kurz
Laura Elisa Nunziante verfasst Liebesbriefe auf Bestellung. Werther würde sie vor allem eins raten: nicht so viele Seiten
»Dass ich darüber zu Grunde gehen würde! Dass ich mich schonen sollte! O der Engel! Um deinetwillen muss ich leben.« Hätte Werther mich angerufen, hätte ich ihm von diesen Zeilen abgeraten. Viel zu überladen, viel zu unterwürfig. »Chill mal«, hätte ich ihm mit auf den Weg gegeben. Überhaupt: Mussten es so unfassbar viele Seiten werden?
Das ist es auch, was ich meinen Kunden – meist sind sie männlich und zwischen dreißig und fünfzig Jahre alt – in dem etwa einstündigen Vorgespräch sage: Halten Sie sich kurz, schreiben Sie nie mehr als zwei Seiten. Bleiben Sie klar und strukturiert; verlieren Sie sich nicht im Gesagten. Im Liebesbrief wirkt die ständige Wiederholung langweilig. Wir alle haben ja keine Zeit mehr.
Einen perfekten Liebesbrief gibt es nicht. Aber es gibt handwerkliche Regeln, die ich befolge. Von einer Ansprache mit »Liebe« rate ich immer ab. Ein einfaches »Sophie!« dringt viel stärker in das Bewusstsein der Empfängerin, und auch das häufig verwendete »Dein« am Ende schafft nur Distanz, wo Nähe entstehen soll. Vergleiche wie »Deine Lippen sind so rot wie Rosen « oder »Deine Augen funkeln hell wie Sterne am Himmel« gehen gar nicht. Goethe befand sich in der glücklichen Position, Klischees noch erfinden zu dürfen. Wir sind da leider weiter, alles wurde schon gesagt. Am besten findet der moderne Absender für seinen Liebesbrief individuelle Details an der geliebten Person, die er in den Brief einfließen lässt. Etwas nie zuvor Gelesenes wirkt am besten, denn schließlich gibt es die Person der Begierde auch nur ein einziges Mal. Verwechslungen ausgeschlossen.
Den Impuls, dem der junge Werther folgt, wenn er Lotte verlässt, verspüren auch viele der unglücklich Verliebten, die sich an mich wenden. Wenn die Flucht nach vorn allerdings Enttäuschung bringt, zieht es die Liebenden unweigerlich zurück zur einst gefühlten Leidenschaft. Auch wenn wir heute bis nach Australien auswandern könnten, um auf einer Orangenplantage zu arbeiten: Gefühle reisen immer mit. Das habe ich in den Gesprächen mit meinen Liebeskranken, die ich über den ganzen Erdball betreue, gelernt. Wohin also mit all der Verzweiflung, die auch den jungen Werther heimsucht? Er verstrickt sich immer mehr in seine unglückliche Liebe. Zu seinem Ende hin wendet er sich dann endlich direkt an Lotte und nicht mehr wie zuvor an seinen Freund Wilhelm. Bei mir läuft das ähnlich: Meist soll ich den Brief erst schreiben, wenn alles zu spät ist. Und doch kommen viele meiner Kunden immer wieder zu mir. Den Liebesbrief sehen viele als letzte Rettung.
Wir haben die Möglichkeit, unsere Gefühle über die verschiedensten digitalen Kanäle auszudrücken. Meine Kunden wollen einen Brief von mir, weil sie ihn mit der Hand abschreiben können – heute ist das ja ein unfassbar aufwändiger Akt – oder weil er sich in seiner langsamen Lesart bewusst gegen die schnell ablaufende Zeit stellt.
Als ich während meines Studiums als Nebenverdienst meinen ersten Brief im Auftrag schrieb, war ich recht naiv. Ich glaubte fest daran, dass mein Brief eine fremde Beziehung retten könne. Aber nach Hunderten von Briefen weiß ich: Wo keine Gefühle sind, hilft nichts Handgeschriebenes mehr – und doch tut es den Absendern gut, die eigenen Gedanken auf dem Papier niedergeschrieben zu sehen. Quasi als ewiges Zeugnis der Liebe. Nicht auf einer Festplatte zu speichern und dennoch unlöschbar.
Ich habe in den vergangenen zehn Jahren, in denen ich für andere Menschen Liebesbriefe schrieb, viel über die Liebe gelernt. Egal in welche Richtung sie geht und an welches Geschlecht sie sich wendet: Sie kämpft mit härteren Waffen als der Verstand. Wo sie ausbricht, da ist nichts mehr unmöglich.
Laura Elisa Nunziante, geboren 1986, ist Werbetexterin und Autorin. Sie hat in London Creative Writing studiert und bei Saatchi & Saatchi in Frankfurt gearbeitet. Beim MDR Literaturwettbewerb »Die besten Kurzgeschichten 2015« in Leipzig erhielt sie eine Auszeichnung.
