Das Notebook als Hausaltar
Der in New York lebende Philosoph Boris Groys und der Dramaturg Carl Hegemann führen seit Jahren Gespräche mit oft überraschenden Fragestellungen. Vor dem Hintergrund
aktueller Entwicklungen nehmen sie einen technologisch hochgerüsteten Feudalismus und die Rückkehr calvinistischer Ethik in den Blick.
aktueller Entwicklungen nehmen sie einen technologisch hochgerüsteten Feudalismus und die Rückkehr calvinistischer Ethik in den Blick.
I. Das Virus geht viral
Hegemann — Auf einmal befinden wir uns inmitten einer globalen Seuche, gegen die es noch kein Mittel gibt und die unser Leben stark verändert. Hier fürchten viele, ein erneuter Lockdown würde zu einem irreversiblen Niedergang des gesamten Wirtschafts- und Sozialsystems führen.
Groys — Nein, der findet ohnehin schon statt. Durch Corona wird nur eine Entwicklung beschleunigt, die wir schon in den letzten 20 Jahren beobachten konnten: den Niedergang der klassischen Wirtschaft, wie sie sich zum Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts formiert hat. In Deutschland spürt man es vielleicht nicht so deutlich, aber in Amerika ist dieser Untergang unübersehbar. Ein Unternehmen nach dem anderen wurde geschlossen, geschlossen, geschlossen, oder es wurde nach China verlagert oder wohin auch immer. Auf jeden Fall war die traditionelle Wirtschaft schon vor dem Virus halbtot, genauso übrigens wie die Universitäten, die meistens verschuldet sind und deren Studenten auch alle verschuldet sind und wie die Museen, die zuletzt vor allem Ausstellungen über Mode oder Fußball gemacht haben. Das alles geht unter, unter, unter. Was wir jetzt sehen, ist lediglich die Beschleunigung von dem, was schon die ganze Zeit stattgefunden hat. Das letzte Jahrzehnt hat die größte Verlagerung des Eigentums und des Reichtums in der Geschichte der Menschheit hervorgebracht, die Verlagerung von der alten Ökonomie zu den sogenannten Tech-Corporations, zu Firmen wie Apple, Facebook und Microsoft.
Hegemann — Also zur digitalen Technologie, die es dir z. B. ermöglicht, deine Seminare auch in Zeiten von Corona abzuhalten. Als international gut vernetzter Akteur profitierst du doch von dieser neuen Ökonomie?
Groys — Ja, vielleicht. Aber ich war schon vor der digitalen Wende bekannt. Du kannst bei Google nur nach dem fragen, was schon bekannt ist. Alles wird tautologisch. Das Ende der traditionellen Wirtschaft ist auch das Ende der traditionellen Kultur. Stattdessen haben wir eine neue Kultur, die Onlinekultur, die Kultur der Verbreitung dessen, was immer schon da war.
Hegemann — Die körperliche Distanz, die das Virus erzwingt, wirkt jedenfalls wie eine riesige Marketingveranstaltung für das Internet.
Groys — Ja, aber es ist noch mehr. Das Virus ist ja genau das, was diese Internetkultur immer als ein Ideal betrachtet hat. Wenn man kunstinteressierte Leute fragte, was sie tun wollen, dann haben sie immer gesagt:
Hegemann — Viral gehen.
Groys — Viral gehen, ein virales Video machen, einen viralen Text schreiben. Für die neue Internetkultur, bezeichnet das Wort Virus ein kulturelles Ideal, und dieses Ideal gibt es schon, seit man in der Moderne begann, wie Tolstoi oder Malewitsch Kunst und Kultur als Formen bakterieller Infektion zu verstehen. Und nun kommt das Coronavirus als Apotheose der Viralität. Es kommt hier tatsächlich zu einer intimen Einheit, Kollaboration und Symbiose von Internet und Virus. Corona ist wirklich das Königsvirus. Es trägt die Krone im Namen. Das Virus ist viral geworden. Keiner spricht mehr über Lady Gaga, wir sprechen nur über das Virus, es ist der Star unserer Internetkultur geworden. Weil es unsere Körper krank machen kann, halten wir uns das Virus vom Leibe und verlegen unsere Kontakte ins Internet, aber im Internet gibt es nur ein zentrales Thema: das Virus. Wir schützen unseren Körper vor dem Virus, und das hat zur Folge, dass uns das Virus auf der Ebene des Geistes total infiziert. Das ist die Realität.
Hegemann — Mittels künstlicher Intelligenz und Algorithmen verbreitet sich auch die privat und staatlich betriebene potenziell unbegrenzte Überwachung aller Menschen, die einen Netzzugang haben. Gibt es einen Zusammenhang zwischen den neuen Formen der digitalen Überwachung und der Spiritualisierungstendenz, die du gerade beschrieben hast?
Groys — Es gibt einen entscheidenden Konflikt unseres Zeitalters, den schon Marx herausgestellt hat, das ist der Konflikt zwischen dem globalen Charakter der kapitalistischen Wirtschaft und dem lokalen Charakter der Politik. Marx zog die Konsequenz aus diesem Problem, indem er die Internationale organisieren wollte. Und jetzt haben wir das gleiche Problem, aber auf einer ganz anderen historischen und technologischen Ebene: Die globale Wirtschaft basiert heute auf dem Internet bzw. den großen Internetgesellschaften wie Facebook und Google, während die Nationalstaaten noch auf der traditionellen Ökonomie des letzten Jahrhunderts basieren. Jetzt, wo die traditionelle Ökonomie kollabiert, wird sich der Konflikt zwischen der regionalen Politik der Nationalstaaten und der global operierenden Internetwirtschaft verschärfen. Und ich denke, dass in dieser Situation die regionale Politik, d. h. der Nationalismus, bessere Chancen hat, diesen Konflikt für sich zu entscheiden, als die global vernetzte Wirtschaft.
Hegemann — Eine nationalistische Politik, wie sie Trump ja schon länger praktiziert, könnte angesichts der Erfahrungen mit der Coronakrise zum allgemeinen Modell werden. Schließung der Grenzen, nationale Interessenpolitik und Protektion statt Globalisierung?
Groys — Historisch war es schon immer so, dass die Globalisierung von vielen als eine Art Infektion, die die nationalen Immunsysteme durchbricht, empfunden wurde, als dekadent und krank. Man wollte deshalb die Immunsysteme stärken und das Volk gesund halten. Dieser Gegensatz gesund versus infiziert durchzieht das Denken der Moderne, und das gegenwärtige Denken erst recht. Wenn ein Virus durch seine Verbreitungswege, also durch Globalisierung, Massenmobilität und Internet plötzlich in hohem Maße ansteckend wirkt, dann müssen auch die Abwehr- und Immunisierungskräfte gestärkt werden. D. h. die Nationalstaaten müssen versuchen, diese globale Infektion durch das Internet unter ihre lokale Kontrolle zu bringen. Das wird aber wahrscheinlich nur sehr wenigen Staaten gelingen: Amerika und China sind die aussichtsreichsten Kandidaten, vielleicht auch Russland, wo man ja schon an einem lokalen
Internet arbeitet. Und die rechten Tendenzen, die wir in vielen Staaten seit längerem beobachten können, dürften durch die neue Situation verstärkt werden.
Hegemann — Statt Grenzen sprengender Solidarisierung angesichts einer Katastrophe, die alle betrifft, blinder Glaube an die Kraft der Nation und der nationalen Führer?
Groys — Diese Entsolidarisierung kommt auch daher, dass der Einzelne glaubt, dass er schneller und besser allein vorankommt als gemeinsam mit anderen, die er aus Pflichtgefühl mitschleppen muss. Das individuelle Konkurrenzdenken wird als wirkungsvoller und zeitgemäßer empfunden. Und genauso werden auch viele Nationen denken: Wir schaffen es besser alleine als mit den anderen. So wie die Engländer.
Hegemann — Solidarität ist Selbstmord – ist diese Einsicht nicht längst herrschende Ideologie?
Groys — Das ist nicht nur Ideologie. Das ist Realität. Wir sind eine Konkurrenzgesellschaft. Überall. Nicht nur am Markt. Und wer diese Konkurrenz nicht durchsteht, hat schon verloren.
Hegemann — Aber jetzt in der Krise, zumindest sah es am Anfang so aus, zeigte sich doch, dass längst vergessene Tugenden reaktiviert werden können, wenn sie für das Überleben der Gesellschaft wichtig erscheinen: gegenseitige Hilfe, Rücksicht auf Schwächere, Einschränkungen persönlicher Freiheit. Plötzlich schien Solidarität möglich.
Groys — Ja, aber das galt nur für sehr kurze Zeit. Die jungen Leute fragten sich bald, warum sie in ihrer Freiheit und ihren Bedürfnissen eingeschränkt werden, obwohl ihr eigenes Risiko gering ist. Dass es geschieht, damit alte Menschen, die keiner mehr braucht, noch ein bisschen länger überleben, schien ihnen an den Haaren herbeigezogen. Und es entspricht auch nicht dem, was man ihnen bisher beigebracht hat. Ich fürchte, dass es diese Solidarität nicht wirklich gibt. Die meisten Menschen akzeptieren die staatlichen Maßnahmen und tun, was von ihnen verlangt wird, aber nicht aus Solidarität und Menschlichkeit, sondern weil sie das Chaos fürchten, das kommt, wenn der Staat wackelt. Und zwar zu Recht.
