiben. Aber ich glaube, es ist wichtig und es lohnt sich.
Was mit der Kürzung des ursprünglichen Schlusses ebenfalls unter den Tisch fiel, war die ausführliche Aussage von Eve. Sie, die die ganze Zeit schweigt, wird tatsächlich nicht gehört. Ist, wenn Adam verjagt ist, alles gut? Warum will man der am meisten geschädigten Frau nicht zuhören? Und ist so ein Verfahren juristisch vertretbar? Die einfache Antwort wäre: Ein Theaterstück ist kein Gerichtsprozess. Aber das ist flapsig. Tatsächlich ist Eves Szene, die gestrichene Szene, der Höhepunkt des Stücks. Hier platzt auf, was vorher nicht klar war. Hier hat die Anlage des Stückes ihren Fluchtpunkt. Hier ist der Moment der Wahrheit. Was mich mehr als die juristische Fragwürdigkeit der Kürzung erschüttert, ist Folgendes: Seit 200 Jahren gibt es nun dieses Stück in seinen beiden Fassungen, und seit 200 Jahren herrscht im Theater bestes Einvernehmen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, dass die gekürzte Fassung die bessere Fassung ist. Das sagt doch alles. Das ist doch nicht zu glauben! Das Theater unterscheidet sich in nichts von der Gesellschaft. Seit zweihundert Jahren wird im Theater auf diese Weise das prekäre Geschlechterverhältnis fortgeschrieben, festgeschrieben und komisch umspielt!
Das Thema des Stückes ist bittererst, es geht von Machtmiss brauch über Steuerhinterziehung und Urkundenfälschung bis zur vielleicht auch nur versuchten Vergewaltigung. Warum kleidet Kleist dies in das Gewand eines »Lustspiels«?
Ich finde, das Ernste wird im Lustspiel genauso deutlich wie in der Tragödie.Das Lustspiel ist keine minderwertige Form. Heiterkeit, Witz, Komik, das heißt ja nicht, wie man in Deutschland immer noch gerne denkt, dass die ernsten, die bösen, die bitterbösen Momente des Lebens und der Wirklichkeit geleugnet würden. Es geht in der Komödie, zu der das Lustspiel gehört, nicht um andere Themen, sondern um eine andere Auffassung dieser Themen. Aber es ist genauso ernst zu sagen, was bleibt uns, angesichts dessen, was wir sehen, angesichts der Tragödie des Lebens, was bleibt uns anderes, als zu lachen. Man lacht am besten über das Ausweglose. Oder was soll man angesichts von Aus- weglosigkeit anderes tun als lachen? Das Lachen, in einem tief philosophischen Sinn, ist die einzige Antwort auf das Ausweglose. Man macht so die Freiheit des Menschen kenntlich. Man behauptet sie. Das ist eine Kernerfahrung des 20. Jahrhunderts. Das Verrückte ist, dass Kleist diese Erfahrung schon am Anfang des 19. Jahrhunderts macht. Und dann ist es doch tatsächlich so – worauf Kleist mit seinem Untertitel »Lustspiel« das erste Mal aufmerksam gemacht hat – dass Lust, also Sexualität, und Lust, also Spaß am Zuschauen, irgendwo in der Tiefe unserer Existenz sehr eng verwoben sind. Das deutsche Wort Lustspiel, das eigentlich nur eine Übersetzung des französischen comédie war, trägt so eine eigene Form der Wahrheit in sich. Die hat Kleist deutlich gemacht. Im Herzen der Lust lauert die Lust, aber sie lauert nicht nur, sie wohnt dort auch, sie schnurrt und gurrt. Mit anderen Worten: Im Herzen des Theaters steckt das Begehren. Das ist es auch, was das Theater lebendig macht. Und darum ist auch Kleist seit 207 Jahren tot und gleichzeitig lebendig.
