Jagger
Weltkrieg zwischen Zeilenbauten — Die Autorin Helene Hegemann und der Regisseur
Simon Solberg im Gespräch über unser prärevolutionäres Dasein
Simon Solberg im Gespräch über unser prärevolutionäres Dasein
Das Kleine Haus am Gustaf-Gründgens-Platz feiert am 22. September 2019 seine Wiedereröffnung mit der Uraufführung von Helene Hegemanns Roman »Bungalow«. Regie führt Simon Solberg, der die Autorin vorab zum Gespräch traf.
Solberg — Welche Bungalowsiedlung hast du eigentlich beschrieben?
Hegemann — Hansaviertel, Berlin.
Solberg — Das kenne ich. Ich bin dort früher öfter mit meinem Hund vorbeigeflitzt. Das war, wie in eine andere Welt einzutauchen, plötzlich siehst du keine Hochhäuser mehr, sondern hohe Tannen und diese Bungalows. Ein gallisches Dorf mitten in der City.
Hegemann — Inzwischen wohnen da Leute wie Dieter Kosslick.
Solberg — Wie bist du darauf gekommen?
Hegemann — Ach. Sagen wir mal, ich kenne da ein paar Leute.
Solberg — Verstehe!
Hegemann — Als ich zum ersten Mal dort war, habe ich mich wirklich gefragt, warum das noch nie für einen Event-Dreiteiler auf ProSieben missbraucht wurde, Thema: Abgrund zwischen sozialen Schichten – der da eben zu so einer friedlichen Koexistenz geworden und am Stagnieren ist. Das Viertel in »Bungalow« ist natürlich eine fiktionalisierte, völlig überzogene Version davon. Und trotzdem: Da geht auch in echt gerne mal eine Hochhausbewohnerin, früher Krankenschwester und jetzt Hartz IV, mit den Katzen eines Bungalowbewohners an der Flexileine spazieren für fünf Euro die Stunde. Solche Überschneidungen passieren da, glaube ich, wirklich ab und zu. Bot sich aber vor allem architektonisch an.
Solberg — Ich feiere das total an deinem Roman. Dieses ständige Hin-und-her-geworfen-Sein zwischen slapstickartigen, absurden Vorgängen, wie du sie gerade beschrieben hast, und auf der anderen Seite den Selbstmordwellen, Drohnen und Explosionen. Dass alle Kriege, die wir nur durch den Fernseher kennen, plötzlich bei uns stattfinden. Auch die Beziehung zwischen Charlie und der Mutter habe ich komplett systemisch gelesen, so als würde uns all das wegbrechen, von dem wir annahmen, uns immer darauf verlassen zu können. Beim Lesen dachte ich: Wie krass, dass du ein Gefühl einfängst, das ich sehr mit unserer Gegenwart verbinde! Eigentlich hast du ein prärevolutionäres Gesellschaftsporträt geschrieben.
Hegemann — Finde ich eine gute Einordnung. Einige Kritiker haben das ja als weit hergeholte, dystopische Neuerfindung gedeutet, auf eine ausgedachte Härte hin, die unnötigerweise die Härte der Story potenziert. Also die Geschichte zwischen dem Mädchen und seiner alkoholkranken Mutter sei doch schon hart genug, hätte es da nicht auch eine gut ausgewogene Sozialabhandlung getan?
Solberg — Keinesfalls!
Hegemann — Ganz genau.
Solberg — Nur weil wir uns, wie die Föhnfrisur aus Amiland, gedanklich und physisch eine Mauer um Europa bauen, heißt es doch nicht, dass all das Grauen nicht trotzdem stattfindet. Und da so restriktive Maßnahmen die globale Entwicklung nicht werden aufhalten können, brauchen wir einen emanzipatorischen Vorgang, wie ihn deine Protagonistin Charlie vollzieht, um uns von den bestehenden Verhältnissen zu lösen, bevor uns der ganze Laden um die Ohren fliegt. Denn es wird eine Revolution in irgendeiner Form geben, sei es sozial oder digital, und unsere Situation in zwanzig oder dreißig Jahren wird sehr wenig mit dem Jetzt zu tun haben.
Hegemann — Was mich dabei so wundert, ist, dass den wenigsten Menschen bewusst ist, wie sehr sich die Verhältnisse bereits geändert haben. Simples Beispiel: Kaum jemand geht souverän damit um, dass ein kiffender Teenager, der Gitarre spielt und in gebatikten Festivalhosen rumläuft, eben nicht gegen das System ist, sondern es bestätigt. Die einzige solide Gegenbewegung der Jugend besteht an der Grenze zum Rechtsextremismus. Das ist heute das Äquivalent zu dem, was in den Sechzigern die Hippies waren. Und das kommt nicht an! Wenn 15-jährige Typen in Brandenburg halb im Spaß, halb ernst schreien: »Wir sind Nazis und stolz drauf!«, dann sind das die Troublemaker, die Systemgegner. Ich will hier nichts glorifizieren, nicht falsch verstehen, ich wundere mich nur darüber, dass niemand das als einzig mögliche Opposition betrachtet und darauf überprüft. Rechtsextremismus ist eine Jugendbewegung, auch wenn sie in letzter Instanz von irgendwelchen Flachzangen gesteuert wird, die auf einem Rittergut in Schnellroda rumsitzen und da die Rechts-außen-AfD-Zentrale machen. Früher waren diese Figuren eben Leute wie Mick Jagger. Jetzt sind es langweilige, dumme, harte Unmenschen.
