Fleisch
Wie Shakespeare das Theater mit dem Denken zusammenführt — von Per Leo
Dass Shakespeares »Kaufmann von Venedig« ein Stück sei, das eine judenfeindliche Haltung zeige, ist ein immer wiederkehrender Vorwurf gegen Autor und Text. Der Shakespeare-Experte Harold Bloom schrieb gar, man müsse »blind, taub und dumm« sein, um nicht zu sehen, dass das Stück »zutiefst antisemitisch« sei. Der Historiker und Schriftsteller Per Leo kommt in seinem Essay zu dem Schluss, dass eine solche Eindeutigkeit in der Lesart zu kurz greift, und entdeckt im »Kaufmann« ein raffiniertes Spiel um Deutungen und Zuschreibungen.
Manche Fragen sind so aufdringlich, dass sich der Alltagsverstand ihrer kaum erwehren kann, auch wenn keine Antwort ihn weiterbringt. Ob »Der Kaufmann von Venedig« ein antisemitisches Stück sei, ist so eine Frage. Seit zweihundert Jahren wird sie immer wieder gestellt, und bis heute sagen die einen: Ja. Die anderen: Nein. Am Ende, so diese, sei Shylock doch gar kein schlechter Kerl, ein sehr menschlicher zumindest, in seinem Opfer tragisch, in seinem Pathos ergreifend, in der Trauer um seine Tochter bedauernswert; wer einen Juden so zeichne, der gebe ihn nicht der Verachtung preis. Doch, so jene, genau das habe Shakespeare getan, als er aus Shylock einen widerlichen Charakter machte, in seiner Geldgier abstoßend, in seinem Hass verbohrt, in seiner Buchstabentreue unbarmherzig; wer einen Juden so entwerfe, der reduziere ihn auf ein negatives Stereotyp.
Beide meinen es gut. Die einen wollen die Juden vor Shakespeare schützen, die anderen Shakespeare vor dem Judenhass. Doch verfehlen beider Haltungen nicht nur die Mehrdeutigkeit von Shakespeares Kunst. Sie bleiben, bittere Ironie, trotz bester Absichten auch deshalb so unbefriedigend, weil sich in ihrer Eindeutigkeit der fixe Blick des Antisemiten spiegelt. Sie sind besessen vom jüdischen Charakter. Darum kommen sie auch nie über die Aufzählung von Eigenschaftswörtern hinaus. So wie der Antisemit um die Frage kreist, was die Juden für ein Volk sind, wollen die Ankläger und Verteidiger Shakespeares immer nur das eine wissen: Was ist Shylock für ein Mensch?
Nun, sagt der Verstand, sobald er zu Hause angekommen ist, sich den Staub vom Rock geschüttelt und eine Zigarette angezündet hat, Shylock ist gar kein Mensch. Er ist eine Figur.
Beckmesser!
Zugegeben, die Unterscheidung klingt pedantisch. Aber nur solange man sie nicht begriffen hat. Menschen sind als Individuen vorstellbar, Figuren sind es nicht. Figuren existieren nur in Verhältnissen, sie sind, mit einem Wort, immer schon Teil eines Spiels. Im Schach darf nur der Springer springen, aber er darf auch nur springen – wohin, das bestimmt die Stellung der anderen Figuren. Gleiches gilt im Ballspiel. Und es gilt in den beiden Arten des Spiels, die es erlauben, den »Juden« zur Figur zu machen: in der Literatur, insbesondere im Theater, und im Denken. Shakespeare führt sie im »Kaufmann von Venedig« virtuos zusammen.
Als Denkfigur ist der »Jude« mit dem Christentum entstanden. Die ersten Christen hätten gar nicht wissen können, wer sie sind, ohne sich – gedanklich! – ins Verhältnis zu den Juden zu setzen. Wir sind, so sagten sie, keine Juden; aber nicht so eindeutig wie Männer keine Frauen sind. Christen sind verwandelte Juden. Sie sind Zeugen desselben Geschehens, aber sie deuten es anders. Sie lesen dieselben Schriften, aber verstehen sie anders. Und warum? Weil ein höherer Geist sie ergriffen hat. Die Juden dagegen sind blind, weil sie nur glauben können, was sie sehen. Dass diese nach ihrem Urheber, dem Apostel Paulus, »paulinisch« genannte Unterscheidung über den Kontext ihrer Entstehung hinaus Sinn stiften konnte, liegt an ihrer Asymmetrie. Sie trennt ja nicht einfach das »Fleisch« vom »Geist«, sondern behauptet, dass ein und dasselbe Fleisch beseelt oder unbeseelt vom Geist der Liebe sein kann. So ist mit einer großen Antwort ein steter Quell kleiner Fragen in die Welt gesetzt: Wer bist du? Einer, der nur mit den Augen liest? Nur mit den Sinnen begehrt? Nur für den Geldbeutel arbeitet? Hast du einen »jüdischen« Geist – oder doch ein Herz?