Der Beginn der Arbeit am »Krug« fällt zusammen mit der Entwicklung Kleists zum Schriftsteller. Als Kleist das erste Mal an das Stück dachte, war er seinem Selbstverständnis nach noch kein Dichter. Das passt gut zusammen mit der bekannten Geschichte, wonach es um einen privaten Wettstreit unterFreunden ging. Wer von drei Freunden erzählt die beste Geschichte zu dem Bild »Le Juge ou la Cruche cassée«, »Der Richter oder der zerbrochene Krug«? Diese Darstellung wird zuweilen bezweifelt, im Kern aber spricht nichts gegen ihren Wahrheitsgehalt. Es war sozusagen eine übermütige Laune (im Januar 1802), die am Anfang der Arbeit am »Krug« stand. Kleist schrieb bereits damals einen Teil des Stücks, den er seinen Freunden, sehr zu deren Vergnügen auch vorlas. Dann schoben sich andere Stücke, »Schroffenstein«, »Guiskard« (das Stück, an dem Kleist wirklich lange arbeitete), »Amphitryon« und vielfache Wendungen in Kleists bewegtem Leben dazwischen. Erst in Königsberg, wo er eine ruhige Arbeitsphase hatte, wahrscheinlich fünf, frühestens aber vier Jahre später, war das Stück fertig. Man muss davon ausgehen, dass Kleist bis dahin schlicht nicht genug Zeit für den »Krug« hatte.
Die Uraufführung des Stückes besorgte kein geringerer als Johann Wolfgang von Goethe in Weimar — trotzdem geriet die Inszenierung zum Flop. Warum? Und was war der Skandal zur damaligen Zeit?
Nun, vielleicht gerade deswegen, weil es Goethe war, der den »Krug« uraufführte, wurde es ein Misserfolg. Das zumindest wird oft gedacht. Immer wieder wird die Vermutung geäußert, dass Goethe Kleist schaden wollte, weil ihm seine Ästhetik missfiel, dass er ihn nicht richtig zur Aufführung bringen konnte, weil er seine neue Art zu schreiben und zu denken nicht verstand. Goethe warf Kleist vor, für das »unsichtbare Theater« zu schreiben. Aber Goethe war Profi und er war souverän, er wandte größte Aufmerksamkeit und Sorgfalt auf die Aufführung am Weimarer Hoftheater an. Er wollte Kleist also nicht schaden. Diese Aufführung wurde dann trotzdem zu einem der berühmten Skandale der Theatergeschichte. Dabei passierte gar nichts Außergewöhnliches. Das Publikum murrte. Das Stück war zu lang gewesen, vorher war noch eine kurze Oper gegeben worden, man saß mehr als vier Stunden im Theater. Das überforderte das Publikum, aber ein Skandal war es nicht. Das Stück habe anfangs gefallen, später gelangweilt, hieß es zunächst. Auch das hatte seinen Grund: Goethe hatte den Einakter in drei Akte eingeteilt und damit in die Länge gezogen. Entscheidend aber war wohl, dass die Rolle der Eve, die ja fast allein das gesamte Ende des Stückes zu bestreiten hat, ohnehin sehr lang nach zwei Aktunterbrechungen, von einer unerfahrenen Schauspielerin gespielt wurde, die die Aufmerksamkeit nicht aufrecht erhalten konnte. Am Ende pochten einige Zuschauer aus Unmut, andere klatschten. Das wars. Der Skandal entstand erst nachher, in der Rückschau einige Jahre später, als dann schon von großen Tumulten die Rede war. Dass sich diese Geschichte vom Skandal durchsetzen konnte, liegt daran, dass sie einfach zu gut passt: Goethe beschädigt Kleist, er sticht den Konkurrent aus dem Feld, Klassik vernichtet Romantik, Form vernichtet Herz.
Wie sehr hat Kleist der Misserfolg getroffen?
Kleist war tief gekränkt, er glaubte, dass Goethe ihm habe schaden wollen, sein erhitzbares Gemüt ging so weit, dass es Goethe zum Duell fordern wollte. Kleist sah sich bloßgestellt. Wieder war ein Karriereschritt misslungen. Wieder hatte er, in den Augen der Welt, versagt.
Nach der Uraufführung schrieb Kleist das Ende um, der ursprüngliche Schluss ist auch heute noch als Variant dem späteren Stückschluss hintangestellt. In Theaterkreisen heißt es, es bringe Unglück, den Variant zu spielen, inhaltlich ist aber die kurze Version kaum zu vertreten. Warum hat Kleist am Ende so sehr gekürzt?