Hegemann — Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass viele, auch gerade junge Leute, wirklich Angst hatten, anderen zu schaden, wenn sie nicht aufpassen. Sie wollten nicht schuld sein, dass jemand stirbt, weil sie die Abstandsregeln nicht einhalten. Fürsorglichkeit und Aufmerksamkeit für andere gab es und gibt es immer noch.
Groys — Also Carl, selbstverständlich gehe auch ich davon aus, dass die meisten Menschen nett sind. Und dass sie moralisch sind und ihre Nächsten achten und lieben usw. Ich will die Menschheit nicht schlecht reden. Ich denke aber marxistisch und nicht psychologisch. Ich spreche nicht darüber, wie die Menschen sind, denn sie sind meistens nett. Ich spreche über die Mechanismen der ökonomischen und politischen Selektion, die Menschen ganz unabhängig von ihren persönlichen Eigenschaften nach oben spült oder fallen lässt. Ich spreche darüber, wie die ökonomische und politische Logik sich entwickelt und nicht über die einzelnen Menschen und auch nicht über die Menschheit. Die Menschheit insgesamt ist sicher viel besser als das System, unter dem diese Menschheit leben muss.
Groys — Nein, der findet ohnehin schon statt. Durch Corona wird nur eine Entwicklung beschleunigt, die wir schon in den letzten 20 Jahren beobachten konnten: den Niedergang der klassischen Wirtschaft, wie sie sich zum Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts formiert hat. In Deutschland spürt man es vielleicht nicht so deutlich, aber in Amerika ist dieser Untergang unübersehbar. Ein Unternehmen nach dem anderen wurde geschlossen, geschlossen, geschlossen, oder es wurde nach China verlagert oder wohin auch immer. Auf jeden Fall war die traditionelle Wirtschaft schon vor dem Virus halbtot, genauso übrigens wie die Universitäten, die meistens verschuldet sind und deren Studenten auch alle verschuldet sind und wie die Museen, die zuletzt vor allem Ausstellungen über Mode oder Fußball gemacht haben. Das alles geht unter, unter, unter. Was wir jetzt sehen, ist lediglich die Beschleunigung von dem, was schon die ganze Zeit stattgefunden hat. Das letzte Jahrzehnt hat die größte Verlagerung des Eigentums und des Reichtums in der Geschichte der Menschheit hervorgebracht, die Verlagerung von der alten Ökonomie zu den sogenannten Tech-Corporations, zu Firmen wie Apple, Facebook und Microsoft.
Hegemann — Also zur digitalen Technologie, die es dir z. B. ermöglicht, deine Seminare auch in Zeiten von Corona abzuhalten. Als international gut vernetzter Akteur profitierst du doch von dieser neuen Ökonomie?
Groys — Ja, vielleicht. Aber ich war schon vor der digitalen Wende bekannt. Du kannst bei Google nur nach dem fragen, was schon bekannt ist. Alles wird tautologisch. Das Ende der traditionellen Wirtschaft ist auch das Ende der traditionellen Kultur. Stattdessen haben wir eine neue Kultur, die Onlinekultur, die Kultur der Verbreitung dessen, was immer schon da war.
Hegemann — Die körperliche Distanz, die das Virus erzwingt, wirkt jedenfalls wie eine riesige Marketingveranstaltung für das Internet.
Groys — Ja, aber es ist noch mehr. Das Virus ist ja genau das, was diese Internetkultur immer als ein Ideal betrachtet hat. Wenn man kunstinteressierte Leute fragte, was sie tun wollen, dann haben sie immer gesagt:
Hegemann — Viral gehen.
Groys — Viral gehen, ein virales Video machen, einen viralen Text schreiben. Für die neue Internetkultur, bezeichnet das Wort Virus ein kulturelles Ideal, und dieses Ideal gibt es schon, seit man in der Moderne begann, wie Tolstoi oder Malewitsch Kunst und Kultur als Formen bakterieller Infektion zu verstehen. Und nun kommt das Coronavirus als Apotheose der Viralität. Es kommt hier tatsächlich zu einer intimen Einheit, Kollaboration und Symbiose von Internet und Virus. Corona ist wirklich das Königsvirus. Es trägt die Krone im Namen. Das Virus ist viral geworden. Keiner spricht mehr über Lady Gaga, wir sprechen nur über das Virus, es ist der Star unserer Internetkultur geworden. Weil es unsere Körper krank machen kann, halten wir uns das Virus vom Leibe und verlegen unsere Kontakte ins Internet, aber im Internet gibt es nur ein zentrales Thema: das Virus. Wir schützen unseren Körper vor dem Virus, und das hat zur Folge, dass uns das Virus auf der Ebene des Geistes total infiziert. Das ist die Realität.
Hegemann — Mittels künstlicher Intelligenz und Algorithmen verbreitet sich auch die privat und staatlich betriebene potenziell unbegrenzte Überwachung aller Menschen, die einen Netzzugang haben. Gibt es einen Zusammenhang zwischen den neuen Formen der digitalen Überwachung und der Spiritualisierungstendenz, die du gerade beschrieben hast?
Groys — Es gibt einen entscheidenden Konflikt unseres Zeitalters, den schon Marx herausgestellt hat, das ist der Konflikt zwischen dem globalen Charakter der kapitalistischen Wirtschaft und dem lokalen Charakter der Politik. Marx zog die Konsequenz aus diesem Problem, indem er die Internationale organisieren wollte. Und jetzt haben wir das gleiche Problem, aber auf einer ganz anderen historischen und technologischen Ebene: Die globale Wirtschaft basiert heute auf dem Internet bzw. den großen Internetgesellschaften wie Facebook und Google, während die Nationalstaaten noch auf der traditionellen Ökonomie des letzten Jahrhunderts basieren. Jetzt, wo die traditionelle Ökonomie kollabiert, wird sich der Konflikt zwischen der regionalen Politik der Nationalstaaten und der global operierenden Internetwirtschaft verschärfen. Und ich denke, dass in dieser Situation die regionale Politik, d. h. der Nationalismus, bessere Chancen hat, diesen Konflikt für sich zu entscheiden, als die global vernetzte Wirtschaft.
Hegemann — Eine nationalistische Politik, wie sie Trump ja schon länger praktiziert, könnte angesichts der Erfahrungen mit der Coronakrise zum allgemeinen Modell werden. Schließung der Grenzen, nationale Interessenpolitik und Protektion statt Globalisierung?
Groys — Historisch war es schon immer so, dass die Globalisierung von vielen als eine Art Infektion, die die nationalen Immunsysteme durchbricht, empfunden wurde, als dekadent und krank. Man wollte deshalb die Immunsysteme stärken und das Volk gesund halten. Dieser Gegensatz gesund versus infiziert durchzieht das Denken der Moderne, und das gegenwärtige Denken erst recht. Wenn ein Virus durch seine Verbreitungswege, also durch Globalisierung, Massenmobilität und Internet plötzlich in hohem Maße ansteckend wirkt, dann müssen auch die Abwehr- und Immunisierungskräfte gestärkt werden. D. h. die Nationalstaaten müssen versuchen, diese globale Infektion durch das Internet unter ihre lokale Kontrolle zu bringen. Das wird aber wahrscheinlich nur sehr wenigen Staaten gelingen: Amerika und China sind die aussichtsreichsten Kandidaten, vielleicht auch Russland, wo man ja schon an einem lokalen
Internet arbeitet. Und die rechten Tendenzen, die wir in vielen Staaten seit längerem beobachten können, dürften durch die neue Situation verstärkt werden.
Hegemann — Statt Grenzen sprengender Solidarisierung angesichts einer Katastrophe, die alle betrifft, blinder Glaube an die Kraft der Nation und der nationalen Führer?
Groys — Diese Entsolidarisierung kommt auch daher, dass der Einzelne glaubt, dass er schneller und besser allein vorankommt als gemeinsam mit anderen, die er aus Pflichtgefühl mitschleppen muss. Das individuelle Konkurrenzdenken wird als wirkungsvoller und zeitgemäßer empfunden. Und genauso werden auch viele Nationen denken: Wir schaffen es besser alleine als mit den anderen. So wie die Engländer.
Hegemann — Solidarität ist Selbstmord – ist diese Einsicht nicht längst herrschende Ideologie?
Groys — Das ist nicht nur Ideologie. Das ist Realität. Wir sind eine Konkurrenzgesellschaft. Überall. Nicht nur am Markt. Und wer diese Konkurrenz nicht durchsteht, hat schon verloren.
Hegemann — Aber jetzt in der Krise, zumindest sah es am Anfang so aus, zeigte sich doch, dass längst vergessene Tugenden reaktiviert werden können, wenn sie für das Überleben der Gesellschaft wichtig erscheinen: gegenseitige Hilfe, Rücksicht auf Schwächere, Einschränkungen persönlicher Freiheit. Plötzlich schien Solidarität möglich.
