fix und fertig
Ein fiktives Gespräch mit Erich Kästner (1899–1974) — von David Benjamin Brückel
Erinnern Sie sich an Ihre Kindheit, Herr Kästner?
»Seitdem sind mehr als hundert Jahre vergangen«, erklärt nüchtern der Kalender. »Nein!«, ruft die Erinnerung. »Es war gestern! Oder allerhöchstens vorgestern.« Beide haben recht. Es gibt zweierlei Zeit. Die eine kann man messen, wie man Straßen und Grundstücke ausmisst. Unsere Erinnerung aber, die andere Zeitrechnung, hat mit Meter und Monat, mit Jahrzehnt und Hektar nichts zu schaffen. Der Maßstab ist nicht die Uhr, sondern der Wert. Und das Wertvollste, ob lustig oder traurig, ist die Kindheit. Die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut. Sie vergessen sie wie eine alte Telefonnummer, die nicht mehr gilt. Ihr Leben kommt ihnen vor wie eine Dauerwurst, die sie allmählich aufessen, und was gegessen worden ist, existiert nicht mehr. Früher waren sie Kinder, dann wurden sie Erwachsene, aber was sind sie nun? Nur wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist ein Mensch.
Wie erwecken Sie Ihre Figuren so zum Leben, dass sie für die Kinder glaubwürdig sind?
Es geht nicht darum, dass der Autor die »wirklichen« Kinder in ihren verschiedenen Altersstufen genauestens studiert. Ausschlaggebend scheint mir, dass der Autor, von seinem Talent abgesehen, selber fähig ist, sich seiner eigenen Kindheit zu erinnern und während des Fabulierens, im engsten Kontakt mit dieser Erinnerung, nachzuempfinden.
Haben Ihre Figuren reale Vorbilder?
Manches in den Geschichten ist natürlich wirklich passiert, aber alles? Nun stellen sich viele Leser, große und kleine, breitbeinig hin und erklären:
»Wenn das, was Sie zusammengeschrieben haben, nicht passiert ist, dann lässt es uns eiskalt.« Und da möchte ich antworten: Ob wirklich passiert oder nicht, das ist egal. Hauptsache, dass die Geschichte wahr ist! Wahr ist eine Geschichte dann, wenn sie genau so, wie sie berichtet wird, wirklich hätte passieren können. Eine Geschichte, ein Roman, ein Märchen – diese Dinge gleichen den Lebewesen, und vielleicht sind es sogar welche. Sie haben ihren Kopf, ihre Beine, ihren Blutkreislauf und ihren Anzug wie richtige Menschen. Und wenn ihnen die Nase im Gesicht fehlt oder wenn sie zwei verschiedene Schuhe anhaben, merkt man es bei genauem Zusehen.
Die Geschichte um die Zwillingsschwestern Luise und Lotte ist eine Verwechslungskomödie mit tieferem Sinn. Die beiden schmieden einen tollkühnen Plan, um ihren Eltern einen Denkzettel zu verpassen. Wie kommt das Thema Scheidung in das Buch?
Eigentlich hatte ich ein ganz anderes Buch schreiben wollen. Ein Buch, in dem, vor lauter Angst, die Tiger mit den Zähnen und die Dattelpalmen mit den Kokosnüssen klappern sollten. Einen richtigen Südseeroman hatte ich vor. Und die ersten drei Kapitel waren schon fix und fertig. Plötzlich wusste ich nicht mehr, wie viel Beine ein Walfisch hat! Mein Südseeroman scheiterte sozusagen an den Beinen des Walfischs. Mir tat es schrecklich leid. Ich legte mich längelang auf den Fußboden und vertrieb mir die Zeit mit tiefem Nachdenken. Wenn man so der Länge nach in der Stube liegt, kriegt die Welt ein ganz anderes Gesicht. Spaß beiseite! Es gibt auf der Welt sehr viele geschiedene Eltern, und es gibt sehr viele Kinder, die darunter leiden! Und es gibt sehr viele andere Kinder, die darunter leiden, dass die Eltern sich nicht scheiden lassen! Wenn man aber den Kindern zumutet, unter diesen Umständen zu leiden, dann ist es doch wohl allzu zartfühlend und außerdem verkehrt, nicht mit ihnen darüber in verständiger und verständlicher Form zu sprechen!
