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Ein Schloss? Viele Schlösser! Schlösser überall! — Heribert Prantl liest Kafka im Internetzeitalter
»Es war spät abends, als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schlossberg war nichts zu sehen, Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloss an.« So beginnt »Das Schloss«, Franz Kafkas Roman über den Landvermesser K. Das Schloss ist der Überwachungsapparat. Der Landvermesser K. weiß, als er ankommt, dass das Schloss da ist, obwohl er es erst einmal gar nicht sieht; er spürt es nur. Und später, als es Tag wird und er das Schloss sieht, wird es trotzdem nicht greifbar. Es gelingt nicht, dem Schloss nahe zu kommen, seine Ländereien lassen sich nicht vermessen, niemand weiß, wo der Anfang ist und das Ende. Was das Schloss tut, lässt sich nur ahnen, aber die Ahnungen sind so, dass man sich nicht mit ihm anlegen will. Was das Schloss eigentlich macht und wie es das macht, was es macht – wer weiß es? Man weiß nur, dass es da ist und dass es Macht hat und sich ihm alle beugen und will fahren. Es ist niemand da, der sich gegen diese Macht auflehnt – und wenn es einer tut, wird er von den anderen geächtet.
Bald hundert Jahre nach Kafka gibt es nicht nur ein Schloss. Es gibt viele Schlösser, und es gibt viele Schlösschen. Gemeinsam ist ihnen die Missachtung der Privatsphäre, gemeinsam sind ihnen die umfassende und ubiquitäre Kontrolle des Menschen und die Intransparenz des staatlichen und des kommerziellen Überwachungsapparats.
Privatsphäre ist im 21. Jahrhundert notleidend geworden. Sie ist ein Wort aus der Vergangenheit, ein Wort, so seltsam wie das Fernmeldegeheimnis, das aus einer Zeit stammt, als die Telefone noch Tischfernsprecher hießen und aus Bakelit gemacht wurden. Damals, in der frühen Bundesrepublik etwa, war das Fernmeldegeheimnis noch ein echtes Grundrecht. Es gilt heute nur noch dem Namen nach. Die Privatsphäre schrumpft, sie verhutzelt zu einem angeblich unzeitgemäßen Ding und sieht aus wie eine Dörrpflaume; informationstechnische Systeme trocknen sie aus, sie ergreifen Besitz vom beruflichen und vom privaten Alltag der Menschen.
All diese Systeme arbeiten nicht aus eigenem Antrieb; sie werden betrieben und sie werden gefüttert vom Staat und von der Privatwirtschaft. Viele Politiker*innen und Praktiker*innen der inneren Sicherheit, viele derjenigen, die zur Vorbeugung immer mehr Überwachung fordern, sind wenig schuldbewusst. Sie verweisen nicht nur auf die Terrorgefahr, sondern auf den Exhibitionismus der Handy- und Internetgesellschaft: Die Menschen, so sagen sie, wünschten es so. Sie wollten ja ganz offensichtlich gar nicht mehr unbeobachtet und unbelauscht sein. Eine Gesellschaft, die ihre Intimitäten öffentlich und überall in die Handys posaune, habe Fernmeldegeheimnis und sonstige Privatheiten längst aufgegeben.
Diese Betrachtungsweise ist nicht an den Haaren herbeigezogen. Es gibt ja nicht nur den US- und Geheimdienst-Orwell. Es gibt auch eine deutsche und eine internationale Orwellness. Diese Orwellness, diese Entblößungsgesellschaft, nutzt das Internet als Entblößungsmedium. Der Schutz der Grundrechte funktioniert offensichtlich nicht mehr gut. Das ist ein Befund, der einen zutiefst beunruhigt – es sei denn, man gehört zu den Phlegmatischen, die glauben, dass sie die Überwacherei nichts anginge, weil sie eh nichts zu verbergen hätten. Diese Leute halten die globale und umfassende Geheimdienstspionage, sie halten den umfassenden Zugriff der Internetkonzerne auf die privaten Geheimnisse für Montezumas Rache an der Internetgeneration.