Shakespeare bringt diese Denkfigur auf die Bühne, als er Portia bei ihrer Ankunft im Gerichtssaal die kleine Frage stellen lässt: »Wer ist der Kaufmann hier und wer der Jude?« Für den Zuschauer klingt sie rhetorisch, denn er weiß ja, hier sitzt Antonio, dort Shylock. Doch bald muss er erkennen, dass der Unterschied zwischen dem Geist des Händlers, der sich aus Freundschaft verschuldet hat, und dem des Wucherers, der aus Rachsucht auf der Erfüllung eines grausamen Vertrags besteht, ein Schein ist. Hinter der vermeintlichen Eindeutigkeit der Frage verbirgt sich abgründige Ironie. Denn erst als die Konturen dieser und aller anderen Unterscheidungen bis zur Unkenntlichkeit verwischt sind, löst sich der Knoten der Handlung. Portia rettet Antonio in einem Taumel der Unordnung, konträr zur gerade eingenommenen Rolle. Eben noch eine Frau in Belmont, erscheint sie nun als Mann in Venedig. Scheinbar ein Rechtsgelehrter, hält sie ein Plädoyer, das nicht dem Recht Genüge tut, sondern an die Barmherzigkeit appelliert. Scheinbar Christin, erwirkt sie schließlich ein unbarmherziges Urteil gegen den Juden, indem sie den Vertrag noch »jüdischer« interpretiert als er selbst.
Aber kann die Denkfigur denn nicht auch antisemitisch ausgelegt werden? Selbstverständlich. Nämlich dann, wenn die Abwehr des »inneren Juden« in die Frage gewendet wird, ob reale Juden eine Existenzberechtigung unter Nichtjuden haben. Und, ist das Stück in diesem Sinn antisemitisch? Der Ideenhistoriker Leo würde sagen: Eher nicht. In England gab es seit der Vertreibung von 1290 praktisch keine Juden mehr. Shakespeare machte sich einfach einen Spaß daraus, die paulinische Unterscheidung zu setzen und sie zugleich durchzustreichen. Der Ideenhistoriker Nirenberg, dessen Forschungen Leo viel verdankt, sagt dagegen: Vielleicht schon. Man braucht schließlich keine Juden, um die ultimativ mörderische Frage zu stellen: Kann ein Jude je aufhören, Jude zu sein? Und auf diese Frage gibt Shakespeare wenn auch keine Antwort, so doch einen Hinweis. Shylocks Tochter Jessica, die als »schöne Jüdin« zum Spiel mit der Denkfigur gehört, flieht vor ihrem Vater in die Arme des Christen Lorenzo. Im letzten Akt, als Musikanten kommen, um die Herzen der Liebenden in Gleichklang zu versetzen, stehen alle Zeichen auf Harmonie. Doch Jessica verharrt in Melancholie: »Nie macht die liebliche Musik mich lustig.« Aber genauso kategorisch entgegnet Lorenzo ihr, dass »nichts so stöckisch, hart und voller Wut, das nicht Musik auf eine Zeit verwandelt«. Wessen Urteil gilt? Wir erfahren es nicht. — erschienen im Spielzeitheft 2017/18
Per Leo, geb. 1972, ist Historiker und Schriftsteller. Er hat mit einer Arbeit über charakterologisches Denken und Judenfeindschaft in Deutschland promoviert. 2014 erschien sein Debütroman »Flut und Boden«, ein Versuch, in unverbrauchter Sprache über Nazis zu schreiben. Leo lebt als freier Autor und Produzent von Schatullen in Berlin.