Und wie vertragen sich die heiteren mit den traurigeren Tönen?
Ein Kind hatte Kummer. Hätte ich’s euch nicht erzählen sollen? Das wäre falsch gewesen. Kummer gibt es, glaube ich, wie es Hagelschlag und Waldbrände gibt. Man kann sich eine glücklichere Welt als die unsrige ausmalen. Durch rosarote Brillen sieht die Welt rosarot aus. Das mag ein hübscher Anblick sein, aber es handelt sich um eine optische Täuschung. Es liegt an der Brille und nicht an der Welt. Es gibt auch Optiker – ich meine eigentlich Dichter und Philosophen –, die den Leuten Brillen mit schwarzen Gläsern verkaufen, und schon ist die Erde ein Jammertal und ein hoffnungslos verfinsterter Stern. Das Leben ist nicht nur rosafarben und nicht nur schwarz, sondern bunt. Es gibt gute Menschen und böse Menschen und die guten sind mitunter böse und die bösen manchmal gut. Wir können lachen und weinen, und zuweilen weinen wir, als könnten wir nie wieder lachen, oder wir lachen so herzlich, als hätten wir nie vorher geweint. Wir haben Glück und haben Unglück, und Glück im Unglück gibt es auch. Ich hatte geweint, als könne ich nie wieder lachen. Und ich konnte wieder lachen, als hätte ich nie geweint.
Warum ist es so wichtig, die Dinge in die eigene Hand zu nehmen?
Wir wollen nicht auf gut Glück und auf gut Wetter warten, nicht auf den Zufall und den Himmel harren, nicht auf die politische Konstellation und die historische Entwicklung hoffen. Wenn Millionen Menschen nicht nur neben-, sondern miteinander leben wollen, kommt es auf jeden und jede an. Wir müssen unser Teil Verantwortung für das, was geschieht, und für das, was unterbleibt, in die eigenen Hände nehmen. Wenn Unrecht geschieht, wenn Not herrscht, wenn Dummheit waltet, wenn Hass gesät wird, wenn Muckertum sich breitmacht, wenn Hilfe verweigert wird – stets ist jeder Einzelne zur Abhilfe mit aufgerufen, nicht nur die jeweils zuständige
»Stelle«. Jeder ist mitverantwortlich für das, was geschieht, und für das, was unterbleibt.
— Die Fragen stellte der Dramaturg David Benjamin Brückel. Die Antworten gab Erich Kästner in folgenden Büchern: »Als ich ein kleiner Junge war«, »Das doppelte Lottchen«, »Das fliegende Klassenzimmer«, »Die kleine Freiheit. Chansons und Prosa 1949 – 1952«, »Emil und die Detektive«, »Pünktchen und Anton« sowie »Dieses Na ja!, wenn man das nicht hätte! Ausgewählte Briefe von 1909 bis 1972«.
Erich Kästner (1899 – 1974) gehört als Schriftsteller, Publizist, Drehbuchautor und Kabarettdichter zu den bekanntesten der deutschen Sprache. Er schrieb zahlreiche Familienromane. Kästner bezeichnete sich als Moralist. Er glaubte an den gesunden Menschenverstand wie an ein Wunder, und so wäre alles gut und schön, wenn er an Wunder geglaubt hätte, doch ebendas verbot ihm der gesunde Menschenverstand.
Der Text erschien im Spielzeitheft 2019/20.
»Seitdem sind mehr als hundert Jahre vergangen«, erklärt nüchtern der Kalender. »Nein!«, ruft die Erinnerung. »Es war gestern! Oder allerhöchstens vorgestern.« Beide haben recht. Es gibt zweierlei Zeit. Die eine kann man messen, wie man Straßen und Grundstücke ausmisst. Unsere Erinnerung aber, die andere Zeitrechnung, hat mit Meter und Monat, mit Jahrzehnt und Hektar nichts zu schaffen. Der Maßstab ist nicht die Uhr, sondern der Wert. Und das Wertvollste, ob lustig oder traurig, ist die Kindheit. Die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut. Sie vergessen sie wie eine alte Telefonnummer, die nicht mehr gilt. Ihr Leben kommt ihnen vor wie eine Dauerwurst, die sie allmählich aufessen, und was gegessen worden ist, existiert nicht mehr. Früher waren sie Kinder, dann wurden sie Erwachsene, aber was sind sie nun? Nur wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist ein Mensch.
