Krone
Peter W. Marx über die Last, ein König zu sein, und die Lust, kein König zu sein
Shakespeares Historiendramen – eine Gattung, für die es im deutschsprachigen Raum nicht wirklich eine Entsprechung gibt – eröffnen zwei sehr grundsätzliche Perspektiven auf das Verhältnis von Macht und Geschichte. Auf der einen Seite markieren sie die Abkehr von der mittelalterlich-religiös geprägten Vorstellung von einer bedeutsamen »guten« Geschichte und einem übergeordneten Sinn: Keiner der auftretenden Könige ist König »von Gottes Gnaden«, sie alle sind ziemlich weltliche Herrschaften, Motor/ Produkt/Opfer von Machenschaften und Machinationen, sie alle erweisen sich auf unterschiedliche Weise als geeignet und/oder katastrophal. Macht ist nicht heilig oder glamourös, sondern gemacht – Shakespeare bietet einen Blick hinter die Kulissen, wobei sich einmal mehr die Wahrheit des Volksmundes bestätigt, dass man bei der Politik und beim Wurstmachen lieber keine Zeug*innen möchte …
Gleichzeitig gibt Shakespeare den vormodernen Machtbegriff nicht preis – die Krone bleibt ein bisweilen mystisches Machtzentrum, und wer sie trägt, wird besetzt und verändert. »Du hast deinen Träger aufgefressen«, so spricht der künftige König Henry V. sie an – die Krone gewinnt eine fast vampirhafte Macht.
In der Forschung ist viel spekuliert worden über Shakespeares politische Einstellungen und seine eigene Haltung – eine Frage, die letztlich nicht zu klären ist. Aber allein die Form des Dramas, in dessen Mittelpunkt Konflikt, Rede und Gegenrede stehen, eröffnet einen Blick auf die Begründung und die Ausübung von Macht. Politik in ihrem umfassendsten Sinne wird sicht- und verhandelbar. Die Spannung zwischen einem modernen, technischen Begriff von Macht und dem Mythos der Krone erweist sich als Glücksfall, denn in dieser Spannung wird Macht nicht allein individualisiert, sondern als strukturelles und historisches Faktum erkennbar.
So sind denn auch Shakespeares Helden nicht nur Individuen, sondern gewissermaßen Prismen einer spezifischen Konstellation, die über den Einzelfall hinaus interessant und bedenkenswert ist: Henry VI. etwa ist der Sohn von Henry V. – jenem idealen König, der in der Schlacht von Azincourt die französische Übermacht schlägt und allein durch seine Rede seine Soldaten zu Höchstleistungen anspornt. Dieser »strahlende Sieger« begründet eine neue Vorstellung von Königtum: Nicht durch Geburt, sondern durch Befähigung erweist sich der gute König.
Sein Sohn wiederum wird – ohne sein Zutun – mit dem entgegengesetzten Schicksal geschlagen, denn nach dem frühen Tod des Vaters kommt er noch als Kind auf den Thron, wird zur Verschiebemasse der Höflinge, die ihn als Kind/Mündel/Ehemann für sich und ihre Interessen in Anspruch nehmen. Sein Leben ist überschattet vom mit dem Abstand der Zeit immer überlebensgrößer werdenden Vater – und so strebt Henry VI. nicht nach Macht und Krone, sondern danach, ein einfacher Untertan zu sein:
Kaum kroch ich aus der Wiege noch, als ich,
Neun Monden alt, zum König ward ernannt.
Nie sehnt’ ein Untertan sich nach dem Thron,
Wie ich mich sehn’, ein Untertan zu sein. (2 H VI, IV, 9; 3–6)
Doch die Krone verzeiht solcherlei Selbstzweifel und -mitleidigkeiten nicht: Und so wird Henry VI. zum schlechten König, der zum Spielball seines Hofes wird. »Es gibt kein richtiges Leben im falschen«, stellte Adorno in der »Minima Moralia« fest, und unter dem Brennglas der Krone wird die Sehnsucht nach Unschuld zum tödlichen Fallstrick.
