Verstärker
Zwischen Flüstern und Schreien: Roger Vontobels »Hamlet« mit Woods of Birnam und Christian Friedel — von Gunnar Decker
Am Anfang wie am Ende ist der Rhythmus, der Klang der Worte, mal geflüstert, mal geschrien. Roger Vontobels »Hamlet«-Inszenierung ging in Dresden über einhundert Mal über die Bühne, jedes Mal wieder wie neu, weil dieser »Hamlet« aus dem Geiste der Rockmusik nur ganz oder gar nicht stattfindet. Halbe Kraft geht dabei nicht, Routine auch nicht.
Aber wer ist Hamlet? Bei Christian Friedel ein Popstar, aber einer auf abschüssiger Ebene, einer, der am Ende zerbricht. Die Bühne vorn ganz wie bei einem Rockkonzert. Technik regiert – und dahinter wie ein historistisches Ornament eine barocke Theatergalerie, darauf flegelt König Claudius mit seiner Frau und Hamlets Mutter Gertrud, der ganze Hofstaat hat sich versammelt zu des Prinzen Hamlets Wiederkehr.
Und so sehen wir ihn dann ans Mikrofon treten: schmal und blass, ein Nobody von heute. Die Stimme ebenso schmal, fast zaghaft der Beginn. Der Hofstaat blickt desinteressiert-freundlich herab. Von dem Jüngelchen da unten droht keine Gefahr. So denken sie. Aber dann geht es Schlag auf Schlag, Song für Song. Sein Auftrittslied: »I’ll call thee Hamlet« – eine Kampfansage, doch noch voller unverdorbener Sehnsucht und Trauer um den Vater. Friedels Prinz Hamlet ist nicht allein, er hat eine Band bei sich mit Namen »Woods of Birnam«, benannt nach den Wäldern, in denen Macbeth seinen Schlussmonolog hält, bevor er stirbt. Irgendwann ist auch das letzte Klagelied, die letzte Sehnsuchtsmelodie gesungen. Und dann?
Die dunklen Schatten kehren wieder. Es sind anfangs lauter kleine Einfälle, fixe Ideen, pure Gespensterseherei. Sie bleiben schließlich als unheimliche Gäste. Ist Hamlets Krankheit die der Melancholie, die aus zu viel schwarzer Galle kommt, wie die Medizin zu Shakespeares Zeiten vermutete? Oder ist es die Krankheit seiner Zeit, die nach ihm greift? Vatermord liegt in der Luft, aber Hamlets Vater ist bereits tot. Was liegt da näher, als ein Komplott zu vermuten und nach Rache am falschen Vater, dem Stiefvater, zu schreien? Inzwischen leben wir längst in antiautoritären Zeiten, zumindest geben sich alle gern den Anschein. Als Frontmann seiner Band probt Friedels Hamlet den Auftritt als Rebell. Klugerweise wird hier die klassische Schlegel/Tieck-Übersetzung gespielt – sie erdet Hamlets ekstatische Höhenflüge. Die Sprachgestalt ist nicht verhandelbar, nur der Rhythmus, die Betonungen. Da beginnt Schauspiel anders zu atmen. Christian Friedel mag die Schlegel/Tieck-Übersetzung gerade im Kontrast zu den englisch gesungenen Liedern. Hierbei entsteht auch eine verquere Komik, auf die Jugendliche im Publikum, selbst in Pubertätskrisen gefangen, wie befreit reagieren. Denn Hamlets Stärkeposen kommen aus Schwäche, seine der Umwelt verrückt vorkommenden Drohgebärden resultieren aus panisch versteckter Ratlosigkeit.
Alles hatte 2011 damit begonnen, so Christian Friedel, dass ihm in Dresden sein Auto gestohlen wurde. Im Auto war eine CD, das Debütalbum von »Polarkreis 18«, einer Dresdner Band. Die CD war nirgends mehr zu beschaffen, aber er wollte sie unbedingt wiederhaben. Darum hat er sich direkt an die Musiker gewandt. So kam der Kontakt zustande, und sie wurden Woods of Birnam. In »Hamlet« mit den Musikern auf der Bühne zu stehen, zwischen Mikrofonen, Steuerpulten, Instrumenten und Verstärkern, das schafft jene besondere Live-Atmosphäre, die Prinz Hamlet in seiner ganzen jugendlichen Orientierungslosigkeit zeigt. Sehnsucht und Skepsis verbinden sich zu einer Melodie, die über alle Widerstände hinwegträgt.