Wie erwecken Sie Ihre Figuren so zum Leben, dass sie für die Kinder glaubwürdig sind?
Es geht nicht darum, dass der Autor die »wirklichen« Kinder in ihren verschiedenen Altersstufen genauestens studiert. Ausschlaggebend scheint mir, dass der Autor, von seinem Talent abgesehen, selber fähig ist, sich seiner eigenen Kindheit zu erinnern und während des Fabulierens, im engsten Kontakt mit dieser Erinnerung, nachzuempfinden.
Haben Ihre Figuren reale Vorbilder?
Manches in den Geschichten ist natürlich wirklich passiert, aber alles? Nun stellen sich viele Leser, große und kleine, breitbeinig hin und erklären:
»Wenn das, was Sie zusammengeschrieben haben, nicht passiert ist, dann lässt es uns eiskalt.« Und da möchte ich antworten: Ob wirklich passiert oder nicht, das ist egal. Hauptsache, dass die Geschichte wahr ist! Wahr ist eine Geschichte dann, wenn sie genau so, wie sie berichtet wird, wirklich hätte passieren können. Eine Geschichte, ein Roman, ein Märchen – diese Dinge gleichen den Lebewesen, und vielleicht sind es sogar welche. Sie haben ihren Kopf, ihre Beine, ihren Blutkreislauf und ihren Anzug wie richtige Menschen. Und wenn ihnen die Nase im Gesicht fehlt oder wenn sie zwei verschiedene Schuhe anhaben, merkt man es bei genauem Zusehen.
Die Geschichte um die Zwillingsschwestern Luise und Lotte ist eine Verwechslungskomödie mit tieferem Sinn. Die beiden schmieden einen tollkühnen Plan, um ihren Eltern einen Denkzettel zu verpassen. Wie kommt das Thema Scheidung in das Buch?
Eigentlich hatte ich ein ganz anderes Buch schreiben wollen. Ein Buch, in dem, vor lauter Angst, die Tiger mit den Zähnen und die Dattelpalmen mit den Kokosnüssen klappern sollten. Einen richtigen Südseeroman hatte ich vor. Und die ersten drei Kapitel waren schon fix und fertig. Plötzlich wusste ich nicht mehr, wie viel Beine ein Walfisch hat! Mein Südseeroman scheiterte sozusagen an den Beinen des Walfischs. Mir tat es schrecklich leid. Ich legte mich längelang auf den Fußboden und vertrieb mir die Zeit mit tiefem Nachdenken. Wenn man so der Länge nach in der Stube liegt, kriegt die Welt ein ganz anderes Gesicht. Spaß beiseite! Es gibt auf der Welt sehr viele geschiedene Eltern, und es gibt sehr viele Kinder, die darunter leiden! Und es gibt sehr viele andere Kinder, die darunter leiden, dass die Eltern sich nicht scheiden lassen! Wenn man aber den Kindern zumutet, unter diesen Umständen zu leiden, dann ist es doch wohl allzu zartfühlend und außerdem verkehrt, nicht mit ihnen darüber in verständiger und verständlicher Form zu sprechen!
Und wie vertragen sich die heiteren mit den traurigeren Tönen?