Selbst Henrys Versuch, historisches Unrecht – die Absetzung von Richard II. durch seinen Großvater Henry IV. – wiedergutzumachen, gerät zum Desaster: Konfrontiert mit den Ansprüchen des Hauses York – »mein Recht ist schwach«, stöhnt er zu sich selbst –, sucht er Ausgleich und Verständigung. Henry VI. beharrt nicht auf dem Machtanspruch, sondern will Yorks Kinder als seine Nachfolger einsetzen, wenn er nur selbst bis an sein Lebensende König sein darf. Die Krone aber ist zu eifersüchtig für solche Tricksereien: Der König auf Zeit unterschreibt sein eigenes Todesurteil. Fortan kämpfen das Haus York und Henrys Frau Margaret für sich und ihre Kinder um die Krone. Margaret beschreibt denn auch die Abdankung auf Zeit als Selbstvernichtung, wie man dem englischen Original entnehmen kann: »Thou hast undone thyself, thy son and me.«
So nimmt das Geschehen seinen Lauf: Der Versuch des Königs, aus der Geschichte auszusteigen, das zurückliegende Unrecht wiedergutzumachen durch Selbstverzicht, rächt sich und führt zur (scheinbar) unvermeidlichen Katastrophe: Krieg/Bürgerkrieg.
Während Shakespeare in »Henry V« die Schlachtszenen als Bestätigung des heroischen Königs nutzt, verkehrt sich das Bild in »Henry VI« in sein Gegenteil: Als die Fraktionen sich im Gefecht begegnen, irrlichtert der König über das Schlachtfeld. Inmitten des tosenden Kampfes sitzt er und träumt davon, ein Hirte zu sein. Dieser König ist wahrlich mehr Philosoph als Politiker. Er wird zum Zeugen der Grausamkeit dieses Krieges: Zunächst begegnet er einem Sohn, der – ohne es zu merken – seinen Vater erschlagen hat, anschließend einem Vater, der seinen unerkannten Sohn getötet hat. Damit aber zeigt Shakespeare die apokalyptische Dimension dieses Machtkampfes auf, denn die Geschichte endet, wenn der Generationenvertrag nicht nur nicht mehr funktioniert, sondern zum tödlichen Chaos wird. Henry VI. wird zum Trauernden, der – statt der Gewalt Sinn zu verleihen durch die politische Rahmung – den Schmerz und das Leid seiner Landsleute auf sich nimmt. »Wär ich doch tot, wär’s Gottes Wille so!/ Wer wird in dieser Welt des Jammers froh?«
Ein König aber kann/darf weder aus der Geschichte noch aus seinem Drama aussteigen – diese Utopie hat Shakespeare nur in der Komödie »Wie es euch gefällt« erlaubt, wo das Exil im Wald sich plötzlich als visionäres Glück entpuppt. Im Gang der Geschichte aber dreht sich das Rad, und schon der Versuch, unschuldig zu bleiben, wird zu Schuld. »Wahrlich finstere Zeiten«, hat Brecht in »An die Nachgeborenen« geschrieben – Shakespeare entlässt das Publikum mit mehr schwarzer Ironie, wenn der neue König Edward IV. das Stück beschließt: »Wir hoffen dauerhaften Glücks Beginn.«
Prof. Dr. Peter W. Marx leitet an der Universität Köln das Institut für Medienkultur und Theater, einer seiner Forschungsschwerpunkte ist »Shakespeare in performance«. 2018 veröffentlichte er im Alexander Verlag das Buch »Hamlets Reise nach Deutschland. Eine Kulturgeschichte«.
Der Text erschien im Spielzeitheft 2019/20.
