marode
Erst mal selbst denken! — Die junge Regisseurin Laura Linnenbaum beißt lustvoll in Kleists Apfel der Vernunft
Eine junge, noch unverheiratete Bauersfrau wird vom Dorfrichter unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zu sexuellen Handlungen genötigt – ob es wirklich dazu kommt, verschweigt Kleist mittels einer kunstvollen Auslassung –, und am nächsten Tag sitzt Adam über eine Tat zu Gericht, die er selbst begangen hat. Kleist spickt die Verhandlung mit karnevalesken Figuren und »lustvoll« aufeinanderprallenden Gegensätzen: Marthe Rull, die um Eves Unschuld besorgte Mutter, lässt kaum eine Frivolität aus, diese zu verteidigen. Der Richter als Angeklagter wird in rasantem Tempo durch das absurdeste aller Gerichtsverfahren getrieben, versucht unter Kapriolen und aberwitzigster Parteinahme, der Entdeckung seiner Schuld zu entkommen, und verstrickt sich immer tiefer hinein. Ob der möglicherweise stattgefunden habende »Sündenfall« zwischen Adam und Eve eine metaphysische Dimension aufweist, steht zu bezweifeln. Fruchtbarer scheinen mir die biblischen Vergleiche im Kontext gesellschaftlicher Missstände: Adam, der die Aufdeckung des Falls behindert, ist mit einem satanisch anmutenden Klumpfuß versehen, seine Registratur bezeichnet er gern mal als »Hölle«, was auf die ausbeuterische Funktion seines Gerichts innerhalb der Dorfgemeinschaft verweist. Und indem Kleist ihn hinkend, humpelnd und mit einem Bein immer schon in der Anklagebank zwischen der sicheren Instanz des Richterstuhls und dem wackeligen Zeugenstand hin und her hetzen lässt, entlarvt er ganz nebenbei die einem Richter von Staats wegen zugeteilte Macht als bloße Deutungshoheit – beliebig dehnbar.
Geschrieben wurde Kleists »Zerbrochner Krug« in den Nachwehen der Französischen Revolution als eine Parabel staatlicher Willkür. Wie des Kaisers neue Kleider hat Adam seine Staatswürde schon zu Anbeginn des Prozesses eingebüßt, und anstelle der standesgemäßen Perücke bedeckt weißer Puder nur behelfsmäßig die Wunde auf seinem Kopf. Bloßgelegt klafft sie wie die Lücke zwischen Recht und Gerechtigkeit: »Ich kann Recht so jetzt, jetzo so urteilen.« Der Krug, eigentliches Objekt der Gerichtsverhandlung, der die Geschichte der niederländischen Staatsgründung in Bildern auf sich trug und jegliche Bedrohungen von außen – politische Unruhen, Besitzerwechsel und sogar Feuer – überstanden hatte, wurde mit nur einem Stoß von einem Staatsdiener zerbrochen. Somit bietet auch die »Vertreibung Adams aus dem Paradies« eine Folie zum Erkennen eines weltlichen Problems: Dorfrichter Adam avanciert zum Stellvertreter eines potenziell korrupten Staatsapparats, seine Vertreibung stellt die Sanierung eines maroden Rechtssystems zumindest in Aussicht.