Der ödipal aufgeladene späte Pubertätstaumel Hamlets ist gewiss eine Zumutung. Dessen Wut-, Trauer- und Liebesgesang klingt manchmal wie ein Stöhnen, manchmal auch frech herausfordernd nach gewollter Lärmbelästigung. Schon merkwürdig, dass der Student Hamlet ziemlich konfus aus Wittenberg nach Kopenhagen zurückkehrt und die ihm zuteilgewordene Aufklärung einen einzigen Effekt hatte: Er sieht Gespenster! Ist er nun einfach wahnsinnig oder bloß todtraurig? Leidet er an einer Depression, an schizothymen Schüben, an Verfolgungswahn – oder sieht er ganz klar, was los ist in seiner Traumbefangenheit? Christian Friedel, der jede Kraftpose vermeidet, seinen Hamlet aus Schwäche erst in der Musik nach und nach wieder zu sich und zur Entschlusskraft kommen lässt, kann diese langsam anschwellende Ekstase spielen. Aber sie schlüssig zu interpretieren, das hält er nicht für sinnvoll. Es ist ein Knoten, den man nicht auflösen sollte – und wer ihn einfach zerschlägt, weiß nichts vom Schmerz der Totenklage und von einer in die Irre gehenden, dabei dunkel eingefärbten jugendlichen Lebenswut.
Hamlet, der junge Intellektuelle, fühlt sich einer verlorenen Generation zugehörig, die nun unverschuldet in die Mühlen politischer Intrigen gerät. Christian Friedel, 1979 in Magdeburg geboren, kennt die Ohnmachtsgefühle eines Heranwachsenden der Nachwendezeit angesichts einer dem Osten verlorenen gegangenen Deutungshoheit über die eigene Geschichte. Wie sie zurückgewinnen? Indem man mit rückhaltloser Wucht eintaucht in die Sprache und die vergessenen Wörter neu buchstabiert. Mal flüsternd, mal schreiend, aber immer ihrer eigenen Melodie vertrauend. Ihr heller, durchdringender Klang fährt in den faulen Frieden so leicht hinein wie ein Messer durch das weiche Fleisch einer reifen Frucht. Hamlet selbst ist dieses Messer geworden, nur noch existierend, um zu schneiden, nach einem Opfer verlangend. Und es kreisen des Vaters nächtliche Traumworte, dieser Nebelauftrag, den er nur zu schnell ins klare Licht der Rache zu stellen bereit ist: »Höre, es war Mord!« Da tanzen eng umschlungen Wahn und Wahrheit, Traum und Klarsicht, Pathos und Ironie.
Solange Hamlet musiziert, mordet er nicht. Erst im zweiten Teil, wenn er von den Musen verlassen ist, beginnt das Unheil. Inzwischen, so Christian Friedel, haben diese Shakespeare-Vertonungen für die Bühne ihre Fortsetzung erfahren. Auch Armin Petras’ Inszenierung von Orwells »1984«, hier am Düsseldorfer Schauspielhaus, setzt auf den musikalischen »Big Brother« von Woods of Birnam. Gesungen wird auf Englisch, damit der besondere Klang der Sprache jederzeit spürbar bleibt.
Schließlich geht der Rhythmus von Shakespeares Worten mit denen des Pop eine so suggestive Verbindung ein, dass am Ende sicher scheint: Hamlet ist unter uns.
Gunnar Decker, geboren 1965, lebt als Autor in Berlin und ist Redakteur der Zeitschrift Theater der Zeit. Der promovierte Philosoph ist Verfasser biografischer Bücher zu Ernst Jünger, Hermann Hesse und Gottfried Benn.
Der Text ist erschienen im Spielzeitheft 2018/19.