Manche Fragen sind so aufdringlich, dass sich der Alltagsverstand ihrer kaum erwehren kann, auch wenn keine Antwort ihn weiterbringt. Ob »Der Kaufmann von Venedig« ein antisemitisches Stück sei, ist so eine Frage. Seit zweihundert Jahren wird sie immer wieder gestellt, und bis heute sagen die einen: Ja. Die anderen: Nein. Am Ende, so diese, sei Shylock doch gar kein schlechter Kerl, ein sehr menschlicher zumindest, in seinem Opfer tragisch, in seinem Pathos ergreifend, in der Trauer um seine Tochter bedauernswert; wer einen Juden so zeichne, der gebe ihn nicht der Verachtung preis. Doch, so jene, genau das habe Shakespeare getan, als er aus Shylock einen widerlichen Charakter machte, in seiner Geldgier abstoßend, in seinem Hass verbohrt, in seiner Buchstabentreue unbarmherzig; wer einen Juden so entwerfe, der reduziere ihn auf ein negatives Stereotyp.
Beide meinen es gut. Die einen wollen die Juden vor Shakespeare schützen, die anderen Shakespeare vor dem Judenhass. Doch verfehlen beider Haltungen nicht nur die Mehrdeutigkeit von Shakespeares Kunst. Sie bleiben, bittere Ironie, trotz bester Absichten auch deshalb so unbefriedigend, weil sich in ihrer Eindeutigkeit der fixe Blick des Antisemiten spiegelt. Sie sind besessen vom jüdischen Charakter. Darum kommen sie auch nie über die Aufzählung von Eigenschaftswörtern hinaus. So wie der Antisemit um die Frage kreist, was die Juden für ein Volk sind, wollen die Ankläger und Verteidiger Shakespeares immer nur das eine wissen: Was ist Shylock für ein Mensch?
Nun, sagt der Verstand, sobald er zu Hause angekommen ist, sich den Staub vom Rock geschüttelt und eine Zigarette angezündet hat, Shylock ist gar kein Mensch. Er ist eine Figur.
Beckmesser!
Zugegeben, die Unterscheidung klingt pedantisch. Aber nur solange man sie nicht begriffen hat. Menschen sind als Individuen vorstellbar, Figuren sind es nicht. Figuren existieren nur in Verhältnissen, sie sind, mit einem Wort, immer schon Teil eines Spiels. Im Schach darf nur der Springer springen, aber er darf auch nur springen – wohin, das bestimmt die Stellung der anderen Figuren. Gleiches gilt im Ballspiel. Und es gilt in den beiden Arten des Spiels, die es erlauben, den »Juden« zur Figur zu machen: in der Literatur, insbesondere im Theater, und im Denken. Shakespeare führt sie im »Kaufmann von Venedig« virtuos zusammen.
Als Denkfigur ist der »Jude« mit dem Christentum entstanden. Die ersten Christen hätten gar nicht wissen können, wer sie sind, ohne sich – gedanklich! – ins Verhältnis zu den Juden zu setzen. Wir sind, so sagten sie, keine Juden; aber nicht so eindeutig wie Männer keine Frauen sind. Christen sind verwandelte Juden. Sie sind Zeugen desselben Geschehens, aber sie deuten es anders. Sie lesen dieselben Schriften, aber verstehen sie anders. Und warum? Weil ein höherer Geist sie ergriffen hat. Die Juden dagegen sind blind, weil sie nur glauben können, was sie sehen. Dass diese nach ihrem Urheber, dem Apostel Paulus, »paulinisch« genannte Unterscheidung über den Kontext ihrer Entstehung hinaus Sinn stiften konnte, liegt an ihrer Asymmetrie. Sie trennt ja nicht einfach das »Fleisch« vom »Geist«, sondern behauptet, dass ein und dasselbe Fleisch beseelt oder unbeseelt vom Geist der Liebe sein kann. So ist mit einer großen Antwort ein steter Quell kleiner Fragen in die Welt gesetzt: Wer bist du? Einer, der nur mit den Augen liest? Nur mit den Sinnen begehrt? Nur für den Geldbeutel arbeitet? Hast du einen »jüdischen« Geist – oder doch ein Herz?