Kleist wollte den Weimarer Misserfolg auf diese Weise ausbügeln. Er wollte eine theatergerechte Fassung schreiben. Er war verzweifelt genug, die inhaltlich fragwürdigen Abstriche in seinem eigenen Stück selbst vorzunehmen und zu tolerieren. Dass im Theater bis heute – in gut abergläubischer Tradition – an ein Unglück durch den sogenannten Variant geglaubt wird, das eigentliche Original, liegt an der Fixierung des Theaters auf Wirksamkeit und nicht auf Inhalt.
Trotz des Goethe’schen Misserfolgs trat der »Krug« seinen Sieges zug auf den deutschen Bühnen an. Wie kam es dazu?
Es ist doch ganz einfach: Der »Krug« ist die witzigste, geistreichste, überraschendste Komödie in deutscher Sprache. Die Sprache des Stückes ist kompliziert, aber sie ist auch fundamental lustig. Sie scheint von einem Witz in den nächsten zu stolpern. Der Witz scheint aus dem Sein selbst zu kommen. Er ist groß. Gleichzeitig sind die Figuren manchmal so lächerlich, weil so durchschaubar. Aber nur bis zu einem gewissen Grad. Dahinter bleibt immer ein Geheimnis der Figur, etwas nicht zu Beantwortendes. So hat dieses Stück mehrere großartige Rollen – und das haben natürlich Generationen von Schauspieler*innen erkannt.
Das Spiel mit Mehrdeutigkeiten war eine Passion des Autors Kleist. So ist »Der zerbrochne Krug« ein »Lustspiel«, was einerseits Komödie meint, aber ebenso als Spiel um die Lust (von Adam) zu verstehen ist. Warum betreibt Kleist das Spiel mit Wörtern in diesem Stück so exzessiv?
Kleist tut das nicht nur im »Krug«, denken Sie an den Anfang des »Amphitryon«, denken Sie an die »Familie Schroffenstein«, an »Penthesilea« oder manche Stelle der Erzählungen. Kleist liebte die Mehrdeutigkeit, weil die Welt für ihn mehrdeutig war. Sie war nicht fest gefügt, sie war fragil. Man konnte sie so und im nächsten Moment so sehen. Kleist hat die Erfahrung von Verunsicherung, die eine sehr heutige Erfahrung ist, die vielleicht die wesentlichste Erfahrung unserer Zeit ist, bereits vor 200 Jahren gemacht.
Das große Thema des Stückes ist Vertrauen: Das Vertrauen des Volkes in die Autoritäten, das vom Richter Adam stellvertretend für alle Obrigkeit missbraucht wird — und das von Gerichtsrat Walter im Variant wiederherzustellen versucht wird. Was sagt das aus über Kleists eigene Vertrauenskrise in seinen Staat?
Ja, eines von Kleists Themen ist Vertrauen bzw. Vertrauensverlust. Kleist hatte eine Vertrauenskrise. Aber bestimmt nicht nur eine Vertrauenskrise mit dem preußischen Staat. Er hatte eine viel fundamentalere Krise, er fand weder in der Religion, in Gott, in der Liebe noch in der Familie das Vertrauen, das er suchte. Was ist Vertrauen? Vertrauen ist das Grundeinverständnis über das Gegenüber. Da ist jemand anderer, der mich akzeptiert, annimmt, erkennt, anerkennt, mag, vielleicht liebt, wertschätzt. Egal was man dort, beim Anderen, beim Gegenüber einsetzt, Gott, Staat, Liebe, Familie – Kleist fand dort nicht, was er suchte. Kleist wollte sein Leben deswegen eine ganze Stufe grundsätzlicher begründen, als das die Menschen bis dahin getan hatten. Er wollte hinter den Sündenfall, diesen ursprünglichen Vertrauensverlust, zurückgehen. Ihm war klar, dass er das alleine hinbekommen musste, dass es keinen vorgegebenen Weg gab, auf dem er dabei gehen konnte. Und er war entschlossen, das zu tun.
Der Text wimmelt auch von Anspielungen auf das Alte Testament — Adam und Eva, der Sündenfall, der oberste Richter etc. Was bezweckte Kleist mit dieser Ebene des Textes?