In der neuen Überwachungswelt, von der etwa Edward Snowden seit Juni 2013 berichtet, sollen die umfassende Überwachung und der exzessive Einsatz digitaler Technologien die Bürger*innen vor dem Terrorismus schützen. In dieser neuen Welt wird daher die anlasslose staatliche Ausspähung der Kommunikation der Menschen zur Normalität. Informationelle Selbstbestimmung und Privatsphäre gibt es im Netz nicht mehr. Dort, wo der Staat nicht kontrolliert, tut es die Internetindustrie. Der Mensch wird rund um die Uhr fürsorglich kontrolliert. Die Kürzel der staatlichen und der kommerziellen Kontroll- und Überwachungsprogramme addieren sich zu einem Alphabet der Totalität. Würde jede dieser Überwachungsaktivitäten einen Pfeifton produzieren, die Menschen wären schon wahnsinnig geworden. Die Bürger*innen in Deutschland haben sich das alles bisher aus drei Gründen gefallen lassen. Erstens: weil die Politik die Angst vor der Terrorgefahr immer wieder beschwört und forciert, weshalb fast alles Billigung findet, was angeblich die Gefahr entschärfen kann. Zweitens: weil die Bürger* innen das Gros der Freiheitsbeschränkungen nicht spüren, die Eingriffe finden heimlich statt. Drittens: weil die Bürger*innen, zumal die deutschen, daran glauben, dass die höchsten Gerichte »es« im Notfall schon wieder richten werden. Das Wieder-Richten, das Zurücklenken in rechtsstaatliche Bahnen, funktioniert aber schon lange nicht mehr gut.
Die bürgerrechtlichen Besorgnisse sind aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden, als hätten sie sich nur bei denen partiell erhalten, die »Netzgemeinde« genannt werden. Man kann den Eindruck gewinnen, als würden von NSA & Co. nicht nur alle Daten abgesaugt, sondern auch alle Erinnerungen an den Machtmissbrauch.
Sicher: Es gibt eine gewisse Empörung über die digitale Inquisition. Sie ist nicht groß genug. Wenn sie nicht wächst, wird aus der Überwachung Gewohnheit. Dann kann es passieren, dass die Generation derer, die nach dem Jahrtausendwechsel geboren sind, die totale Kontrolle ihrer Kommunikation als normalen Preis empfindet, den man dem Internet zu entrichten hat. Dann sind wir alle der Landvermesser K.
Heribert Prantl ist Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung, er war 25 Jahre Chef des Ressorts Innenpolitik und ist jetzt Leiter des neu gegründeten Ressorts Meinung.
Der Text ist erschienen im Spielzeitheft 2018/19.
Bald hundert Jahre nach Kafka gibt es nicht nur ein Schloss. Es gibt viele Schlösser, und es gibt viele Schlösschen. Gemeinsam ist ihnen die Missachtung der Privatsphäre, gemeinsam sind ihnen die umfassende und ubiquitäre Kontrolle des Menschen und die Intransparenz des staatlichen und des kommerziellen Überwachungsapparats.
Privatsphäre ist im 21. Jahrhundert notleidend geworden. Sie ist ein Wort aus der Vergangenheit, ein Wort, so seltsam wie das Fernmeldegeheimnis, das aus einer Zeit stammt, als die Telefone noch Tischfernsprecher hießen und aus Bakelit gemacht wurden. Damals, in der frühen Bundesrepublik etwa, war das Fernmeldegeheimnis noch ein echtes Grundrecht. Es gilt heute nur noch dem Namen nach. Die Privatsphäre schrumpft, sie verhutzelt zu einem angeblich unzeitgemäßen Ding und sieht aus wie eine Dörrpflaume; informationstechnische Systeme trocknen sie aus, sie ergreifen Besitz vom beruflichen und vom privaten Alltag der Menschen.
All diese Systeme arbeiten nicht aus eigenem Antrieb; sie werden betrieben und sie werden gefüttert vom Staat und von der Privatwirtschaft. Viele Politiker*innen und Praktiker*innen der inneren Sicherheit, viele derjenigen, die zur Vorbeugung immer mehr Überwachung fordern, sind wenig schuldbewusst. Sie verweisen nicht nur auf die Terrorgefahr, sondern auf den Exhibitionismus der Handy- und Internetgesellschaft: Die Menschen, so sagen sie, wünschten es so. Sie wollten ja ganz offensichtlich gar nicht mehr unbeobachtet und unbelauscht sein. Eine Gesellschaft, die ihre Intimitäten öffentlich und überall in die Handys posaune, habe Fernmeldegeheimnis und sonstige Privatheiten längst aufgegeben.