Gleichzeitig gibt Shakespeare den vormodernen Machtbegriff nicht preis – die Krone bleibt ein bisweilen mystisches Machtzentrum, und wer sie trägt, wird besetzt und verändert. »Du hast deinen Träger aufgefressen«, so spricht der künftige König Henry V. sie an – die Krone gewinnt eine fast vampirhafte Macht.
In der Forschung ist viel spekuliert worden über Shakespeares politische Einstellungen und seine eigene Haltung – eine Frage, die letztlich nicht zu klären ist. Aber allein die Form des Dramas, in dessen Mittelpunkt Konflikt, Rede und Gegenrede stehen, eröffnet einen Blick auf die Begründung und die Ausübung von Macht. Politik in ihrem umfassendsten Sinne wird sicht- und verhandelbar. Die Spannung zwischen einem modernen, technischen Begriff von Macht und dem Mythos der Krone erweist sich als Glücksfall, denn in dieser Spannung wird Macht nicht allein individualisiert, sondern als strukturelles und historisches Faktum erkennbar.
So sind denn auch Shakespeares Helden nicht nur Individuen, sondern gewissermaßen Prismen einer spezifischen Konstellation, die über den Einzelfall hinaus interessant und bedenkenswert ist: Henry VI. etwa ist der Sohn von Henry V. – jenem idealen König, der in der Schlacht von Azincourt die französische Übermacht schlägt und allein durch seine Rede seine Soldaten zu Höchstleistungen anspornt. Dieser »strahlende Sieger« begründet eine neue Vorstellung von Königtum: Nicht durch Geburt, sondern durch Befähigung erweist sich der gute König.
Sein Sohn wiederum wird – ohne sein Zutun – mit dem entgegengesetzten Schicksal geschlagen, denn nach dem frühen Tod des Vaters kommt er noch als Kind auf den Thron, wird zur Verschiebemasse der Höflinge, die ihn als Kind/Mündel/Ehemann für sich und ihre Interessen in Anspruch nehmen. Sein Leben ist überschattet vom mit dem Abstand der Zeit immer überlebensgrößer werdenden Vater – und so strebt Henry VI. nicht nach Macht und Krone, sondern danach, ein einfacher Untertan zu sein:
Kaum kroch ich aus der Wiege noch, als ich,
Neun Monden alt, zum König ward ernannt.
Nie sehnt’ ein Untertan sich nach dem Thron,
Wie ich mich sehn’, ein Untertan zu sein. (2 H VI, IV, 9; 3–6)
Doch die Krone verzeiht solcherlei Selbstzweifel und -mitleidigkeiten nicht: Und so wird Henry VI. zum schlechten König, der zum Spielball seines Hofes wird. »Es gibt kein richtiges Leben im falschen«, stellte Adorno in der »Minima Moralia« fest, und unter dem Brennglas der Krone wird die Sehnsucht nach Unschuld zum tödlichen Fallstrick.
Selbst Henrys Versuch, historisches Unrecht – die Absetzung von Richard II. durch seinen Großvater Henry IV. – wiedergutzumachen, gerät zum Desaster: Konfrontiert mit den Ansprüchen des Hauses York – »mein Recht ist schwach«, stöhnt er zu sich selbst –, sucht er Ausgleich und Verständigung. Henry VI. beharrt nicht auf dem Machtanspruch, sondern will Yorks Kinder als seine Nachfolger einsetzen, wenn er nur selbst bis an sein Lebensende König sein darf. Die Krone aber ist zu eifersüchtig für solche Tricksereien: Der König auf Zeit unterschreibt sein eigenes Todesurteil. Fortan kämpfen das Haus York und Henrys Frau Margaret für sich und ihre Kinder um die Krone. Margaret beschreibt denn auch die Abdankung auf Zeit als Selbstvernichtung, wie man dem englischen Original entnehmen kann: »Thou hast undone thyself, thy son and me.«
So nimmt das Geschehen seinen Lauf: Der Versuch des Königs, aus der Geschichte auszusteigen, das zurückliegende Unrecht wiedergutzumachen durch Selbstverzicht, rächt sich und führt zur (scheinbar) unvermeidlichen Katastrophe: Krieg/Bürgerkrieg.