Es gibt eine weitere Ebene, die das Stück auch als eine Überschreibung von Sophokles’ König Ödipus erweist. Es gibt also zwei Fundamentalfolien, auf denen das Stück spielt. Zunächst geht es dabei um die enorme Lust an der Kunstfertigkeit: Ich kann ein Stück schreiben, das eine neue Bibel, eine neueSchöpfungsgeschichte ist, und das ein neuer Ödipus, ein neuer Mythos ist. Kann man als Autor mehr erreichen? Dann, ich nehme an, dass Sie darauf anspielen, hat Kleist sich mit dem Paradies auseinandergesetzt. Sowohl am Anfang seiner Karriere in »Schroffenstein« als auch am Ende im »Marionettentheater« spielt das Paradiesmotiv eine zentrale Rolle. Er dachte, dass wir aus dem Paradies grundsätzlich und für immer ausgeschlossen sind. Adam im »Krug« führt das als Komödie vor.
Ein Jahr nach dem Beginn der #MeTooBewegung liest sich das Stück wie ein Kommentar »avant la lettre« zu dieser Debatte: Ein Mann in einer Machtposition nutzt diese unter einem Vorwand aus, um Geschlechtsverkehr zu erpressen. Und obwohl es zahl reiche Hinweise gibt, schaut keiner hin, hört niemand zu — weder die Mutter, noch der Bräutigam, noch die Nachbarin Frau Brigitte. Wie kommt dieses heutige Thema, und noch dazu in dieser präzisen Beschreibung, in Kleists Werk?
Damit sprechen Sie ein schwieriges Verhältnis, einen komplizierten Komplex an. Kleists Verhältnis zu Sexualität und Erotik ist bis heute ein Feld der Spekulation. War er hetero-, homo-, bi-, asexuell? Ich vertrete die Ansicht, dass er alle diese Varianten in sich trug, aber keine auslebte. Man könnte sagen, er war latent allsexuell oder fundamentalsexuell. Was durch #MeToo so deutlich wird, ist die Verbindung von Macht und Sex. Weil Macht, und zwar ganz fundamental, im Spiel ist, ins Spiel gekommen ist, deswegen wird ja weggeschaut. Macht lenkt die Blicke, denken Sie an des Kaisers neue Kleider. Diese Verbindung zwischen Sex und Macht wird fast ausschließlich auf der männlichen Seite hergestellt, Frauen haben seit Menschengedenken darunter zu leiden. Was nun durch #MeToo erstmals deutlich zur Sprache kommt. Aber tatsächlich gab es das ja schon immer bzw. solange unser kulturelles Gedächtnis zurückreicht. Kleist war für solche verborgenen, verdrängten, geleugneten Zusammenhänge und Zustände extrem offen. Er war sozusagen ein schonungslos ehrlicher Mensch, seine Augen waren ganz weit geöffnet. Ein wenig ist damit übrigens wieder das Verhältnis zu Goethe angesprochen, dessen Qualitäten sicherlich auf anderen Feldern als dieser Offenheit lagen.
Nachdem Adam verjagt ist und Walter Eves Vertrauen in den Staat wieder herzustellen versucht, besiegelt er dies mit einem Kuss. Damit wiederholt Walter im Kleinen Adams Vergehen — diesmal unter der offenen Zustimmung des Volkes. Wie ist das zu Kleists Zeiten zu verstehen?
Gute Frage. So wie heute. Im ersten Moment denkt man, alles wieder gut, alles einvernehmlich geregelt. Super. Im zweiten Moment fällt einem auf, wenn man denn dafür sensibel ist, dass alles genau so bleibt, wie es ist und war, dass gar nichts super ist, und dass man darüber gerade noch selbst für einen Moment glücklich war. Man erschrickt über sich selbst. Man muss, schaut man sich selbst an, denken: Es wird sich nie etwas ändern. Oder nur mit größten Mühen. Deswegen denke ich: Die Frauen dürfen nun bloß nicht aufgeben, aber auch die Männer nicht. Wir dürfen diese Verquickung von Sex und Macht nie mehr akzeptieren. Es wird lange, sehr lange dauern, bis sich ein neues Geschlechterverhältnis als Selbstverständlichkeit durchsetzt. Und es wird immer bedroht bleiben. Aber ich glaube, es ist wichtig und es lohnt sich.