Shakespeare bringt diese Denkfigur auf die Bühne, als er Portia bei ihrer Ankunft im Gerichtssaal die kleine Frage stellen lässt: »Wer ist der Kaufmann hier und wer der Jude?« Für den Zuschauer klingt sie rhetorisch, denn er weiß ja, hier sitzt Antonio, dort Shylock. Doch bald muss er erkennen, dass der Unterschied zwischen dem Geist des Händlers, der sich aus Freundschaft verschuldet hat, und dem des Wucherers, der aus Rachsucht auf der Erfüllung eines grausamen Vertrags besteht, ein Schein ist. Hinter der vermeintlichen Eindeutigkeit der Frage verbirgt sich abgründige Ironie. Denn erst als die Konturen dieser und aller anderen Unterscheidungen bis zur Unkenntlichkeit verwischt sind, löst sich der Knoten der Handlung. Portia rettet Antonio in einem Taumel der Unordnung, konträr zur gerade eingenommenen Rolle. Eben noch eine Frau in Belmont, erscheint sie nun als Mann in Venedig. Scheinbar ein Rechtsgelehrter, hält sie ein Plädoyer, das nicht dem Recht Genüge tut, sondern an die Barmherzigkeit appelliert. Scheinbar Christin, erwirkt sie schließlich ein unbarmherziges Urteil gegen den Juden, indem sie den Vertrag noch »jüdischer« interpretiert als er selbst.
Aber kann die Denkfigur denn nicht auch antisemitisch ausgelegt werden? Selbstverständlich. Nämlich dann, wenn die Abwehr des »inneren Juden« in die Frage gewendet wird, ob reale Juden eine Existenzberechtigung unter Nichtjuden haben. Und, ist das Stück in diesem Sinn antisemitisch? Der Ideenhistoriker Leo würde sagen: Eher nicht. In England gab es seit der Vertreibung von 1290 praktisch keine Juden mehr. Shakespeare machte sich einfach einen Spaß daraus, die paulinische Unterscheidung zu setzen und sie zugleich durchzustreichen. Der Ideenhistoriker Nirenberg, dessen Forschungen Leo viel verdankt, sagt dagegen: Vielleicht schon. Man braucht schließlich keine Juden, um die ultimativ mörderische Frage zu stellen: Kann ein Jude je aufhören, Jude zu sein? Und auf diese Frage gibt Shakespeare wenn auch keine Antwort, so doch einen Hinweis. Shylocks Tochter Jessica, die als »schöne Jüdin« zum Spiel mit der Denkfigur gehört, flieht vor ihrem Vater in die Arme des Christen Lorenzo. Im letzten Akt, als Musikanten kommen, um die Herzen der Liebenden in Gleichklang zu versetzen, stehen alle Zeichen auf Harmonie. Doch Jessica verharrt in Melancholie: »Nie macht die liebliche Musik mich lustig.« Aber genauso kategorisch entgegnet Lorenzo ihr, dass »nichts so stöckisch, hart und voller Wut, das nicht Musik auf eine Zeit verwandelt«. Wessen Urteil gilt? Wir erfahren es nicht. — erschienen im Spielzeitheft 2017/18
Per Leo, geb. 1972, ist Historiker und Schriftsteller. Er hat mit einer Arbeit über charakterologisches Denken und Judenfeindschaft in Deutschland promoviert. 2014 erschien sein Debütroman »Flut und Boden«, ein Versuch, in unverbrauchter Sprache über Nazis zu schreiben. Leo lebt als freier Autor und Produzent von Schatullen in Berlin.
Besetzung
Antonio, der Kaufmann von VenedigAndreas Grothgar
Bassanio, sein Freund, ein Freier von PortiaSebastian Tessenow
GratianoFlorian Lange
SalerioAlexej Lochmann
SolanioAndrei Viorel Tacu
Lorenzo, verliebt in JessicaKilian Land
Shylock, ein JudeBurghart Klaußner
Lanzelot Gobbo, ein ClownMatthias Luckey
Portia, eine ErbinMinna Wündrich
Nerissa, ihre DienerinTanja Schleiff
Jessica, Shylocks TochterLou Strenger
RegieRoger Vontobel
BühneMuriel Gerstner
KostümTina Kloempken
MusikKeith O'Brien
LichtGerard Cleven
DramaturgieRobert Koall