Aber wer ist Hamlet? Bei Christian Friedel ein Popstar, aber einer auf abschüssiger Ebene, einer, der am Ende zerbricht. Die Bühne vorn ganz wie bei einem Rockkonzert. Technik regiert – und dahinter wie ein historistisches Ornament eine barocke Theatergalerie, darauf flegelt König Claudius mit seiner Frau und Hamlets Mutter Gertrud, der ganze Hofstaat hat sich versammelt zu des Prinzen Hamlets Wiederkehr.
Und so sehen wir ihn dann ans Mikrofon treten: schmal und blass, ein Nobody von heute. Die Stimme ebenso schmal, fast zaghaft der Beginn. Der Hofstaat blickt desinteressiert-freundlich herab. Von dem Jüngelchen da unten droht keine Gefahr. So denken sie. Aber dann geht es Schlag auf Schlag, Song für Song. Sein Auftrittslied: »I’ll call thee Hamlet« – eine Kampfansage, doch noch voller unverdorbener Sehnsucht und Trauer um den Vater. Friedels Prinz Hamlet ist nicht allein, er hat eine Band bei sich mit Namen »Woods of Birnam«, benannt nach den Wäldern, in denen Macbeth seinen Schlussmonolog hält, bevor er stirbt. Irgendwann ist auch das letzte Klagelied, die letzte Sehnsuchtsmelodie gesungen. Und dann?
Die dunklen Schatten kehren wieder. Es sind anfangs lauter kleine Einfälle, fixe Ideen, pure Gespensterseherei. Sie bleiben schließlich als unheimliche Gäste. Ist Hamlets Krankheit die der Melancholie, die aus zu viel schwarzer Galle kommt, wie die Medizin zu Shakespeares Zeiten vermutete? Oder ist es die Krankheit seiner Zeit, die nach ihm greift? Vatermord liegt in der Luft, aber Hamlets Vater ist bereits tot. Was liegt da näher, als ein Komplott zu vermuten und nach Rache am falschen Vater, dem Stiefvater, zu schreien? Inzwischen leben wir längst in antiautoritären Zeiten, zumindest geben sich alle gern den Anschein. Als Frontmann seiner Band probt Friedels Hamlet den Auftritt als Rebell. Klugerweise wird hier die klassische Schlegel/Tieck-Übersetzung gespielt – sie erdet Hamlets ekstatische Höhenflüge. Die Sprachgestalt ist nicht verhandelbar, nur der Rhythmus, die Betonungen. Da beginnt Schauspiel anders zu atmen. Christian Friedel mag die Schlegel/Tieck-Übersetzung gerade im Kontrast zu den englisch gesungenen Liedern. Hierbei entsteht auch eine verquere Komik, auf die Jugendliche im Publikum, selbst in Pubertätskrisen gefangen, wie befreit reagieren. Denn Hamlets Stärkeposen kommen aus Schwäche, seine der Umwelt verrückt vorkommenden Drohgebärden resultieren aus panisch versteckter Ratlosigkeit.
Alles hatte 2011 damit begonnen, so Christian Friedel, dass ihm in Dresden sein Auto gestohlen wurde. Im Auto war eine CD, das Debütalbum von »Polarkreis 18«, einer Dresdner Band. Die CD war nirgends mehr zu beschaffen, aber er wollte sie unbedingt wiederhaben. Darum hat er sich direkt an die Musiker gewandt. So kam der Kontakt zustande, und sie wurden Woods of Birnam. In »Hamlet« mit den Musikern auf der Bühne zu stehen, zwischen Mikrofonen, Steuerpulten, Instrumenten und Verstärkern, das schafft jene besondere Live-Atmosphäre, die Prinz Hamlet in seiner ganzen jugendlichen Orientierungslosigkeit zeigt. Sehnsucht und Skepsis verbinden sich zu einer Melodie, die über alle Widerstände hinwegträgt.