Es ist ein lustvoller Vorgang, eine derart ziegenbockige und ramponierte Autoritätsperson über die Bühne zu jagen und sie trotzdem fast bis zum Schluss über das Schicksal des zunächst Angeklagten walten zu lassen. Aber Kleist schließt mit der Frage nach Legitimität von Macht auch merkwürdig aktuell an heutige Debatten an. Eve als Betroffene sexueller Gewalt landet unfreiwillig vor Gericht und kann sich keiner helfenden Obrigkeit anvertrauen, denn der Täter wird nicht nur von höheren Instanzen gedeckt, er ist die höhere Instanz in persona. Der Machtmissbrauch Adams führt aber nicht nur zur Frage nach der Verteilung von Macht auf die Geschlechter in einer patriarchal organisierten Gesellschaft, sondern zu einer grundsätzlicheren Hinterfragung von Machtstrukturen. Denn Kleist erzählt nicht nur die Geschichte des unrechten Richters Adam, der seine Amtsgewalt missbraucht. Er erzählt auch von einer Dorf- und Familiengemeinschaft, die sich unter dem Druck unterschiedlichster existenzieller Ängste – vermutete Untreue der Verlobten, Wegfall des potenziellen Schwiegersohns und Entwertung der Tochter durch vorehelichen Geschlechtsverkehr – an ebenjenen Richter wendet, anstatt auf Eves Wort zu vertrauen. Und da landen wir direkt bei der #metoo-Debatte. Kein Fall von Machtmissbrauch oder Übergriffigkeit entsteht in einem Vakuum, sondern gesellschaftliche Strukturen schaffen überhaupt erst die Voraussetzungen dafür. Um ein Verhalten wie das des Dorfrichters Adam gesellschaftsübergreifend als »Kavaliersdelikt« totzuschweigen, braucht es Nutznießer, braucht es täglich eingeübte, anerkannte Machtstrukturen. Diese treten in einer männerdominierten Gesellschaft beispielhaft im Umgang mit Frauen zutage, aber der darunterliegende Konflikt betrifft nicht nur das Machtgefälle zwischen den Geschlechtern, sondern zeugt von einem tiefer gehenden Ungleichgewicht, das alle Mitglieder einer Gesellschaft einschließt.
Eve als Stellvertreterin einer marginalisierten, stimmlosen und lange schweigend gehaltenen Gruppe hat am Ende des Stücks die Chance auf eine wirkliche Emanzipation. Anstatt dass sie sich mit Ruprecht versöhnt, der sie zuvor als »Metze« beschimpft hat, wünsche ich mir eine Eve, die den Gerichtsprozess in die eigenen Hände nimmt, Adam aus seinem Paradies vertreibt und – um zum Ende noch mal das biblische Motiv zu bemühen – den ganzen Göttern, Halbgöttern und ihren Verehrern die Äpfel der Vernunft körbeweise um die Ohren pfeffert. Fangt erst mal selbst zu denken an, bevor ihr den, der für euch das Denken übernommen hat, kritisiert.
Laura Linnenbaum, geboren 1986, inszeniert u. a. am Theater Bonn, am Staatstheater Kassel und am Berliner Ensemble. Jüngst wurde sie für die Uraufführung von Ibrahim Amirs »Homohalal« am Staatsschauspiel Dresden von der Fachzeitschrift Theater heute als Regisseurin des Jahres nominiert. Sie ist außerdem Kuratorin und künstlerische Leiterin des Festivals Unentdeckte Nachbarn in Chemnitz, das mit dem Chemnitzer Friedenspreis ausgezeichnet wurde.
Der Text ist erschienen im Spielzeitheft 2018/19.
Geschrieben wurde Kleists »Zerbrochner Krug« in den Nachwehen der Französischen Revolution als eine Parabel staatlicher Willkür. Wie des Kaisers neue Kleider hat Adam seine Staatswürde schon zu Anbeginn des Prozesses eingebüßt, und anstelle der standesgemäßen Perücke bedeckt weißer Puder nur behelfsmäßig die Wunde auf seinem Kopf. Bloßgelegt klafft sie wie die Lücke zwischen Recht und Gerechtigkeit: »Ich kann Recht so jetzt, jetzo so urteilen.« Der Krug, eigentliches Objekt der Gerichtsverhandlung, der die Geschichte der niederländischen Staatsgründung in Bildern auf sich trug und jegliche Bedrohungen von außen – politische Unruhen, Besitzerwechsel und sogar Feuer – überstanden hatte, wurde mit nur einem Stoß von einem Staatsdiener zerbrochen. Somit bietet auch die »Vertreibung Adams aus dem Paradies« eine Folie zum Erkennen eines weltlichen Problems: Dorfrichter Adam avanciert zum Stellvertreter eines potenziell korrupten Staatsapparats, seine Vertreibung stellt die Sanierung eines maroden Rechtssystems zumindest in Aussicht.