Diese Betrachtungsweise ist nicht an den Haaren herbeigezogen. Es gibt ja nicht nur den US- und Geheimdienst-Orwell. Es gibt auch eine deutsche und eine internationale Orwellness. Diese Orwellness, diese Entblößungsgesellschaft, nutzt das Internet als Entblößungsmedium. Der Schutz der Grundrechte funktioniert offensichtlich nicht mehr gut. Das ist ein Befund, der einen zutiefst beunruhigt – es sei denn, man gehört zu den Phlegmatischen, die glauben, dass sie die Überwacherei nichts anginge, weil sie eh nichts zu verbergen hätten. Diese Leute halten die globale und umfassende Geheimdienstspionage, sie halten den umfassenden Zugriff der Internetkonzerne auf die privaten Geheimnisse für Montezumas Rache an der Internetgeneration.
In der neuen Überwachungswelt, von der etwa Edward Snowden seit Juni 2013 berichtet, sollen die umfassende Überwachung und der exzessive Einsatz digitaler Technologien die Bürger*innen vor dem Terrorismus schützen. In dieser neuen Welt wird daher die anlasslose staatliche Ausspähung der Kommunikation der Menschen zur Normalität. Informationelle Selbstbestimmung und Privatsphäre gibt es im Netz nicht mehr. Dort, wo der Staat nicht kontrolliert, tut es die Internetindustrie. Der Mensch wird rund um die Uhr fürsorglich kontrolliert. Die Kürzel der staatlichen und der kommerziellen Kontroll- und Überwachungsprogramme addieren sich zu einem Alphabet der Totalität. Würde jede dieser Überwachungsaktivitäten einen Pfeifton produzieren, die Menschen wären schon wahnsinnig geworden. Die Bürger*innen in Deutschland haben sich das alles bisher aus drei Gründen gefallen lassen. Erstens: weil die Politik die Angst vor der Terrorgefahr immer wieder beschwört und forciert, weshalb fast alles Billigung findet, was angeblich die Gefahr entschärfen kann. Zweitens: weil die Bürger* innen das Gros der Freiheitsbeschränkungen nicht spüren, die Eingriffe finden heimlich statt. Drittens: weil die Bürger*innen, zumal die deutschen, daran glauben, dass die höchsten Gerichte »es« im Notfall schon wieder richten werden. Das Wieder-Richten, das Zurücklenken in rechtsstaatliche Bahnen, funktioniert aber schon lange nicht mehr gut.
Die bürgerrechtlichen Besorgnisse sind aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden, als hätten sie sich nur bei denen partiell erhalten, die »Netzgemeinde« genannt werden. Man kann den Eindruck gewinnen, als würden von NSA & Co. nicht nur alle Daten abgesaugt, sondern auch alle Erinnerungen an den Machtmissbrauch.
Sicher: Es gibt eine gewisse Empörung über die digitale Inquisition. Sie ist nicht groß genug. Wenn sie nicht wächst, wird aus der Überwachung Gewohnheit. Dann kann es passieren, dass die Generation derer, die nach dem Jahrtausendwechsel geboren sind, die totale Kontrolle ihrer Kommunikation als normalen Preis empfindet, den man dem Internet zu entrichten hat. Dann sind wir alle der Landvermesser K.
Heribert Prantl ist Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung, er war 25 Jahre Chef des Ressorts Innenpolitik und ist jetzt Leiter des neu gegründeten Ressorts Meinung.
Der Text ist erschienen im Spielzeitheft 2018/19.
Besetzung
FriedaTabea Bettin
Die WirtinClaudia Hübbecker
Der VorsteherThomas Wittmann
Der LehrerFlorian Lange
PepiCennet Rüya Voß
BarnabasJonas Friedrich Leonhardi
RegieJan Philipp Gloger
BühneChristof Hetzer
KostümAnne Buffetrille
MusikKostia Rapoport
LichtBernd Purkrabek
DramaturgieFelicitas Zürcher
Dauer
2 Stunden, 30 Minuten — eine Pause