Kuvia
Der Autor sagt ich, und ich ist ein Mädchen — Marcus Gärtner über Wolfgang Herrndorfs letzten Text
»Daß Autoren nicht autobiographisch schreiben sollen, ist als Meinung so armselig wie das Gegenteil.« W. H.
In allen vier Romanen von Wolfgang Herrndorf gibt es einen Ich-Erzähler. Sogar im Wüstenthriller »Sand« taucht er unerwartet auf, in Kapitel 8: ein Kind. Das Buch spielt 1972. Herrndorf war in dem Jahr mit seinen Eltern in Nordafrika; es käme also hin. Bei seinen ersten beiden Romanen bereitet es noch weniger Mühe, den Erzähler mit dem Autor zu verwechseln. Eine Hauptperson, die ich sagt, wirkt nun mal wie die natürlichste Erzählsituation: Als Leser fühle ich mich zur Identifikation eingeladen, das erzählte Schicksal wird meines, die Reise meine Reise; gleichzeitig bin ich aber eben auch versucht, den Autor, der da ich schreibt, beim Wort zu nehmen, sofern der Text das irgend zulässt.
Nicht ganz so leicht fällt das, wenn der Erzähler so ein Unsympath ist wie der namen- und ziellose Neuberliner in Herrndorfs Debütroman »In Plüschgewittern«, der allerdings ein Leben führt, das dem des Autors wohl nicht ganz unähnlich ist. In »Tschick« ist uns der Erzähler dagegen sehr sympathisch. Es fühlt sich gut an, sich diesen Maik mit dem Gesicht und der Stimme seines Autors vorzustellen. Dass die beiden allerhand gemeinsam haben, lässt sich durch Lektüre von Herrndorfs Tagebuch »Arbeit und Struktur« leicht ermitteln: der Lehrer, der Bumerangs baut, sportliche und zeichnerische Begabung, und wenn man verliebt ist, dann schwer und still. Wolfgang Herrndorfs Mutter erzählte mir die absurde Geschichte, Leser des Buches hätten sie nach ihren Aufenthalten in der Entzugsklinik befragt, so sehr waren sie überzeugt von ihrer strikt autobiografischen Lesart. In »Tschick« hat auch Isa Schmidt ihren ersten Auftritt. Wir sehen sie mit Maiks Augen: bedrohlich, schmutzig, ziemlich irre und sexuell so einschüchternd direkt. Aber dann verliebt er sich in sie. Allerdings benimmt sich das Objekt seines Begehrens nicht gerade wie ein Objekt. Isa ist so aktiv, wie Maik passiv ist. Herrndorf hat, schreibt er in »Arbeit und Struktur«, ein reales Vorbild für die Figur gehabt: eine Freundin, die ganz ähnlich hieß, voller »Naturkindhaftigkeit«, sie wohnte im Wald, und irgendwann verschwand sie, ohne eine Adresse zu hinterlassen. »Es waren nur ein paar Tage, die ich sie kannte. Ich glaube, die glücklichsten in meinem Leben.« Im Tagebuch klingt die Erinnerung an diese Freundin, als wären dies Passagen aus dem noch nicht begonnenen Isa-Text. Und tatsächlich, kurze Zeit nach einem Wiedersehen mit ihr notierte Herrndorf »Tschick-Fortsetzung aus Isas Perspektive angefangen« in sein Tagebuch.
»Bilder deiner großen Liebe«, dieser letzte, Fragment gebliebene Roman, erzählt nicht nur aus Isas Perspektive, sondern erneut in der ersten Person. Aber ich ist hier eben eine andere: ein Mädchen. Anfangs hatte Herrndorf den Text zwar aus einer Rahmenhandlung und Isas Tagebuch als zweiter Erzählebene kombinieren wollen, doch diese Distanzierungsgeste war schnell verworfen. Der Roman beginnt nun mit einem man, das von Erfahrungen des Verrücktseins spricht, wie Herrndorf sie selbst ja auch hatte – bis nach einer halben Seite aus man ich wird. Deutlicher als mit so einem Auftakt konnte Herrndorf es eigentlich nicht machen: Dieses ich teilen sich Autor und Heldin. Eine Heldin, die übrigens sagt: »Ich wollte ein Junge sein, solange ich denken kann.« Und über Maik urteilt: »Er sieht aus wie ich, wenn ich ein Junge wäre.« (Nebenbei: Wenn in »Tschick« Isas »wulstige Lippen« Erwähnung finden, kommen wahrscheinlich nicht nur mir Herrndorfs ziemlich androgyn wirkende Selbstporträts in den Sinn.) Verwischte Grenzen, wie in der Realität: Bei der Mitpatientin aus der Psychiatrie, der Herrndorf Isas Einbildung verdankt, den Lauf der Sonne beherrschen zu können, hat ihn die »starke Übereinstimmung des gegenseitig mitgeteilten Wahns« geradezu erschüttert.