Groys — Ja, aber das galt nur für sehr kurze Zeit. Die jungen Leute fragten sich bald, warum sie in ihrer Freiheit und ihren Bedürfnissen eingeschränkt werden, obwohl ihr eigenes Risiko gering ist. Dass es geschieht, damit alte Menschen, die keiner mehr braucht, noch ein bisschen länger überleben, schien ihnen an den Haaren herbeigezogen. Und es entspricht auch nicht dem, was man ihnen bisher beigebracht hat. Ich fürchte, dass es diese Solidarität nicht wirklich gibt. Die meisten Menschen akzeptieren die staatlichen Maßnahmen und tun, was von ihnen verlangt wird, aber nicht aus Solidarität und Menschlichkeit, sondern weil sie das Chaos fürchten, das kommt, wenn der Staat wackelt. Und zwar zu Recht.
Hegemann — Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass viele, auch gerade junge Leute, wirklich Angst hatten, anderen zu schaden, wenn sie nicht aufpassen. Sie wollten nicht schuld sein, dass jemand stirbt, weil sie die Abstandsregeln nicht einhalten. Fürsorglichkeit und Aufmerksamkeit für andere gab es und gibt es immer noch.
Groys — Also Carl, selbstverständlich gehe auch ich davon aus, dass die meisten Menschen nett sind. Und dass sie moralisch sind und ihre Nächsten achten und lieben usw. Ich will die Menschheit nicht schlecht reden. Ich denke aber marxistisch und nicht psychologisch. Ich spreche nicht darüber, wie die Menschen sind, denn sie sind meistens nett. Ich spreche über die Mechanismen der ökonomischen und politischen Selektion, die Menschen ganz unabhängig von ihren persönlichen Eigenschaften nach oben spült oder fallen lässt. Ich spreche darüber, wie die ökonomische und politische Logik sich entwickelt und nicht über die einzelnen Menschen und auch nicht über die Menschheit. Die Menschheit insgesamt ist sicher viel besser als das System, unter dem diese Menschheit leben muss.
II. Individualismus und Nationalismus
Hegemann — Der Glaube an den Erfolg sozialer oder sozialistischer Bewegungen scheint dir als unideologischer Marxist ziemlich abhanden gekommen zu sein.
Groys — Wenn man sich die politischen Entwicklungen ansieht, stellt man fest, dass sich alle Parteien, die sich für Solidarität, Kollektivität und Teilen eingesetzt haben, also kommunistische, sozialistische und sogar linksliberale Parteien, im Niedergang befinden. D. h. die Menschen sind nett, aber Funktionsmechanismen des politischen und ökonomischen Systems führen dazu, dass spätestens nach dem Ende der Sowjetunion, alles was nach Solidarität und globaler Verantwortung roch, ganz schnell verschwunden ist, während Parteien, die auf nationale Interessen setzen, wachsen. Dieser Prozess kann nicht moralisch oder psychologisch erklärt werden. Es sind außerpsychologische Mechanismen, die hier wirken.
Hegemann — Es sind ökonomische Zwänge, gegen die kein guter Wille hilft. Dass Bernie Sanders wieder nicht Präsidentschaftskandidat der Demokraten geworden ist, hängt sicher auch mit diesen Mechanismen zusammen.
Groys — Die Amerikaner waren schon immer ziemlich immun gegen sozialistische und sozialdemokratische Ideen. Dass Bernie Sanders überhaupt irgendwelche Unterstützung gefunden hat, ist ein Wunder. Und dieses Wunder hat natürlich damit zu tun, dass der sich schon lange abzeichnende Untergang der Mittelschicht in Amerika immer schneller voranschreitet. Die Leute haben plötzlich bemerkt, dass sie ihre Medizin nicht bezahlen können, dass sie den Unterricht ihrer Kinder nicht bezahlen können, das College nicht bezahlen können und ihre Wohnungen nicht bezahlen können. Das ist das Problem der neuen Klasse der Armen: Die neuen Armen sind nicht arm, weil sie ungebildet sind – sie sind gebildet, und sie sind trotzdem arm. Sie haben Marx gelesen und Piketty, manche haben sogar Adorno gelesen. Aber in ihrer Situation können sie nichts damit anfangen. Sie finden keinen Arbeitsplatz, müssen aber trotzdem ihre Ausbildungskosten zahlen. Sie haben riesige Schulden und hohe Ansprüche. Vor allem diese Leute finden Sanders toll. Sie sind eine Minderheit innerhalb der demokratischen Partei und also umso mehr eine Minderheit in ganz Amerika. Solche Minderheiten gibt es auch in Deutschland, in Frankreich, in Spanien und überall. Aber die Parteien, denen sie ihre Stimme geben, sind nicht zu vergleichen mit den früheren kommunistischen oder sozialistischen Volksparteien, die selbst regieren oder an der Macht teilhaben konnten. Die gibt es nicht mehr.
Hegemann — Stattdessen gewinnen weltweit rechte Parteien an Einfluss. Globale Märkte, Internetkonzerne, auch internationale Institutionen wie die WHO werden durch nationale Interessenpolitik begrenzt. War Trump wirklich der erste, der die Zeichen der Zeit erkannt hat?
Groys — Das zeichnete sich alles schon lange ab, aber erst in der Beschleunigung durch die Coronakrise wird es für jeden sichtbar. Und das Internet wird jetzt als das erfahrbar, was es ist: ein Ort, an dem eine neuartige Konkurrenz stattfindet, nämlich die Konkurrenz um die Verbreitung, nicht die Konkurrenz um die Verbreitung von Produkten, sondern um die pure Verbreitung als solche. Es überlebt derjenige, der sich am besten verbreitet.
Hegemann — Der am viralsten ist.
Groys — Ja. Um nichts anders geht es. Der Horizont der Verbreitung scheint unbegrenzt zu sein, aber wir nehmen an der Konkurrenz der Verbreitung teil. Und diese Konkurrenz erzeugt einen Effekt in der Realität: Wer hat mehr Likes, was für ein Bild oder Text hat mehr Klicks? Und wir haben sehr gute Chancen, diesen Wettbewerb zu verlieren. Ich meine, wir als Menschen, denn die meisten Likes kriegen Videos mit Katzen und Hunden sowie mit Wetterkatastrophen, Flugzeugabstürze usw.
Hegemann — Ich will nochmal auf die ökonomischen Hintergründe zurückkommen. Wenn die, wie man immer sagt, kulturtragende Mittelschicht kein Geld mehr hat und für den Markt uninteressant wird, und es nur noch eine sehr kleine Oberschicht gibt, und ansonsten viele verschuldete Arbeitslose und prekarisierte Dienstleister mit Minimallöhnen, wie kann der Markt dann noch wachsen oder überhaupt existieren? Jetzt verschenkt Trump ja schon »persönlich« Geld, um die Kaufkraft zu stärken.
Groys — Ich denke, wir kommen zurück zu feudalen Verhältnissen. Ich habe dir vielleicht schon erzählt, dass ich eine Art Vision hatte, als ich im Taxi von Dubai nach Abu Dhabi gefahren bin. Auf der rechten Seite des Highways ist ein Streifen grüne, bebaute Landschaft und dahinter der Ozean, und auf der anderen Seite der Straße ist sozusagen Arabien. Auf der einen Seite leben alle Reichen, auch viele Ausländer, auf der anderen Seite leben alle anderen. Nur die auf der Ozeanseite haben de facto Rechte. Die Menschen auf der andern Seite brauchen eine spezielle Erlaubnis, sonst dürfen sie die Straße nicht überqueren. Sie sind völlig abhängig von den Entscheidungen, die auf der anderen Seite getroffen werden. Sie haben keine einklagbaren Rechte. Da habe ich gedacht, das ist die Gesellschaft der Zukunft. Auch deshalb, weil ethnische und religiöse Faktoren in diesem Modell gar keine Rolle spielen. Die Leute, die reich sind, oder Spezialisten oder Unternehmer oder Touristen, mischen sich mit der feudalen Aristokratie der arabischen Staaten. Wenn man auf die andere Seite sieht, leben da auch viele Ausländer, die in Saudi-Arabien Geld verdienen wollen. Also alle Armen sind total gemischt, und alle Reichen sind total gemischt. Die Grenze zwischen ihnen entsteht aus der Kombination von Spätkapitalismus und Feudalismus. Als ich das gesehen habe, wurde mir klar, dass populäre Filme wie »Star Wars« oder »Game of Thrones« nach diesem Muster aufgebaut sind. Diese Filme spielen alle mit einer Kombination aus kapitalistischen Technologien und feudalen Verhältnissen. Sie sind das imaginäre Abbild dieser Straße. Da ist mir plötzlich das Realitätspotenzial dieser Filme klar geworden.
Hegemann — Das Entstehen eines technologisch hochgerüsteten Feudalismus, der Internationales und Lokales verbindet, ist für dich wahrscheinlicher, als die Entwicklung zu einer digitalen Planwirtschaft, mit umfassender Überwachung auf globaler Ebene, deren dynamische Entwicklung wir in China und Kalifornien gleichermaßen sehen können? Siehst du keine totalitären Tendenzen?
Groys — Ich denke, es kommt ein neuer Feudalismus. Totalitarismus hat etwas mit Totalität zu tun, aber Totalität interessiert keinen. Abkapselung und Vereinzelung ist die Tendenz, politisch und privat.