Solberg — Gruselig … Es wird uns ja auch immer suggeriert, dass der Kapitalismus das unserer menschlichen Natur am nächsten stehende System sei. Wie ein Naturgesetz, gegen das man nichts machen könne. »Finanzkrise? Arm und reich? Das hat der Markt gemacht! Wieso? Ja, das ist eine hochkomplexe Matrix, den Markt können nur Experten durchblicken« – die dann täglich im Fernsehen rauf und runter dazu befragt werden! Und die einem vermitteln, dass Wachstum und Deregulierung zum Wohle aller sind, obwohl beides zu prekären Arbeitsverhältnissen, immer mehr Hungernden und einer gewaltigen Spaltung zwischen Arm und Reich geführt hat. Die Umwelt samt Klima haben wir so ganz nebenbei auch noch geschrottet. Die Grenzen des Wachstums wurden längst überschritten, trotzdem werden wir weiter mit Hochdruck ins Funktionieren im Berufsleben sozialisiert. Immer mehr Leute fühlen sich abgehängt oder empfinden, dass wir mit 250 Sachen auf eine Wand zubrettern, doch noch überwiegt die Ohnmacht gegenüber der Wut, wahrscheinlich weil wir in all der Informationsflut unserem Blick auf die Welt nicht trauen.
Hegemann — Allmählich kommen die Leute aber dahinter.
Solberg — Der Vierte Weltkrieg findet dann in uns statt.
Hegemann — Ja. Oder – um mal schnell mich selbst zu zitieren – es gibt nicht vier oder fünf Kriege in der Welt. Sondern sieben Milliarden.
Aufgezeichnet von Dramaturgin Janine Ortiz für das Spielzeitheft 2019/20
Solberg — Welche Bungalowsiedlung hast du eigentlich beschrieben?
Hegemann — Hansaviertel, Berlin.
Solberg — Das kenne ich. Ich bin dort früher öfter mit meinem Hund vorbeigeflitzt. Das war, wie in eine andere Welt einzutauchen, plötzlich siehst du keine Hochhäuser mehr, sondern hohe Tannen und diese Bungalows. Ein gallisches Dorf mitten in der City.
Hegemann — Inzwischen wohnen da Leute wie Dieter Kosslick.
Solberg — Wie bist du darauf gekommen?
Hegemann — Ach. Sagen wir mal, ich kenne da ein paar Leute.
Solberg — Verstehe!
Hegemann — Als ich zum ersten Mal dort war, habe ich mich wirklich gefragt, warum das noch nie für einen Event-Dreiteiler auf ProSieben missbraucht wurde, Thema: Abgrund zwischen sozialen Schichten – der da eben zu so einer friedlichen Koexistenz geworden und am Stagnieren ist. Das Viertel in »Bungalow« ist natürlich eine fiktionalisierte, völlig überzogene Version davon. Und trotzdem: Da geht auch in echt gerne mal eine Hochhausbewohnerin, früher Krankenschwester und jetzt Hartz IV, mit den Katzen eines Bungalowbewohners an der Flexileine spazieren für fünf Euro die Stunde. Solche Überschneidungen passieren da, glaube ich, wirklich ab und zu. Bot sich aber vor allem architektonisch an.
Solberg — Ich feiere das total an deinem Roman. Dieses ständige Hin-und-her-geworfen-Sein zwischen slapstickartigen, absurden Vorgängen, wie du sie gerade beschrieben hast, und auf der anderen Seite den Selbstmordwellen, Drohnen und Explosionen. Dass alle Kriege, die wir nur durch den Fernseher kennen, plötzlich bei uns stattfinden. Auch die Beziehung zwischen Charlie und der Mutter habe ich komplett systemisch gelesen, so als würde uns all das wegbrechen, von dem wir annahmen, uns immer darauf verlassen zu können. Beim Lesen dachte ich: Wie krass, dass du ein Gefühl einfängst, das ich sehr mit unserer Gegenwart verbinde! Eigentlich hast du ein prärevolutionäres Gesellschaftsporträt geschrieben.
Hegemann — Finde ich eine gute Einordnung. Einige Kritiker haben das ja als weit hergeholte, dystopische Neuerfindung gedeutet, auf eine ausgedachte Härte hin, die unnötigerweise die Härte der Story potenziert. Also die Geschichte zwischen dem Mädchen und seiner alkoholkranken Mutter sei doch schon hart genug, hätte es da nicht auch eine gut ausgewogene Sozialabhandlung getan?