Während Shakespeare in »Henry V« die Schlachtszenen als Bestätigung des heroischen Königs nutzt, verkehrt sich das Bild in »Henry VI« in sein Gegenteil: Als die Fraktionen sich im Gefecht begegnen, irrlichtert der König über das Schlachtfeld. Inmitten des tosenden Kampfes sitzt er und träumt davon, ein Hirte zu sein. Dieser König ist wahrlich mehr Philosoph als Politiker. Er wird zum Zeugen der Grausamkeit dieses Krieges: Zunächst begegnet er einem Sohn, der – ohne es zu merken – seinen Vater erschlagen hat, anschließend einem Vater, der seinen unerkannten Sohn getötet hat. Damit aber zeigt Shakespeare die apokalyptische Dimension dieses Machtkampfes auf, denn die Geschichte endet, wenn der Generationenvertrag nicht nur nicht mehr funktioniert, sondern zum tödlichen Chaos wird. Henry VI. wird zum Trauernden, der – statt der Gewalt Sinn zu verleihen durch die politische Rahmung – den Schmerz und das Leid seiner Landsleute auf sich nimmt. »Wär ich doch tot, wär’s Gottes Wille so!/ Wer wird in dieser Welt des Jammers froh?«
Ein König aber kann/darf weder aus der Geschichte noch aus seinem Drama aussteigen – diese Utopie hat Shakespeare nur in der Komödie »Wie es euch gefällt« erlaubt, wo das Exil im Wald sich plötzlich als visionäres Glück entpuppt. Im Gang der Geschichte aber dreht sich das Rad, und schon der Versuch, unschuldig zu bleiben, wird zu Schuld. »Wahrlich finstere Zeiten«, hat Brecht in »An die Nachgeborenen« geschrieben – Shakespeare entlässt das Publikum mit mehr schwarzer Ironie, wenn der neue König Edward IV. das Stück beschließt: »Wir hoffen dauerhaften Glücks Beginn.«
Prof. Dr. Peter W. Marx leitet an der Universität Köln das Institut für Medienkultur und Theater, einer seiner Forschungsschwerpunkte ist »Shakespeare in performance«. 2018 veröffentlichte er im Alexander Verlag das Buch »Hamlets Reise nach Deutschland. Eine Kulturgeschichte«.
Der Text erschien im Spielzeitheft 2019/20.
Besetzung
König Heinrich VIAndré Kaczmarczyk
Margaretha di Napoli, Königin von EnglandSonja Beißwenger
Hugo Gloster, Onkel Heinrichs, ReichsprotektorRainer Philippi
Leonore, Heinrichs Tante, Gattin Hugo GlostersMinna Wündrich
Bischof Winchester, Onkel HeinrichsFlorian Lange
Herzog Suffolk, Vertrauter HeinrichsSebastian Tessenow
York, Herzog und ThronprätendentJan Maak
La Pucelle, die Jungfrau von Orléans / Roland, ältester Sohn Yorks / Richard das Ungeheuer, jüngster Sohn YorksMarie Jensen
Somerset, Neffe von Bischof WinchesterKai Götting
Buckingham, Freund, später Rivale SomersetsFelix Kruttke
RegieDavid Bösch
BühnePatrick Bannwart
Mitarbeit BühneLarissa Kramarek
KostümFalko Herold
MusikKarsten Riedel
Kampf-ChoreografieKlaus Figge
LichtJean-Mario Bessière
DramaturgieFelicitas Zürcher
Dauer
2 Stunden — keine Pause
Liebe Lehrer*innen, wenn Sie weitere Informationen zu dieser Inszenierung wünschen, wenden Sie sich bitte an die Theaterpädagogin Saliha Shagasi unter 0211. 85 23-714 oder saliha.shagasi@dhaus.de