Hegemann — Im Feudalsystem hatten Könige, Fürsten und Lehnsherren auch eine Verpflichtung gegenüber Untertanen und Leibeigenen. Für die freien Arbeiter trägt aber in dieser Konstruktion niemand die Verantwortung. Ist das nicht ein Feudalismus auf wackligen Beinen?
Groys — Diese Verantwortung wird zurzeit noch assoziiert mit der Staatsmacht, mit dem sozialistischem Dirigismus, mit dem Kommunismus, mit allem, was man nicht mehr will. Bisher hat die kapitalistische Konkurrenzwirtschaft sozialdemokratische und sogar sozialistische Praktiken zur Ruhigstellung der Armen und Unterprivilegierten akzeptiert. Diese Arbeitsteilung verschwindet aber gerade. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die letzten Sozialstaaten kollabieren. Und dann müssen die Reichen beginnen, selbst über das Soziale nachzudenken, weil sie in einer sozial zerfallenden Umgebung nicht wohnen wollen und können.
Hegemann — Aber ein feudalistisches System mit einer geregelten Verteilung der Verantwortung für das Gemeinwesen, das letztlich nach dem Modell einer Familie funktioniert, widerspricht deiner Vorstellung von den egoistischen Einzelkämpfern, die glauben, sich allein am besten durchsetzen zu können. Ich sehe da keine gemütlichen feudalen Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse, das sind atomisierte Individuen, die die Brutalität des Marktes genießen können oder für alternativlos halten. Das erinnert eher an den Wilden Westen, aber der war kein Feudalismus, sondern ein anarchischer oder archaischer Gewalt- und Willkürzusammenhang in einem nahezu rechtsfreien Raum.
Groys — Aber, dass eine Minderheit die Chance für sich sieht, in einer radikalen gewalttätigen Konkurrenz zu Ruhm, Geld und Macht zu kommen, ist nie auszuschließen. Und wenn es passiert, bleibt dem großen Rest der Bevölkerung nichts anderes übrig, als sich den starken Persönlichkeiten anzuschließen. Parteien spielen keine Rolle mehr, man fixiert sich auf Individuen, auf Führer, auf Leader, die erfolgversprechend sind, wie Trump, Bolsonaro oder Johnson, und wahrscheinlich auch Macron.
Hegemann — Hitler war erst der Anfang?
Groys — Er ist der Anfang.
Groys — Wenn man sich die politischen Entwicklungen ansieht, stellt man fest, dass sich alle Parteien, die sich für Solidarität, Kollektivität und Teilen eingesetzt haben, also kommunistische, sozialistische und sogar linksliberale Parteien, im Niedergang befinden. D. h. die Menschen sind nett, aber Funktionsmechanismen des politischen und ökonomischen Systems führen dazu, dass spätestens nach dem Ende der Sowjetunion, alles was nach Solidarität und globaler Verantwortung roch, ganz schnell verschwunden ist, während Parteien, die auf nationale Interessen setzen, wachsen. Dieser Prozess kann nicht moralisch oder psychologisch erklärt werden. Es sind außerpsychologische Mechanismen, die hier wirken.
Hegemann — Es sind ökonomische Zwänge, gegen die kein guter Wille hilft. Dass Bernie Sanders wieder nicht Präsidentschaftskandidat der Demokraten geworden ist, hängt sicher auch mit diesen Mechanismen zusammen.
Groys — Die Amerikaner waren schon immer ziemlich immun gegen sozialistische und sozialdemokratische Ideen. Dass Bernie Sanders überhaupt irgendwelche Unterstützung gefunden hat, ist ein Wunder. Und dieses Wunder hat natürlich damit zu tun, dass der sich schon lange abzeichnende Untergang der Mittelschicht in Amerika immer schneller voranschreitet. Die Leute haben plötzlich bemerkt, dass sie ihre Medizin nicht bezahlen können, dass sie den Unterricht ihrer Kinder nicht bezahlen können, das College nicht bezahlen können und ihre Wohnungen nicht bezahlen können. Das ist das Problem der neuen Klasse der Armen: Die neuen Armen sind nicht arm, weil sie ungebildet sind – sie sind gebildet, und sie sind trotzdem arm. Sie haben Marx gelesen und Piketty, manche haben sogar Adorno gelesen. Aber in ihrer Situation können sie nichts damit anfangen. Sie finden keinen Arbeitsplatz, müssen aber trotzdem ihre Ausbildungskosten zahlen. Sie haben riesige Schulden und hohe Ansprüche. Vor allem diese Leute finden Sanders toll. Sie sind eine Minderheit innerhalb der demokratischen Partei und also umso mehr eine Minderheit in ganz Amerika. Solche Minderheiten gibt es auch in Deutschland, in Frankreich, in Spanien und überall. Aber die Parteien, denen sie ihre Stimme geben, sind nicht zu vergleichen mit den früheren kommunistischen oder sozialistischen Volksparteien, die selbst regieren oder an der Macht teilhaben konnten. Die gibt es nicht mehr.
Hegemann — Stattdessen gewinnen weltweit rechte Parteien an Einfluss. Globale Märkte, Internetkonzerne, auch internationale Institutionen wie die WHO werden durch nationale Interessenpolitik begrenzt. War Trump wirklich der erste, der die Zeichen der Zeit erkannt hat?
Groys — Das zeichnete sich alles schon lange ab, aber erst in der Beschleunigung durch die Coronakrise wird es für jeden sichtbar. Und das Internet wird jetzt als das erfahrbar, was es ist: ein Ort, an dem eine neuartige Konkurrenz stattfindet, nämlich die Konkurrenz um die Verbreitung, nicht die Konkurrenz um die Verbreitung von Produkten, sondern um die pure Verbreitung als solche. Es überlebt derjenige, der sich am besten verbreitet.
Hegemann — Der am viralsten ist.
Groys — Ja. Um nichts anders geht es. Der Horizont der Verbreitung scheint unbegrenzt zu sein, aber wir nehmen an der Konkurrenz der Verbreitung teil. Und diese Konkurrenz erzeugt einen Effekt in der Realität: Wer hat mehr Likes, was für ein Bild oder Text hat mehr Klicks? Und wir haben sehr gute Chancen, diesen Wettbewerb zu verlieren. Ich meine, wir als Menschen, denn die meisten Likes kriegen Videos mit Katzen und Hunden sowie mit Wetterkatastrophen, Flugzeugabstürze usw.
Hegemann — Ich will nochmal auf die ökonomischen Hintergründe zurückkommen. Wenn die, wie man immer sagt, kulturtragende Mittelschicht kein Geld mehr hat und für den Markt uninteressant wird, und es nur noch eine sehr kleine Oberschicht gibt, und ansonsten viele verschuldete Arbeitslose und prekarisierte Dienstleister mit Minimallöhnen, wie kann der Markt dann noch wachsen oder überhaupt existieren? Jetzt verschenkt Trump ja schon »persönlich« Geld, um die Kaufkraft zu stärken.
Groys — Ich denke, wir kommen zurück zu feudalen Verhältnissen. Ich habe dir vielleicht schon erzählt, dass ich eine Art Vision hatte, als ich im Taxi von Dubai nach Abu Dhabi gefahren bin. Auf der rechten Seite des Highways ist ein Streifen grüne, bebaute Landschaft und dahinter der Ozean, und auf der anderen Seite der Straße ist sozusagen Arabien. Auf der einen Seite leben alle Reichen, auch viele Ausländer, auf der anderen Seite leben alle anderen. Nur die auf der Ozeanseite haben de facto Rechte. Die Menschen auf der andern Seite brauchen eine spezielle Erlaubnis, sonst dürfen sie die Straße nicht überqueren. Sie sind völlig abhängig von den Entscheidungen, die auf der anderen Seite getroffen werden. Sie haben keine einklagbaren Rechte. Da habe ich gedacht, das ist die Gesellschaft der Zukunft. Auch deshalb, weil ethnische und religiöse Faktoren in diesem Modell gar keine Rolle spielen. Die Leute, die reich sind, oder Spezialisten oder Unternehmer oder Touristen, mischen sich mit der feudalen Aristokratie der arabischen Staaten. Wenn man auf die andere Seite sieht, leben da auch viele Ausländer, die in Saudi-Arabien Geld verdienen wollen. Also alle Armen sind total gemischt, und alle Reichen sind total gemischt. Die Grenze zwischen ihnen entsteht aus der Kombination von Spätkapitalismus und Feudalismus. Als ich das gesehen habe, wurde mir klar, dass populäre Filme wie »Star Wars« oder »Game of Thrones« nach diesem Muster aufgebaut sind. Diese Filme spielen alle mit einer Kombination aus kapitalistischen Technologien und feudalen Verhältnissen. Sie sind das imaginäre Abbild dieser Straße. Da ist mir plötzlich das Realitätspotenzial dieser Filme klar geworden.
Hegemann — Das Entstehen eines technologisch hochgerüsteten Feudalismus, der Internationales und Lokales verbindet, ist für dich wahrscheinlicher, als die Entwicklung zu einer digitalen Planwirtschaft, mit umfassender Überwachung auf globaler Ebene, deren dynamische Entwicklung wir in China und Kalifornien gleichermaßen sehen können? Siehst du keine totalitären Tendenzen?