Wenn männliche Autoren eine weibliche Perspektive einnehmen, machen sie sich damit heute schnell angreifbar, Jonathan Franzen und Jeffrey Eugenides können ein Lied davon singen. Der ihrem Mädchenkörper so kritisch gegenüberstehenden Isa nimmt man ihre Weiblichkeit aber voll und ganz ab, ich habe zumindest noch keine abweichenden Stimmen vernommen, dabei steckt in der Figur doch so viel von ihrem Autor. Vielleicht gerade deshalb.
Ein du gibt es übrigens auch, an so prominenter Stelle, dass man es leicht übersieht, nämlich im Titel. »Bilder deiner großen Liebe«, das ist übernommen aus einem finnischen Nachtgruß, von dem Isas Mutter in dem Buch einmal ein Stück zitiert (warum sie ihrer Tochter auf Finnisch Gute Nacht wünscht, bleibt unerklärt). »Hyvää yötä, kauniita unia, laivoja ja junia, oman kullan kuvia« lässt sich übersetzen mit »Gute Nacht, träum was Schönes, von Schiffen und Zügen, von Bildern deiner großen Liebe«. »Ich träume von Schiffen und Zügen«, sagt Isa. Ein weiterer Hinweis darauf, wie sehr sich ich und du in diesem Buch in fließendem Übergang befinden. Dass Autoren nicht autobiografisch schreiben sollen, ist als Meinung eben so armselig wie das Gegenteil.
Marcus Gärtner ist Verlagsleiter Programmentwicklung beim Rowohlt Verlag und war langjähriger Lektor des Autors Wolfgang Herrndorf.
Der Text ist erschienen im Spielzeitheft 2018/19.
In allen vier Romanen von Wolfgang Herrndorf gibt es einen Ich-Erzähler. Sogar im Wüstenthriller »Sand« taucht er unerwartet auf, in Kapitel 8: ein Kind. Das Buch spielt 1972. Herrndorf war in dem Jahr mit seinen Eltern in Nordafrika; es käme also hin. Bei seinen ersten beiden Romanen bereitet es noch weniger Mühe, den Erzähler mit dem Autor zu verwechseln. Eine Hauptperson, die ich sagt, wirkt nun mal wie die natürlichste Erzählsituation: Als Leser fühle ich mich zur Identifikation eingeladen, das erzählte Schicksal wird meines, die Reise meine Reise; gleichzeitig bin ich aber eben auch versucht, den Autor, der da ich schreibt, beim Wort zu nehmen, sofern der Text das irgend zulässt.
Nicht ganz so leicht fällt das, wenn der Erzähler so ein Unsympath ist wie der namen- und ziellose Neuberliner in Herrndorfs Debütroman »In Plüschgewittern«, der allerdings ein Leben führt, das dem des Autors wohl nicht ganz unähnlich ist. In »Tschick« ist uns der Erzähler dagegen sehr sympathisch. Es fühlt sich gut an, sich diesen Maik mit dem Gesicht und der Stimme seines Autors vorzustellen. Dass die beiden allerhand gemeinsam haben, lässt sich durch Lektüre von Herrndorfs Tagebuch »Arbeit und Struktur« leicht ermitteln: der Lehrer, der Bumerangs baut, sportliche und zeichnerische Begabung, und wenn man verliebt ist, dann schwer und still. Wolfgang Herrndorfs Mutter erzählte mir die absurde Geschichte, Leser des Buches hätten sie nach ihren Aufenthalten in der Entzugsklinik befragt, so sehr waren sie überzeugt von ihrer strikt autobiografischen Lesart. In »Tschick« hat auch Isa Schmidt ihren ersten Auftritt. Wir sehen sie mit Maiks Augen: bedrohlich, schmutzig, ziemlich irre und sexuell so einschüchternd direkt. Aber dann verliebt er sich in sie. Allerdings benimmt sich das Objekt seines Begehrens nicht gerade wie ein Objekt. Isa ist so aktiv, wie Maik passiv ist. Herrndorf hat, schreibt er in »Arbeit und Struktur«, ein reales Vorbild für die Figur gehabt: eine Freundin, die ganz ähnlich hieß, voller »Naturkindhaftigkeit«, sie wohnte im Wald, und irgendwann verschwand sie, ohne eine Adresse zu hinterlassen. »Es waren nur ein paar Tage, die ich sie kannte. Ich glaube, die glücklichsten in meinem Leben.« Im Tagebuch klingt die Erinnerung an diese Freundin, als wären dies Passagen aus dem noch nicht begonnenen Isa-Text. Und tatsächlich, kurze Zeit nach einem Wiedersehen mit ihr notierte Herrndorf »Tschick-Fortsetzung aus Isas Perspektive angefangen« in sein Tagebuch.