Was mit der Kürzung des ursprünglichen Schlusses ebenfalls unter den Tisch fiel, war die ausführliche Aussage von Eve. Sie, die die ganze Zeit schweigt, wird tatsächlich nicht gehört. Ist, wenn Adam verjagt ist, alles gut? Warum will man der am meisten geschädigten Frau nicht zuhören? Und ist so ein Verfahren juristisch vertretbar? Die einfache Antwort wäre: Ein Theaterstück ist kein Gerichtsprozess. Aber das ist flapsig. Tatsächlich ist Eves Szene, die gestrichene Szene, der Höhepunkt des Stücks. Hier platzt auf, was vorher nicht klar war. Hier hat die Anlage des Stückes ihren Fluchtpunkt. Hier ist der Moment der Wahrheit. Was mich mehr als die juristische Fragwürdigkeit der Kürzung erschüttert, ist Folgendes: Seit 200 Jahren gibt es nun dieses Stück in seinen beiden Fassungen, und seit 200 Jahren herrscht im Theater bestes Einvernehmen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, dass die gekürzte Fassung die bessere Fassung ist. Das sagt doch alles. Das ist doch nicht zu glauben! Das Theater unterscheidet sich in nichts von der Gesellschaft. Seit zweihundert Jahren wird im Theater auf diese Weise das prekäre Geschlechterverhältnis fortgeschrieben, festgeschrieben und komisch umspielt!
Das Thema des Stückes ist bittererst, es geht von Machtmiss brauch über Steuerhinterziehung und Urkundenfälschung bis zur vielleicht auch nur versuchten Vergewaltigung. Warum kleidet Kleist dies in das Gewand eines »Lustspiels«?
Ich finde, das Ernste wird im Lustspiel genauso deutlich wie in der Tragödie.Das Lustspiel ist keine minderwertige Form. Heiterkeit, Witz, Komik, das heißt ja nicht, wie man in Deutschland immer noch gerne denkt, dass die ernsten, die bösen, die bitterbösen Momente des Lebens und der Wirklichkeit geleugnet würden. Es geht in der Komödie, zu der das Lustspiel gehört, nicht um andere Themen, sondern um eine andere Auffassung dieser Themen. Aber es ist genauso ernst zu sagen, was bleibt uns, angesichts dessen, was wir sehen, angesichts der Tragödie des Lebens, was bleibt uns anderes, als zu lachen. Man lacht am besten über das Ausweglose. Oder was soll man angesichts von Aus- weglosigkeit anderes tun als lachen? Das Lachen, in einem tief philosophischen Sinn, ist die einzige Antwort auf das Ausweglose. Man macht so die Freiheit des Menschen kenntlich. Man behauptet sie. Das ist eine Kernerfahrung des 20. Jahrhunderts. Das Verrückte ist, dass Kleist diese Erfahrung schon am Anfang des 19. Jahrhunderts macht. Und dann ist es doch tatsächlich so – worauf Kleist mit seinem Untertitel »Lustspiel« das erste Mal aufmerksam gemacht hat – dass Lust, also Sexualität, und Lust, also Spaß am Zuschauen, irgendwo in der Tiefe unserer Existenz sehr eng verwoben sind. Das deutsche Wort Lustspiel, das eigentlich nur eine Übersetzung des französischen comédie war, trägt so eine eigene Form der Wahrheit in sich. Die hat Kleist deutlich gemacht. Im Herzen der Lust lauert die Lust, aber sie lauert nicht nur, sie wohnt dort auch, sie schnurrt und gurrt. Mit anderen Worten: Im Herzen des Theaters steckt das Begehren. Das ist es auch, was das Theater lebendig macht. Und darum ist auch Kleist seit 207 Jahren tot und gleichzeitig lebendig.
Besetzung
Walter, GerichtsratFlorian Lange
Adam, DorfrichterAndreas Grothgar
Licht, SchreiberRainer Philippi
Frau Marthe RullMichaela Steiger
Eve, ihre TochterCennet Rüya Voß
RuprechtHenning Flüsloh
Frau BrigitteMarkus Danzeisen
RegieLaura Linnenbaum
BühneValentin Baumeister
KostümUlrike Obermüller
MusikJustus Wilcken
DramaturgieFelicitas Zürcher
Dauer
2 Stunden — keine Pause