Groys — Ich denke, es kommt ein neuer Feudalismus. Totalitarismus hat etwas mit Totalität zu tun, aber Totalität interessiert keinen. Abkapselung und Vereinzelung ist die Tendenz, politisch und privat.
Hegemann — Im Feudalsystem hatten Könige, Fürsten und Lehnsherren auch eine Verpflichtung gegenüber Untertanen und Leibeigenen. Für die freien Arbeiter trägt aber in dieser Konstruktion niemand die Verantwortung. Ist das nicht ein Feudalismus auf wackligen Beinen?
Groys — Diese Verantwortung wird zurzeit noch assoziiert mit der Staatsmacht, mit dem sozialistischem Dirigismus, mit dem Kommunismus, mit allem, was man nicht mehr will. Bisher hat die kapitalistische Konkurrenzwirtschaft sozialdemokratische und sogar sozialistische Praktiken zur Ruhigstellung der Armen und Unterprivilegierten akzeptiert. Diese Arbeitsteilung verschwindet aber gerade. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die letzten Sozialstaaten kollabieren. Und dann müssen die Reichen beginnen, selbst über das Soziale nachzudenken, weil sie in einer sozial zerfallenden Umgebung nicht wohnen wollen und können.
Hegemann — Aber ein feudalistisches System mit einer geregelten Verteilung der Verantwortung für das Gemeinwesen, das letztlich nach dem Modell einer Familie funktioniert, widerspricht deiner Vorstellung von den egoistischen Einzelkämpfern, die glauben, sich allein am besten durchsetzen zu können. Ich sehe da keine gemütlichen feudalen Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse, das sind atomisierte Individuen, die die Brutalität des Marktes genießen können oder für alternativlos halten. Das erinnert eher an den Wilden Westen, aber der war kein Feudalismus, sondern ein anarchischer oder archaischer Gewalt- und Willkürzusammenhang in einem nahezu rechtsfreien Raum.
Groys — Aber, dass eine Minderheit die Chance für sich sieht, in einer radikalen gewalttätigen Konkurrenz zu Ruhm, Geld und Macht zu kommen, ist nie auszuschließen. Und wenn es passiert, bleibt dem großen Rest der Bevölkerung nichts anderes übrig, als sich den starken Persönlichkeiten anzuschließen. Parteien spielen keine Rolle mehr, man fixiert sich auf Individuen, auf Führer, auf Leader, die erfolgversprechend sind, wie Trump, Bolsonaro oder Johnson, und wahrscheinlich auch Macron.
Hegemann — Hitler war erst der Anfang?
Groys — Er ist der Anfang.
III. Gott und Netz
Hegemann — Siehst du gesellschaftliche Tendenzen, die ein Korrektiv zur grassierenden Selbstvermarktung sein könnten?
Groys — Das nicht, aber ich beobachte schon das Aufkommen einer anderen Haltung. Ich sehe, dass die Menschen das Internet nicht nur zum Konsum und als Informationsmittel im Konkurrenzkampf nutzen, sondern als Mittel des Bekenntnisses. So wie in der Kirche beim Beichten. Ich denke, das ist ein verbreitetes Phänomen. Früher haben die Menschen Tagebücher geschrieben, und jetzt machen sie etwas Ähnliches massenhaft im Internet, sie sprechen mit Gott.
Hegemann — Das Notebook als Hausaltar?
Groys — Sie stellen ihre Fotos ins Netz, kommentieren sie auf ihren Pages, sie posten Unmengen an Informationen über sich, die niemanden interessieren. Aber das wiederum ist sehr interessant, denn die einzige Person, die sich wirklich für diese Fotos interessieren könnte, ist Gott. Denn Gott liebt alle, und er interessiert sich für alle Fotos und alle meine Gedanken.
Hegemann — Alles was wir tun, tun wir für einen unbekannten Betrachter, der wohlwollend auf uns blickt. Diese sinngebende Betrachtung wolltest du damals, nach dem Tod Gottes, an die Künstler weiterleiten. Aber heute müsste man den unbekannten Betrachter wohl eher mit den KI-basierten Datenerfassern in Kalifornien identifizieren, die von allen Menschen auf der Welt mehr Daten speichern und vernetzen können, als jeder noch so informierte Mensch.
Groys — Diese Daten werden nur gespeichert, um sie zu verkaufen an Firmen, die ihrerseits etwas verkaufen oder Institutionen, die uns überwachen oder politisch beeinflussen wollen. Aber es gibt in diesen Internetkonfessionen auch etwas, das nur für Gott lesbar ist, etwas das über das profane Interesse hinausgeht. Die User verhalten sich religiös. Denn sie vermissen jemanden, der sich für sie interessiert.
Hegemann — Das ist das Defizit dieser Gesellschaft. Das Interesse an Anderen beschränkt sich auf die Fragen: Was denkt er oder sie über mich? Und ist das, was er oder sie denkt, für mich von Vorteil oder schadet es?
Groys — Das stimmt hundertprozentig. Das ist das einzige, woran die Leute denken. Und deshalb versuchen sie, das zu kompensieren, indem sie jemanden imaginieren, Gott oder eine künstliche Intelligenz oder was auch immer, der sich vielleicht für sie interessieren könnte. Und das ist für sie genug Motivation, diesem unbekannten apokalyptischen transzendenten Betrachter darüber zu informieren, was sie gegessen, wen sie getroffen und was sie dabei gedacht haben.
Hegemann — Es muss offenbar immer eine transzendente Instanz geben, von der man glaubt, dass sie einem zusieht und der man sich offenbaren kann.
Groys — Wenn du mich fragst, in welcher Form Kultur oder Religion immer noch da sind, dann würde ich sagen, dass diese Form der ständige Versuch ist, sich jemanden vorzustellen, von dem man nicht weiß, wer er ist.
Hegemann — Und die andern User, die Kollegen, Freunde, Vorgesetzten, sind die Gemeinde?
Groys — Nein, nein, das sind all diejenigen, die man transzendieren will, von denen man ganz genau weiß, dass sie sich eigentlich nicht für einen interessieren.
Hegemann — Weil Interesse am Anderen in einer Konkurrenzgesellschaft eigentlich nicht vorgesehen ist. Man selbst interessiert sich ja auch für keinen.
Groys — Deshalb weiß man ja, dass sich die Anderen nicht für einen interessieren. Aber die Suche nach einem Interessenten, die Suche nach dem Gott bleibt, und diese Suche ist das, was uns immer noch in Bewegung versetzt und antreibt.
Hegemann — D. h. das Bedürfnis, dass andere sich für einen interessieren und dass man sich auch selbst für andere interessiert, ist nicht totzukriegen.
Groys — Es ist nicht totzukriegen. Du siehst ja, dass viele Leute ungeduldig werden, wenn man immer nur über das Virus spricht. Es gibt da einen regelrechten Neid, deshalb sagen sie, es ist nur ein gewöhnlicher Grippevirus und die Schutzmaßnahmen sind überzogen usw. Das ist auch ein Zeichen dafür, dass die Leute nicht wollen, dass man über das Virus spricht, sie wollen, dass man über sie spricht. Aber niemand spricht über sie, alle sprechen nur über das Virus. Dadurch fühlen sie sich beleidigt.
Groys — Das nicht, aber ich beobachte schon das Aufkommen einer anderen Haltung. Ich sehe, dass die Menschen das Internet nicht nur zum Konsum und als Informationsmittel im Konkurrenzkampf nutzen, sondern als Mittel des Bekenntnisses. So wie in der Kirche beim Beichten. Ich denke, das ist ein verbreitetes Phänomen. Früher haben die Menschen Tagebücher geschrieben, und jetzt machen sie etwas Ähnliches massenhaft im Internet, sie sprechen mit Gott.
Hegemann — Das Notebook als Hausaltar?
Groys — Sie stellen ihre Fotos ins Netz, kommentieren sie auf ihren Pages, sie posten Unmengen an Informationen über sich, die niemanden interessieren. Aber das wiederum ist sehr interessant, denn die einzige Person, die sich wirklich für diese Fotos interessieren könnte, ist Gott. Denn Gott liebt alle, und er interessiert sich für alle Fotos und alle meine Gedanken.
Hegemann — Alles was wir tun, tun wir für einen unbekannten Betrachter, der wohlwollend auf uns blickt. Diese sinngebende Betrachtung wolltest du damals, nach dem Tod Gottes, an die Künstler weiterleiten. Aber heute müsste man den unbekannten Betrachter wohl eher mit den KI-basierten Datenerfassern in Kalifornien identifizieren, die von allen Menschen auf der Welt mehr Daten speichern und vernetzen können, als jeder noch so informierte Mensch.
Groys — Diese Daten werden nur gespeichert, um sie zu verkaufen an Firmen, die ihrerseits etwas verkaufen oder Institutionen, die uns überwachen oder politisch beeinflussen wollen. Aber es gibt in diesen Internetkonfessionen auch etwas, das nur für Gott lesbar ist, etwas das über das profane Interesse hinausgeht. Die User verhalten sich religiös. Denn sie vermissen jemanden, der sich für sie interessiert.
Hegemann — Das ist das Defizit dieser Gesellschaft. Das Interesse an Anderen beschränkt sich auf die Fragen: Was denkt er oder sie über mich? Und ist das, was er oder sie denkt, für mich von Vorteil oder schadet es?