Solberg — Keinesfalls!
Hegemann — Ganz genau.
Solberg — Nur weil wir uns, wie die Föhnfrisur aus Amiland, gedanklich und physisch eine Mauer um Europa bauen, heißt es doch nicht, dass all das Grauen nicht trotzdem stattfindet. Und da so restriktive Maßnahmen die globale Entwicklung nicht werden aufhalten können, brauchen wir einen emanzipatorischen Vorgang, wie ihn deine Protagonistin Charlie vollzieht, um uns von den bestehenden Verhältnissen zu lösen, bevor uns der ganze Laden um die Ohren fliegt. Denn es wird eine Revolution in irgendeiner Form geben, sei es sozial oder digital, und unsere Situation in zwanzig oder dreißig Jahren wird sehr wenig mit dem Jetzt zu tun haben.
Hegemann — Was mich dabei so wundert, ist, dass den wenigsten Menschen bewusst ist, wie sehr sich die Verhältnisse bereits geändert haben. Simples Beispiel: Kaum jemand geht souverän damit um, dass ein kiffender Teenager, der Gitarre spielt und in gebatikten Festivalhosen rumläuft, eben nicht gegen das System ist, sondern es bestätigt. Die einzige solide Gegenbewegung der Jugend besteht an der Grenze zum Rechtsextremismus. Das ist heute das Äquivalent zu dem, was in den Sechzigern die Hippies waren. Und das kommt nicht an! Wenn 15-jährige Typen in Brandenburg halb im Spaß, halb ernst schreien: »Wir sind Nazis und stolz drauf!«, dann sind das die Troublemaker, die Systemgegner. Ich will hier nichts glorifizieren, nicht falsch verstehen, ich wundere mich nur darüber, dass niemand das als einzig mögliche Opposition betrachtet und darauf überprüft. Rechtsextremismus ist eine Jugendbewegung, auch wenn sie in letzter Instanz von irgendwelchen Flachzangen gesteuert wird, die auf einem Rittergut in Schnellroda rumsitzen und da die Rechts-außen-AfD-Zentrale machen. Früher waren diese Figuren eben Leute wie Mick Jagger. Jetzt sind es langweilige, dumme, harte Unmenschen.
Solberg — Gruselig … Es wird uns ja auch immer suggeriert, dass der Kapitalismus das unserer menschlichen Natur am nächsten stehende System sei. Wie ein Naturgesetz, gegen das man nichts machen könne. »Finanzkrise? Arm und reich? Das hat der Markt gemacht! Wieso? Ja, das ist eine hochkomplexe Matrix, den Markt können nur Experten durchblicken« – die dann täglich im Fernsehen rauf und runter dazu befragt werden! Und die einem vermitteln, dass Wachstum und Deregulierung zum Wohle aller sind, obwohl beides zu prekären Arbeitsverhältnissen, immer mehr Hungernden und einer gewaltigen Spaltung zwischen Arm und Reich geführt hat. Die Umwelt samt Klima haben wir so ganz nebenbei auch noch geschrottet. Die Grenzen des Wachstums wurden längst überschritten, trotzdem werden wir weiter mit Hochdruck ins Funktionieren im Berufsleben sozialisiert. Immer mehr Leute fühlen sich abgehängt oder empfinden, dass wir mit 250 Sachen auf eine Wand zubrettern, doch noch überwiegt die Ohnmacht gegenüber der Wut, wahrscheinlich weil wir in all der Informationsflut unserem Blick auf die Welt nicht trauen.
Hegemann — Allmählich kommen die Leute aber dahinter.
Solberg — Der Vierte Weltkrieg findet dann in uns statt.
Hegemann — Ja. Oder – um mal schnell mich selbst zu zitieren – es gibt nicht vier oder fünf Kriege in der Welt. Sondern sieben Milliarden.
Aufgezeichnet von Dramaturgin Janine Ortiz für das Spielzeitheft 2019/20
Besetzung
CharlieLea Ruckpaul
MutterJudith Rosmair
VaterFlorian Lange
GeorgSebastian Tessenow
MariaMinna Wündrich
IskenderJonas Friedrich Leonhardi
Regie und BühneSimon Solberg
BühneMaría Reyes Pérez
Kostüm und IllustrationMaike Storf
MusikMiles Perkin
LichtChristian Schmidt
DramaturgieJanine Ortiz
Dauer
1 Stunde, 45 Minuten — keine Pause
Liebe Lehrer*innen, wenn Sie weitere Informationen zu dieser Inszenierung wünschen,
wenden Sie sich bitte an den Theaterpädagogen Thiemo Hackel unter 0211. 85 23-402 oder
thiemo.hackel@dhaus.de
wenden Sie sich bitte an den Theaterpädagogen Thiemo Hackel unter 0211. 85 23-402 oder
thiemo.hackel@dhaus.de