Ein Kind hatte Kummer. Hätte ich’s euch nicht erzählen sollen? Das wäre falsch gewesen. Kummer gibt es, glaube ich, wie es Hagelschlag und Waldbrände gibt. Man kann sich eine glücklichere Welt als die unsrige ausmalen. Durch rosarote Brillen sieht die Welt rosarot aus. Das mag ein hübscher Anblick sein, aber es handelt sich um eine optische Täuschung. Es liegt an der Brille und nicht an der Welt. Es gibt auch Optiker – ich meine eigentlich Dichter und Philosophen –, die den Leuten Brillen mit schwarzen Gläsern verkaufen, und schon ist die Erde ein Jammertal und ein hoffnungslos verfinsterter Stern. Das Leben ist nicht nur rosafarben und nicht nur schwarz, sondern bunt. Es gibt gute Menschen und böse Menschen und die guten sind mitunter böse und die bösen manchmal gut. Wir können lachen und weinen, und zuweilen weinen wir, als könnten wir nie wieder lachen, oder wir lachen so herzlich, als hätten wir nie vorher geweint. Wir haben Glück und haben Unglück, und Glück im Unglück gibt es auch. Ich hatte geweint, als könne ich nie wieder lachen. Und ich konnte wieder lachen, als hätte ich nie geweint.
Warum ist es so wichtig, die Dinge in die eigene Hand zu nehmen?
Wir wollen nicht auf gut Glück und auf gut Wetter warten, nicht auf den Zufall und den Himmel harren, nicht auf die politische Konstellation und die historische Entwicklung hoffen. Wenn Millionen Menschen nicht nur neben-, sondern miteinander leben wollen, kommt es auf jeden und jede an. Wir müssen unser Teil Verantwortung für das, was geschieht, und für das, was unterbleibt, in die eigenen Hände nehmen. Wenn Unrecht geschieht, wenn Not herrscht, wenn Dummheit waltet, wenn Hass gesät wird, wenn Muckertum sich breitmacht, wenn Hilfe verweigert wird – stets ist jeder Einzelne zur Abhilfe mit aufgerufen, nicht nur die jeweils zuständige
»Stelle«. Jeder ist mitverantwortlich für das, was geschieht, und für das, was unterbleibt.
— Die Fragen stellte der Dramaturg David Benjamin Brückel. Die Antworten gab Erich Kästner in folgenden Büchern: »Als ich ein kleiner Junge war«, »Das doppelte Lottchen«, »Das fliegende Klassenzimmer«, »Die kleine Freiheit. Chansons und Prosa 1949 – 1952«, »Emil und die Detektive«, »Pünktchen und Anton« sowie »Dieses Na ja!, wenn man das nicht hätte! Ausgewählte Briefe von 1909 bis 1972«.
Erich Kästner (1899 – 1974) gehört als Schriftsteller, Publizist, Drehbuchautor und Kabarettdichter zu den bekanntesten der deutschen Sprache. Er schrieb zahlreiche Familienromane. Kästner bezeichnete sich als Moralist. Er glaubte an den gesunden Menschenverstand wie an ein Wunder, und so wäre alles gut und schön, wenn er an Wunder geglaubt hätte, doch ebendas verbot ihm der gesunde Menschenverstand.
Der Text erschien im Spielzeitheft 2019/20.
Besetzung
Lotte KörnerSina Dresp
Luise PalfyEmilia de Fries
Luiselotte Körner / Frau Muthesius, Ferienheimleiterin / Steffi, Kind im FerienheimElena Hollender
Ludwig Palfy / Erich, Kind im FerienheimPaul Jumin Hoffmann
Irene Gerlach, die Geliebte von Ludwig Palfy / Resi, Luises Kindermädchen / Anni Habersetzer, Schulkameradin von Lotte / Trude, Kind im Ferienheim / Lehrerin, MünchenEva Maria Schindele
Ulrich, Erzieher im Ferienheim / Frau Wagenthaler, Besitzerin des Viktualiengeschäftes / Lehrer, Wien / Postbeamter 1, MünchenBernhard Schmidt-Hackenberg
Hofrat Strobl, Arzt / Lehrer, Wien / Chefredakteur, Chef von Frau Körner / Christian, Kind im Ferienheim / Postbeamter 2, MünchenAli Aykar
ChorEnsemble
Musiker*innenZuzana Leharová, Mikes Lücker
RegieRobert Gerloff
BühneMaximilian Lindner
KostümCátia Palminha
MusikCornelius Borgolte
ChoreografieHans Beenhakker
LichtChristian Schmidt
DramaturgieDavid Benjamin Brückel
TheaterpädagogikThiemo Hackel
Dauer
1 Stunde, 15 Minuten