Groys — Das stimmt hundertprozentig. Das ist das einzige, woran die Leute denken. Und deshalb versuchen sie, das zu kompensieren, indem sie jemanden imaginieren, Gott oder eine künstliche Intelligenz oder was auch immer, der sich vielleicht für sie interessieren könnte. Und das ist für sie genug Motivation, diesem unbekannten apokalyptischen transzendenten Betrachter darüber zu informieren, was sie gegessen, wen sie getroffen und was sie dabei gedacht haben.
Hegemann — Es muss offenbar immer eine transzendente Instanz geben, von der man glaubt, dass sie einem zusieht und der man sich offenbaren kann.
Groys — Wenn du mich fragst, in welcher Form Kultur oder Religion immer noch da sind, dann würde ich sagen, dass diese Form der ständige Versuch ist, sich jemanden vorzustellen, von dem man nicht weiß, wer er ist.
Hegemann — Und die andern User, die Kollegen, Freunde, Vorgesetzten, sind die Gemeinde?
Groys — Nein, nein, das sind all diejenigen, die man transzendieren will, von denen man ganz genau weiß, dass sie sich eigentlich nicht für einen interessieren.
Hegemann — Weil Interesse am Anderen in einer Konkurrenzgesellschaft eigentlich nicht vorgesehen ist. Man selbst interessiert sich ja auch für keinen.
Groys — Deshalb weiß man ja, dass sich die Anderen nicht für einen interessieren. Aber die Suche nach einem Interessenten, die Suche nach dem Gott bleibt, und diese Suche ist das, was uns immer noch in Bewegung versetzt und antreibt.
Hegemann — D. h. das Bedürfnis, dass andere sich für einen interessieren und dass man sich auch selbst für andere interessiert, ist nicht totzukriegen.
Groys — Es ist nicht totzukriegen. Du siehst ja, dass viele Leute ungeduldig werden, wenn man immer nur über das Virus spricht. Es gibt da einen regelrechten Neid, deshalb sagen sie, es ist nur ein gewöhnlicher Grippevirus und die Schutzmaßnahmen sind überzogen usw. Das ist auch ein Zeichen dafür, dass die Leute nicht wollen, dass man über das Virus spricht, sie wollen, dass man über sie spricht. Aber niemand spricht über sie, alle sprechen nur über das Virus. Dadurch fühlen sie sich beleidigt.
IV. Anti-Corona-Bewegung
Hegemann — Hier hat sich alles sehr gelockert, die Vorschriften sind durchlöchert, sogar die Kneipen haben wieder auf. Nur die Verschwörungstheorien grassieren noch. Die Bürgerinitiative »Querdenker 2020« sowie die Wochenzeitung »Demokratischer Widerstand« erfreuen sich regen Zuspruchs – auch von Menschen, von denen man das nicht erwartet hätte. Die sagen, ob politisch links oder rechts, ist uns egal, wir wollen unsere grundgesetzlich garantierte, individuelle Freiheit und keine Hygienevorschriften von der Regierung.
Groys — Ich muss sagen, das klingt alles sehr amerikanisch. Aber die Amerikaner sind präziser in ihren Formulierungen. Ein Aktivist aus Ohio sagte z. B.: Die Aufgaben Gottes und die Aufgaben des Staates soll man nicht vermischen. Gott bestimmt über unser Leben und unser Sterben, das ist nicht Sache des Staates, das ist Sache Gottes. Die Sache des Staates ist es, unsere ewigen Freiheitsrechte zu garantieren, unsere politische Freiheit und unsere individuelle Freiheit. Aber unser Leben und Sterben sind grundsätzlich nicht Sache des Staates. Ich muss da sofort an Michel Foucault denken, für den der moderne Staat biopolitisch ausgerichtet ist, d. h. es gehört gerade zur Verantwortung des Staates, darauf zu achten, dass das Leben geschützt und das Sterben vermieden wird – nicht unbedingt das individuelle Leben, aber zumindest das der Bevölkerung. Das vorausgesetzt, ist es eine sehr radikale Position, die Verantwortung für das Leben allein Gott überlassen zu wollen. Wer diese Position einnimmt, erklärt damit seine Bereitschaft, jederzeit zu sterben. Wer bereit ist, jederzeit sein Leben zu riskieren, ist frei. Lieber aufrecht untergehen, als gebückt zu leben. Das ist dann natürlich keine politische, sondern eine metaphysische Position. Kurz: Sie wollen lieber sterben, als eine Maske zu tragen.
Hegemann — Das verbindet die Aktivisten mit Trump. Masken sind etwas für Feiglinge. Lässt sich die Stimmung bei den Verschwörungstheoretikern mit der Stimmung vor dem Ersten Weltkrieg vergleichen, als viele plötzlich von einer unglaublichen Todessehnsucht befallen schienen?
Groys — Ja, zum Teil. Was da gesagt wird, ist jedenfalls sehr naiv und wenig informiert. Ich habe mit einer gewissen Verblüffung festgestellt, dass das Virus überhaupt nicht in einen politischen Kontext gebracht wird. Es sind unpolitische, metaphysische Überzeugungen, die da zum Ausdruck kommen. Zum Beispiel die authentisch calvinistisch-protestantische Lehre von der Prädestination, also dass man nichts unternehmen soll, weil Gott alles schon entschieden hat. Warum war der Protestantismus ein Akt der Befreiung? Weil die katholische Kirche den Menschen immer gepredigt hat, was sie zu tun haben, z. B. deinem Nächsten helfen, dich um die Gemeinschaft kümmern, regelmäßig in die Kirche gehen usw. Und dann kamen Luther und Calvin und predigten das Gegenteil: Du musst das alles nicht tun, Gott entscheidet und hat schon entschieden, du selbst kannst tun, was du willst, das ändert gar nichts. Das war damals ein Befreiungsschlag, und die heutigen Protestanten wollen sich auch befreien, indem sie sagen: Wir kümmern uns nicht um die Nächsten, wenn die Nächsten sterben, ist es ihr Problem und nicht unser Problem. Und wenn wir selbst sterben, ist das auch nicht unser Problem. Wir sind schuldlos und müssen auch nicht mehr beichten. Denn alles, was geschieht, ist schon entschieden von einer höheren Macht. Das ist die große Befreiung von der eigenen
Verantwortung für andere und sich selbst. Und plötzlich ist diese urreligiöse metaphysische europäische Position, die schon fast vergessen schien, wieder da.
Man fragt sich nur, warum in allen protestantischen Ländern das sozialstaatliche Element weit mehr ausgeprägt ist als in den katholischen. Die Antwort ist so ernüchternd wie historisch lehrreich. Nachdem der Protestantismus die soziale Fürsorge als Aufgabe der Kirche abgeschafft hatte, wurde schlagartig klar, dass alles zu Grunde geht, wenn der Staat diese Funktion nicht übernimmt. Der Staat hat also die gleiche Rolle übernommen, wie sie die katholische Kirche vor der Reformation hatte. In allen protestantischen Ländern, in Schweden, in Holland usw., wurde der Sozialstaat eingeführt, weil die Kirche sich für die sozialen Belange nicht mehr verantwortlich fühlte. Und in den Ländern, wo die Reformation keine große Rolle spielte und der Katholizismus weiter blühte, also z. B. in Italien und Spanien, konnten sich die neuen Sozialstaaten, die diese Absenz des Katholizismus kompensiert haben, nicht entwickeln. Das wirkt bis heute nach. Deshalb haben diese Länder solche Schwierigkeiten mit dem Virus. In den protestantischen Ländern hat der Staat auf allen Ebenen die Funktion der Kirche übernommen. Die CDU unter Merkel ist ein Paradebeispiel für genau das! Und nun machen diese Protestanten offenbar wieder eine neue Revolution, diesmal gegen den Staat, sie wollen einen neuen Protestantismus der individuellen Freiheit, der alle Verantwortung Gott überlässt. Und das wird zu einem neuen Zusammenbruch führen, so wie es ihn damals schon gegeben hat, und in der Folge zu noch radikaleren staatlichen Interventionen.
Hegemann — Das hieße also, es wiederholt sich der Feldzug der Protestanten gegen die Katholiken heute als Feldzug der rechtsoffenen Corona-Opposition gegen den Sozialstaat und die staatliche Fürsorge?
Groys — Gegen den Sozialstaat und die CDU, die die Verkörperung des deutschen Katholizismus ist.
Hegemann — Frau Merkel, die Physikerin aus der DDR, ist aber, glaube ich, nicht sehr katholisch.