Der ödipal aufgeladene späte Pubertätstaumel Hamlets ist gewiss eine Zumutung. Dessen Wut-, Trauer- und Liebesgesang klingt manchmal wie ein Stöhnen, manchmal auch frech herausfordernd nach gewollter Lärmbelästigung. Schon merkwürdig, dass der Student Hamlet ziemlich konfus aus Wittenberg nach Kopenhagen zurückkehrt und die ihm zuteilgewordene Aufklärung einen einzigen Effekt hatte: Er sieht Gespenster! Ist er nun einfach wahnsinnig oder bloß todtraurig? Leidet er an einer Depression, an schizothymen Schüben, an Verfolgungswahn – oder sieht er ganz klar, was los ist in seiner Traumbefangenheit? Christian Friedel, der jede Kraftpose vermeidet, seinen Hamlet aus Schwäche erst in der Musik nach und nach wieder zu sich und zur Entschlusskraft kommen lässt, kann diese langsam anschwellende Ekstase spielen. Aber sie schlüssig zu interpretieren, das hält er nicht für sinnvoll. Es ist ein Knoten, den man nicht auflösen sollte – und wer ihn einfach zerschlägt, weiß nichts vom Schmerz der Totenklage und von einer in die Irre gehenden, dabei dunkel eingefärbten jugendlichen Lebenswut.
Hamlet, der junge Intellektuelle, fühlt sich einer verlorenen Generation zugehörig, die nun unverschuldet in die Mühlen politischer Intrigen gerät. Christian Friedel, 1979 in Magdeburg geboren, kennt die Ohnmachtsgefühle eines Heranwachsenden der Nachwendezeit angesichts einer dem Osten verlorenen gegangenen Deutungshoheit über die eigene Geschichte. Wie sie zurückgewinnen? Indem man mit rückhaltloser Wucht eintaucht in die Sprache und die vergessenen Wörter neu buchstabiert. Mal flüsternd, mal schreiend, aber immer ihrer eigenen Melodie vertrauend. Ihr heller, durchdringender Klang fährt in den faulen Frieden so leicht hinein wie ein Messer durch das weiche Fleisch einer reifen Frucht. Hamlet selbst ist dieses Messer geworden, nur noch existierend, um zu schneiden, nach einem Opfer verlangend. Und es kreisen des Vaters nächtliche Traumworte, dieser Nebelauftrag, den er nur zu schnell ins klare Licht der Rache zu stellen bereit ist: »Höre, es war Mord!« Da tanzen eng umschlungen Wahn und Wahrheit, Traum und Klarsicht, Pathos und Ironie.
Solange Hamlet musiziert, mordet er nicht. Erst im zweiten Teil, wenn er von den Musen verlassen ist, beginnt das Unheil. Inzwischen, so Christian Friedel, haben diese Shakespeare-Vertonungen für die Bühne ihre Fortsetzung erfahren. Auch Armin Petras’ Inszenierung von Orwells »1984«, hier am Düsseldorfer Schauspielhaus, setzt auf den musikalischen »Big Brother« von Woods of Birnam. Gesungen wird auf Englisch, damit der besondere Klang der Sprache jederzeit spürbar bleibt.
Schließlich geht der Rhythmus von Shakespeares Worten mit denen des Pop eine so suggestive Verbindung ein, dass am Ende sicher scheint: Hamlet ist unter uns.
Gunnar Decker, geboren 1965, lebt als Autor in Berlin und ist Redakteur der Zeitschrift Theater der Zeit. Der promovierte Philosoph ist Verfasser biografischer Bücher zu Ernst Jünger, Hermann Hesse und Gottfried Benn.
Der Text ist erschienen im Spielzeitheft 2018/19.
Besetzung
Claudius, König von DänemarkGlenn Goltz
Gertrud, Königin von Dänemark, Hamlets MutterClaudia Hübbecker
Hamlet, Prinz von Dänemark und Neffe des ClaudiusChristian Friedel
Polonius, OberkämmererThomas Wittmann
Horatio, Freund von Hamlet und MitstudentChristian Clauß
Laertes, Sohn von PoloniusFlorian Lange
Ophelia, Tochter von Polonius / TotengräberCennet Rüya Voß
Rosenkranz, HöflingOrlando Lenzen
Güldenstern, HöflingRoman Wieland
Woods of BirnamChristian Friedel (Gesang / Klavier), Onno Dreier (Klavier / Synthesizer), Philipp Makolies (Gitarre), Christian Grochau (Schlagzeug), Uwe Pasora (Bass)
RegieRoger Vontobel
BühneClaudia Rohner
KostümEllen Hofmann
MusikWoods of Birnam
DramaturgieRobert Koall
Dauer
3 Stunden, 30 Minuten — eine Pause