Der Text ist erschienen im Spielzeitheft 2018/19.
Das ist es auch, was ich meinen Kunden – meist sind sie männlich und zwischen dreißig und fünfzig Jahre alt – in dem etwa einstündigen Vorgespräch sage: Halten Sie sich kurz, schreiben Sie nie mehr als zwei Seiten. Bleiben Sie klar und strukturiert; verlieren Sie sich nicht im Gesagten. Im Liebesbrief wirkt die ständige Wiederholung langweilig. Wir alle haben ja keine Zeit mehr.
Einen perfekten Liebesbrief gibt es nicht. Aber es gibt handwerkliche Regeln, die ich befolge. Von einer Ansprache mit »Liebe« rate ich immer ab. Ein einfaches »Sophie!« dringt viel stärker in das Bewusstsein der Empfängerin, und auch das häufig verwendete »Dein« am Ende schafft nur Distanz, wo Nähe entstehen soll. Vergleiche wie »Deine Lippen sind so rot wie Rosen « oder »Deine Augen funkeln hell wie Sterne am Himmel« gehen gar nicht. Goethe befand sich in der glücklichen Position, Klischees noch erfinden zu dürfen. Wir sind da leider weiter, alles wurde schon gesagt. Am besten findet der moderne Absender für seinen Liebesbrief individuelle Details an der geliebten Person, die er in den Brief einfließen lässt. Etwas nie zuvor Gelesenes wirkt am besten, denn schließlich gibt es die Person der Begierde auch nur ein einziges Mal. Verwechslungen ausgeschlossen.
Den Impuls, dem der junge Werther folgt, wenn er Lotte verlässt, verspüren auch viele der unglücklich Verliebten, die sich an mich wenden. Wenn die Flucht nach vorn allerdings Enttäuschung bringt, zieht es die Liebenden unweigerlich zurück zur einst gefühlten Leidenschaft. Auch wenn wir heute bis nach Australien auswandern könnten, um auf einer Orangenplantage zu arbeiten: Gefühle reisen immer mit. Das habe ich in den Gesprächen mit meinen Liebeskranken, die ich über den ganzen Erdball betreue, gelernt. Wohin also mit all der Verzweiflung, die auch den jungen Werther heimsucht? Er verstrickt sich immer mehr in seine unglückliche Liebe. Zu seinem Ende hin wendet er sich dann endlich direkt an Lotte und nicht mehr wie zuvor an seinen Freund Wilhelm. Bei mir läuft das ähnlich: Meist soll ich den Brief erst schreiben, wenn alles zu spät ist. Und doch kommen viele meiner Kunden immer wieder zu mir. Den Liebesbrief sehen viele als letzte Rettung.
Wir haben die Möglichkeit, unsere Gefühle über die verschiedensten digitalen Kanäle auszudrücken. Meine Kunden wollen einen Brief von mir, weil sie ihn mit der Hand abschreiben können – heute ist das ja ein unfassbar aufwändiger Akt – oder weil er sich in seiner langsamen Lesart bewusst gegen die schnell ablaufende Zeit stellt.
Als ich während meines Studiums als Nebenverdienst meinen ersten Brief im Auftrag schrieb, war ich recht naiv. Ich glaubte fest daran, dass mein Brief eine fremde Beziehung retten könne. Aber nach Hunderten von Briefen weiß ich: Wo keine Gefühle sind, hilft nichts Handgeschriebenes mehr – und doch tut es den Absendern gut, die eigenen Gedanken auf dem Papier niedergeschrieben zu sehen. Quasi als ewiges Zeugnis der Liebe. Nicht auf einer Festplatte zu speichern und dennoch unlöschbar.
Ich habe in den vergangenen zehn Jahren, in denen ich für andere Menschen Liebesbriefe schrieb, viel über die Liebe gelernt. Egal in welche Richtung sie geht und an welches Geschlecht sie sich wendet: Sie kämpft mit härteren Waffen als der Verstand. Wo sie ausbricht, da ist nichts mehr unmöglich.
Laura Elisa Nunziante, geboren 1986, ist Werbetexterin und Autorin. Sie hat in London Creative Writing studiert und bei Saatchi & Saatchi in Frankfurt gearbeitet. Beim MDR Literaturwettbewerb »Die besten Kurzgeschichten 2015« in Leipzig erhielt sie eine Auszeichnung.
Der Text ist erschienen im Spielzeitheft 2018/19.
Besetzung
RegieFabian Rosonsky
AusstattungSarah Methner
MusikMatts Johan Leenders
DramaturgieDavid Benjamin Brückel
In Kooperation mit dem Goethe-Museum Düsseldorf
In Kooperation mit dem Goethe- Museum bieten wir einen theaterpädagogischen Workshop inkl. Museumsführung an. Weitere Informationen und Anmeldung: Silke Hoffmann, 0211 899 6268, silke.hoffmann@duesseldorf.de