Groys — Sie ist der neue Bismarck, der beides miteinander verbindet. Die CDU und ihre Ideologie wurden in Köln von Adenauer erfunden, Adenauer war im Dritten Reich ein katholischer Dissident. Der deutsche Katholizismus war seit der Reformation immer in der Opposition gewesen, und das hat sich durch Adenauer geändert, und Merkel hat das übergreifend fortgesetzt, würde ich sagen. Die CDU kommt aus dem Katholizismus, und die SPD ist im wesentlichen protestantisch geprägt, da sind die Pastoren an der Macht, prototypisch war das Rau. Und diese Kombination ist offenbar für Deutschland optimal, zumindest wenn man es von außen betrachtet. Aber die Menschen sind natürlich trotzdem unzufrieden, sie sind generell unzufrieden. Die Katholiken wollen es noch katholischer, und die Protestanten wollen es noch protestantischer. Wohin das führt, ist noch nicht ganz klar. Auf jeden Fall wollen sich viele von diesem Staat, der sich als biopolitisch versteht, emanzipieren und wieder »deutscher« werden. Aber wenn man dann nachfragt, was eigentlich »deutsch« ist, dann ist das der Sozialstaat. Da steckt der Widerspruch. Ich denke, diese Anti-Corona-Leute haben gleichzeitig ein bisschen den amerikanischen Traum, und zwar im Sinne von Wilder Westen. Sie sehnen sich nach diesem »wahren Amerika«, wo man noch an Gott glaubt und den Staat verachtet. Ihre Texte
unterschreiben sie immer »mit demokratischen Grüßen«, aber sie verstehen das Demokratische so wie Trump oder wie die Leute aus dem mittleren Westen der USA. Sie sagen, dass es demokratisch ist, wenn man eine Meinung hat und diese Meinung vertritt. Wenn man sie aber fragt, ob diese Meinung begründet oder ob es eine informierte Meinung ist, dann sehen sie schon in dieser Frage den Ausdruck einer Verschwörung gegen die Demokratie. Das ist eine post-intellektuelle Vorstellung von Demokratie, die den Corona-Widerstand in Deutschland mit dem amerikanischen Anti-Intellektualismus verbindet. Diese sogenannte Demokratiebewegung ist ein Kampf für die uninformierte Meinung. Es geht einfach darum, dass man jede
Meinung, ohne Überprüfung äußern kann und soll.
Hegemann — Glaubst du, sie wollen darüber abstimmen, welche Meinung gelten soll?
Groys — Genau, und zwar unter Zuhilfenahme der Statistik. In den USA herrscht die Statistik. Wenn man fragt »Gegen welchen Staat haben die USA im Zweiten Weltkrieg gekämpft?«, und 30 % antworten »Russland«, dann wird das als eine legitime öffentliche Meinung angesehen, die auch Unterstützung bekommen muss. Also organisiert man Veranstaltungen, die das begründen usw. Jede Meinung, der ein gewisser Prozentsatz der Bevölkerung zustimmt, gilt als demokratisch legitimiert und damit als Teil des öffentlichen Meinungsspektrums. Und wenn man sagt, diese Meinung ist idiotisch, dann gilt man sofort als Antidemokrat. Dann ist man auf Seiten der Verschwörung, die diese legitime öffentliche Meinung abschaffen und durch eine problematische wissenschaftliche oder pseudo-wissenschaftliche ersetzen will. Das ist das derzeitige intellektuelle Make-up in den USA. Die Leute glauben nur an Big Data und die öffentliche Meinung, wie sie auf der Grundlage von statistischen Erhebungen generiert wird.
Hegemann — Viele Rechtsradikale in Deutschland teilen diese Vorstellung. Sie halten es für möglich, die öffentliche Meinung dahin zu bringen, dass man irgendwann mit Mehrheitsbeschlüssen die Rassentrennung wieder einführt. Sie kämpfen um die kulturelle Hegemonie und orientieren sich dabei durchaus an ehemals linken Strategien.
Groys — Das kann sein, aber es gibt einen Unterschied zwischen rechts und links, auf den ich bestehe: Auch die RAF und ähnliche, sich links verstehende Gruppen hatten eine Ideologie. Das war eine Philosophie oder eine Gesellschaftstheorie, auf die sich diese Leute mit angebbaren Gründen berufen haben. Eine Theorie kann minoritär sein, aber sie muss fähig sein, sich zu rechtfertigen, sich zu beweisen und sich zu artikulieren. Und es muss auch möglich sein, darüber zu diskutieren. Aber bei der Rechten gibt es keine Diskussionen, da gibt es nur Zustimmung oder Ablehnung und sonst nichts.
Hegemann — Vielleicht ist das ein veraltetes Bild der Rechten? Die haben mittlerweile große, sich als intellektuell verstehende Think Tanks und lesen alles von Hermann Hesse bis Karl Marx und Gramsci.
Groys — Ja, sie lesen Gramsci, allerdings ist Gramsci selbst vom italienischen Faschismus stark beeinflusst. Das ist sehr kompliziert. Ich will nur folgendes sagen: Diese rechten Think Tanks funktionieren strategisch und nicht theoretisch. Sie wollen nicht eine Theorie aufstellen der Gesellschaft, sie wollen eine Strategie erarbeiten, mit der sie die öffentliche Meinung besetzen und dominieren können. Daran hat auch Gramsci geglaubt, dass man die Theorie vergessen könne und stattdessen, wie er selbst sagte, eine kulturelle Hegemonie errichten solle, gegen die Faschisten, die ihrerseits genau das gleiche wollten: die kulturelle Hegemonie, wenn auch
mit anderen Inhalten.
Boris Groys, geboren 1947 in Berlin, ist einer der einflussreichsten Philosophen und Medientheoretiker der Gegenwart. Zurzeit unterrichtet er als Global Distinguished Professor am College of Arts and Science der New York University. Zu seinen wichtigsten Büchern zählen »Gesamtkunstwerk Stalin« (1988), »Unter Verdacht« (2000) und »Das kommunistische Postskriptum« (2005).
Carl Hegemann, geboren 1949, wirkt als freischaffender Dramaturg und Autor an zahlreichen Theatern und Opernhäusern im deutschsprachigen Raum. Er ist emeritierter Professor für Dramaturgie der Hochschule für Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy in Leipzig. In Kürze erscheint sein neues Buch »Dramaturgie des Daseins« (2020). Ein gemeinsamer Gesprächsband mit Boris Groys ist in Planung.
Groys — Ich muss sagen, das klingt alles sehr amerikanisch. Aber die Amerikaner sind präziser in ihren Formulierungen. Ein Aktivist aus Ohio sagte z. B.: Die Aufgaben Gottes und die Aufgaben des Staates soll man nicht vermischen. Gott bestimmt über unser Leben und unser Sterben, das ist nicht Sache des Staates, das ist Sache Gottes. Die Sache des Staates ist es, unsere ewigen Freiheitsrechte zu garantieren, unsere politische Freiheit und unsere individuelle Freiheit. Aber unser Leben und Sterben sind grundsätzlich nicht Sache des Staates. Ich muss da sofort an Michel Foucault denken, für den der moderne Staat biopolitisch ausgerichtet ist, d. h. es gehört gerade zur Verantwortung des Staates, darauf zu achten, dass das Leben geschützt und das Sterben vermieden wird – nicht unbedingt das individuelle Leben, aber zumindest das der Bevölkerung. Das vorausgesetzt, ist es eine sehr radikale Position, die Verantwortung für das Leben allein Gott überlassen zu wollen. Wer diese Position einnimmt, erklärt damit seine Bereitschaft, jederzeit zu sterben. Wer bereit ist, jederzeit sein Leben zu riskieren, ist frei. Lieber aufrecht untergehen, als gebückt zu leben. Das ist dann natürlich keine politische, sondern eine metaphysische Position. Kurz: Sie wollen lieber sterben, als eine Maske zu tragen.
Hegemann — Das verbindet die Aktivisten mit Trump. Masken sind etwas für Feiglinge. Lässt sich die Stimmung bei den Verschwörungstheoretikern mit der Stimmung vor dem Ersten Weltkrieg vergleichen, als viele plötzlich von einer unglaublichen Todessehnsucht befallen schienen?
Groys — Ja, zum Teil. Was da gesagt wird, ist jedenfalls sehr naiv und wenig informiert. Ich habe mit einer gewissen Verblüffung festgestellt, dass das Virus überhaupt nicht in einen politischen Kontext gebracht wird. Es sind unpolitische, metaphysische Überzeugungen, die da zum Ausdruck kommen. Zum Beispiel die authentisch calvinistisch-protestantische Lehre von der Prädestination, also dass man nichts unternehmen soll, weil Gott alles schon entschieden hat. Warum war der Protestantismus ein Akt der Befreiung? Weil die katholische Kirche den Menschen immer gepredigt hat, was sie zu tun haben, z. B. deinem Nächsten helfen, dich um die Gemeinschaft kümmern, regelmäßig in die Kirche gehen usw. Und dann kamen Luther und Calvin und predigten das Gegenteil: Du musst das alles nicht tun, Gott entscheidet und hat schon entschieden, du selbst kannst tun, was du willst, das ändert gar nichts. Das war damals ein Befreiungsschlag, und die heutigen Protestanten wollen sich auch befreien, indem sie sagen: Wir kümmern uns nicht um die Nächsten, wenn die Nächsten sterben, ist es ihr Problem und nicht unser Problem. Und wenn wir selbst sterben, ist das auch nicht unser Problem. Wir sind schuldlos und müssen auch nicht mehr beichten. Denn alles, was geschieht, ist schon entschieden von einer höheren Macht. Das ist die große Befreiung von der eigenen
Verantwortung für andere und sich selbst. Und plötzlich ist diese urreligiöse metaphysische europäische Position, die schon fast vergessen schien, wieder da.