Es ist ein lustvoller Vorgang, eine derart ziegenbockige und ramponierte Autoritätsperson über die Bühne zu jagen und sie trotzdem fast bis zum Schluss über das Schicksal des zunächst Angeklagten walten zu lassen. Aber Kleist schließt mit der Frage nach Legitimität von Macht auch merkwürdig aktuell an heutige Debatten an. Eve als Betroffene sexueller Gewalt landet unfreiwillig vor Gericht und kann sich keiner helfenden Obrigkeit anvertrauen, denn der Täter wird nicht nur von höheren Instanzen gedeckt, er ist die höhere Instanz in persona. Der Machtmissbrauch Adams führt aber nicht nur zur Frage nach der Verteilung von Macht auf die Geschlechter in einer patriarchal organisierten Gesellschaft, sondern zu einer grundsätzlicheren Hinterfragung von Machtstrukturen. Denn Kleist erzählt nicht nur die Geschichte des unrechten Richters Adam, der seine Amtsgewalt missbraucht. Er erzählt auch von einer Dorf- und Familiengemeinschaft, die sich unter dem Druck unterschiedlichster existenzieller Ängste – vermutete Untreue der Verlobten, Wegfall des potenziellen Schwiegersohns und Entwertung der Tochter durch vorehelichen Geschlechtsverkehr – an ebenjenen Richter wendet, anstatt auf Eves Wort zu vertrauen. Und da landen wir direkt bei der #metoo-Debatte. Kein Fall von Machtmissbrauch oder Übergriffigkeit entsteht in einem Vakuum, sondern gesellschaftliche Strukturen schaffen überhaupt erst die Voraussetzungen dafür. Um ein Verhalten wie das des Dorfrichters Adam gesellschaftsübergreifend als »Kavaliersdelikt« totzuschweigen, braucht es Nutznießer, braucht es täglich eingeübte, anerkannte Machtstrukturen. Diese treten in einer männerdominierten Gesellschaft beispielhaft im Umgang mit Frauen zutage, aber der darunterliegende Konflikt betrifft nicht nur das Machtgefälle zwischen den Geschlechtern, sondern zeugt von einem tiefer gehenden Ungleichgewicht, das alle Mitglieder einer Gesellschaft einschließt.
Eve als Stellvertreterin einer marginalisierten, stimmlosen und lange schweigend gehaltenen Gruppe hat am Ende des Stücks die Chance auf eine wirkliche Emanzipation. Anstatt dass sie sich mit Ruprecht versöhnt, der sie zuvor als »Metze« beschimpft hat, wünsche ich mir eine Eve, die den Gerichtsprozess in die eigenen Hände nimmt, Adam aus seinem Paradies vertreibt und – um zum Ende noch mal das biblische Motiv zu bemühen – den ganzen Göttern, Halbgöttern und ihren Verehrern die Äpfel der Vernunft körbeweise um die Ohren pfeffert. Fangt erst mal selbst zu denken an, bevor ihr den, der für euch das Denken übernommen hat, kritisiert.
Laura Linnenbaum, geboren 1986, inszeniert u. a. am Theater Bonn, am Staatstheater Kassel und am Berliner Ensemble. Jüngst wurde sie für die Uraufführung von Ibrahim Amirs »Homohalal« am Staatsschauspiel Dresden von der Fachzeitschrift Theater heute als Regisseurin des Jahres nominiert. Sie ist außerdem Kuratorin und künstlerische Leiterin des Festivals Unentdeckte Nachbarn in Chemnitz, das mit dem Chemnitzer Friedenspreis ausgezeichnet wurde.
Der Text ist erschienen im Spielzeitheft 2018/19.
Besetzung
Walter, GerichtsratFlorian Lange
Adam, DorfrichterAndreas Grothgar
Licht, SchreiberRainer Philippi
Frau Marthe RullMichaela Steiger
Eve, ihre TochterCennet Rüya Voß
RuprechtHenning Flüsloh
Frau BrigitteMarkus Danzeisen
RegieLaura Linnenbaum
BühneValentin Baumeister
KostümUlrike Obermüller
MusikJustus Wilcken
DramaturgieFelicitas Zürcher
Dauer
2 Stunden — keine Pause