»Bilder deiner großen Liebe«, dieser letzte, Fragment gebliebene Roman, erzählt nicht nur aus Isas Perspektive, sondern erneut in der ersten Person. Aber ich ist hier eben eine andere: ein Mädchen. Anfangs hatte Herrndorf den Text zwar aus einer Rahmenhandlung und Isas Tagebuch als zweiter Erzählebene kombinieren wollen, doch diese Distanzierungsgeste war schnell verworfen. Der Roman beginnt nun mit einem man, das von Erfahrungen des Verrücktseins spricht, wie Herrndorf sie selbst ja auch hatte – bis nach einer halben Seite aus man ich wird. Deutlicher als mit so einem Auftakt konnte Herrndorf es eigentlich nicht machen: Dieses ich teilen sich Autor und Heldin. Eine Heldin, die übrigens sagt: »Ich wollte ein Junge sein, solange ich denken kann.« Und über Maik urteilt: »Er sieht aus wie ich, wenn ich ein Junge wäre.« (Nebenbei: Wenn in »Tschick« Isas »wulstige Lippen« Erwähnung finden, kommen wahrscheinlich nicht nur mir Herrndorfs ziemlich androgyn wirkende Selbstporträts in den Sinn.) Verwischte Grenzen, wie in der Realität: Bei der Mitpatientin aus der Psychiatrie, der Herrndorf Isas Einbildung verdankt, den Lauf der Sonne beherrschen zu können, hat ihn die »starke Übereinstimmung des gegenseitig mitgeteilten Wahns« geradezu erschüttert.
Wenn männliche Autoren eine weibliche Perspektive einnehmen, machen sie sich damit heute schnell angreifbar, Jonathan Franzen und Jeffrey Eugenides können ein Lied davon singen. Der ihrem Mädchenkörper so kritisch gegenüberstehenden Isa nimmt man ihre Weiblichkeit aber voll und ganz ab, ich habe zumindest noch keine abweichenden Stimmen vernommen, dabei steckt in der Figur doch so viel von ihrem Autor. Vielleicht gerade deshalb.
Ein du gibt es übrigens auch, an so prominenter Stelle, dass man es leicht übersieht, nämlich im Titel. »Bilder deiner großen Liebe«, das ist übernommen aus einem finnischen Nachtgruß, von dem Isas Mutter in dem Buch einmal ein Stück zitiert (warum sie ihrer Tochter auf Finnisch Gute Nacht wünscht, bleibt unerklärt). »Hyvää yötä, kauniita unia, laivoja ja junia, oman kullan kuvia« lässt sich übersetzen mit »Gute Nacht, träum was Schönes, von Schiffen und Zügen, von Bildern deiner großen Liebe«. »Ich träume von Schiffen und Zügen«, sagt Isa. Ein weiterer Hinweis darauf, wie sehr sich ich und du in diesem Buch in fließendem Übergang befinden. Dass Autoren nicht autobiografisch schreiben sollen, ist als Meinung eben so armselig wie das Gegenteil.
Marcus Gärtner ist Verlagsleiter Programmentwicklung beim Rowohlt Verlag und war langjähriger Lektor des Autors Wolfgang Herrndorf.
Der Text ist erschienen im Spielzeitheft 2018/19.