Man fragt sich nur, warum in allen protestantischen Ländern das sozialstaatliche Element weit mehr ausgeprägt ist als in den katholischen. Die Antwort ist so ernüchternd wie historisch lehrreich. Nachdem der Protestantismus die soziale Fürsorge als Aufgabe der Kirche abgeschafft hatte, wurde schlagartig klar, dass alles zu Grunde geht, wenn der Staat diese Funktion nicht übernimmt. Der Staat hat also die gleiche Rolle übernommen, wie sie die katholische Kirche vor der Reformation hatte. In allen protestantischen Ländern, in Schweden, in Holland usw., wurde der Sozialstaat eingeführt, weil die Kirche sich für die sozialen Belange nicht mehr verantwortlich fühlte. Und in den Ländern, wo die Reformation keine große Rolle spielte und der Katholizismus weiter blühte, also z. B. in Italien und Spanien, konnten sich die neuen Sozialstaaten, die diese Absenz des Katholizismus kompensiert haben, nicht entwickeln. Das wirkt bis heute nach. Deshalb haben diese Länder solche Schwierigkeiten mit dem Virus. In den protestantischen Ländern hat der Staat auf allen Ebenen die Funktion der Kirche übernommen. Die CDU unter Merkel ist ein Paradebeispiel für genau das! Und nun machen diese Protestanten offenbar wieder eine neue Revolution, diesmal gegen den Staat, sie wollen einen neuen Protestantismus der individuellen Freiheit, der alle Verantwortung Gott überlässt. Und das wird zu einem neuen Zusammenbruch führen, so wie es ihn damals schon gegeben hat, und in der Folge zu noch radikaleren staatlichen Interventionen.
Hegemann — Das hieße also, es wiederholt sich der Feldzug der Protestanten gegen die Katholiken heute als Feldzug der rechtsoffenen Corona-Opposition gegen den Sozialstaat und die staatliche Fürsorge?
Groys — Gegen den Sozialstaat und die CDU, die die Verkörperung des deutschen Katholizismus ist.
Hegemann — Frau Merkel, die Physikerin aus der DDR, ist aber, glaube ich, nicht sehr katholisch.
Groys — Sie ist der neue Bismarck, der beides miteinander verbindet. Die CDU und ihre Ideologie wurden in Köln von Adenauer erfunden, Adenauer war im Dritten Reich ein katholischer Dissident. Der deutsche Katholizismus war seit der Reformation immer in der Opposition gewesen, und das hat sich durch Adenauer geändert, und Merkel hat das übergreifend fortgesetzt, würde ich sagen. Die CDU kommt aus dem Katholizismus, und die SPD ist im wesentlichen protestantisch geprägt, da sind die Pastoren an der Macht, prototypisch war das Rau. Und diese Kombination ist offenbar für Deutschland optimal, zumindest wenn man es von außen betrachtet. Aber die Menschen sind natürlich trotzdem unzufrieden, sie sind generell unzufrieden. Die Katholiken wollen es noch katholischer, und die Protestanten wollen es noch protestantischer. Wohin das führt, ist noch nicht ganz klar. Auf jeden Fall wollen sich viele von diesem Staat, der sich als biopolitisch versteht, emanzipieren und wieder »deutscher« werden. Aber wenn man dann nachfragt, was eigentlich »deutsch« ist, dann ist das der Sozialstaat. Da steckt der Widerspruch. Ich denke, diese Anti-Corona-Leute haben gleichzeitig ein bisschen den amerikanischen Traum, und zwar im Sinne von Wilder Westen. Sie sehnen sich nach diesem »wahren Amerika«, wo man noch an Gott glaubt und den Staat verachtet. Ihre Texte
unterschreiben sie immer »mit demokratischen Grüßen«, aber sie verstehen das Demokratische so wie Trump oder wie die Leute aus dem mittleren Westen der USA. Sie sagen, dass es demokratisch ist, wenn man eine Meinung hat und diese Meinung vertritt. Wenn man sie aber fragt, ob diese Meinung begründet oder ob es eine informierte Meinung ist, dann sehen sie schon in dieser Frage den Ausdruck einer Verschwörung gegen die Demokratie. Das ist eine post-intellektuelle Vorstellung von Demokratie, die den Corona-Widerstand in Deutschland mit dem amerikanischen Anti-Intellektualismus verbindet. Diese sogenannte Demokratiebewegung ist ein Kampf für die uninformierte Meinung. Es geht einfach darum, dass man jede
Meinung, ohne Überprüfung äußern kann und soll.
Hegemann — Glaubst du, sie wollen darüber abstimmen, welche Meinung gelten soll?
Groys — Genau, und zwar unter Zuhilfenahme der Statistik. In den USA herrscht die Statistik. Wenn man fragt »Gegen welchen Staat haben die USA im Zweiten Weltkrieg gekämpft?«, und 30 % antworten »Russland«, dann wird das als eine legitime öffentliche Meinung angesehen, die auch Unterstützung bekommen muss. Also organisiert man Veranstaltungen, die das begründen usw. Jede Meinung, der ein gewisser Prozentsatz der Bevölkerung zustimmt, gilt als demokratisch legitimiert und damit als Teil des öffentlichen Meinungsspektrums. Und wenn man sagt, diese Meinung ist idiotisch, dann gilt man sofort als Antidemokrat. Dann ist man auf Seiten der Verschwörung, die diese legitime öffentliche Meinung abschaffen und durch eine problematische wissenschaftliche oder pseudo-wissenschaftliche ersetzen will. Das ist das derzeitige intellektuelle Make-up in den USA. Die Leute glauben nur an Big Data und die öffentliche Meinung, wie sie auf der Grundlage von statistischen Erhebungen generiert wird.
Hegemann — Viele Rechtsradikale in Deutschland teilen diese Vorstellung. Sie halten es für möglich, die öffentliche Meinung dahin zu bringen, dass man irgendwann mit Mehrheitsbeschlüssen die Rassentrennung wieder einführt. Sie kämpfen um die kulturelle Hegemonie und orientieren sich dabei durchaus an ehemals linken Strategien.
Groys — Das kann sein, aber es gibt einen Unterschied zwischen rechts und links, auf den ich bestehe: Auch die RAF und ähnliche, sich links verstehende Gruppen hatten eine Ideologie. Das war eine Philosophie oder eine Gesellschaftstheorie, auf die sich diese Leute mit angebbaren Gründen berufen haben. Eine Theorie kann minoritär sein, aber sie muss fähig sein, sich zu rechtfertigen, sich zu beweisen und sich zu artikulieren. Und es muss auch möglich sein, darüber zu diskutieren. Aber bei der Rechten gibt es keine Diskussionen, da gibt es nur Zustimmung oder Ablehnung und sonst nichts.
Hegemann — Vielleicht ist das ein veraltetes Bild der Rechten? Die haben mittlerweile große, sich als intellektuell verstehende Think Tanks und lesen alles von Hermann Hesse bis Karl Marx und Gramsci.
Groys — Ja, sie lesen Gramsci, allerdings ist Gramsci selbst vom italienischen Faschismus stark beeinflusst. Das ist sehr kompliziert. Ich will nur folgendes sagen: Diese rechten Think Tanks funktionieren strategisch und nicht theoretisch. Sie wollen nicht eine Theorie aufstellen der Gesellschaft, sie wollen eine Strategie erarbeiten, mit der sie die öffentliche Meinung besetzen und dominieren können. Daran hat auch Gramsci geglaubt, dass man die Theorie vergessen könne und stattdessen, wie er selbst sagte, eine kulturelle Hegemonie errichten solle, gegen die Faschisten, die ihrerseits genau das gleiche wollten: die kulturelle Hegemonie, wenn auch
mit anderen Inhalten.
Boris Groys, geboren 1947 in Berlin, ist einer der einflussreichsten Philosophen und Medientheoretiker der Gegenwart. Zurzeit unterrichtet er als Global Distinguished Professor am College of Arts and Science der New York University. Zu seinen wichtigsten Büchern zählen »Gesamtkunstwerk Stalin« (1988), »Unter Verdacht« (2000) und »Das kommunistische Postskriptum« (2005).
Carl Hegemann, geboren 1949, wirkt als freischaffender Dramaturg und Autor an zahlreichen Theatern und Opernhäusern im deutschsprachigen Raum. Er ist emeritierter Professor für Dramaturgie der Hochschule für Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy in Leipzig. In Kürze erscheint sein neues Buch »Dramaturgie des Daseins« (2020). Ein gemeinsamer Gesprächsband mit Boris Groys ist in Planung.
Besetzung
Mutter CourageRosa Enskat
Kattrin, ihre stumme TochterLea Ruckpaul
Eilif, der ältere SohnRaphael Gehrmann
Schweizerkas, der jüngere SohnJonas Friedrich Leonhardi
Der KochWolfgang Michalek
Der FeldpredigerRainer Philippi
Yvette PottierCathleen Baumann
Der FeldhauptmannMarkus Danzeisen
RegieSebastian Baumgarten
BühneAlexander Wolf
VideoPhilipp Haupt
LichtJean-Mario Bessière
Live-MusikChristoph Clöser
DramaturgieJanine Ortiz
Dauer
2 Stunden — keine Pause