#ungehorsam
Sophokles forderte mit »Antigone« vor 2 500 Jahren die Demokratie heraus; heute tun dies jugendliche Aktivist*innen — von Kirstin Hess
»Antigone« wurde vor etwa 2 500 Jahren uraufgeführt. Sophokles schrieb das Drama im antiken Griechenland, inmitten der ersten Ausgestaltung dessen, was sich Demokratie nennt. Experimentierfeld für eine Gesellschaft des Miteinanders, die nach der Verantwortung des Individuums fragt. Jeder Bürger durfte an den Versammlungen teilnehmen, jeder das Wort ergreifen. Es wurde miteinander gesprochen, die Dinge wurden ausgehandelt. Wer Teil der unterlegenen Minderheit war, akzeptierte das Ergebnis einer Abstimmung und verhielt sich loyal. Es gab Kritiker dieser direkten Demokratie: Sokrates stellte sich ganz und gar dagegen, politische Entscheidungen könnten nicht, so befand er, durch die einfache Mehrheit gewöhnlicher Bürger getroffen werden. Er verglich den Staat mit einem Schiff, das nicht durch einen Mehrheitsentscheid der Mitfahrenden zu lenken sei. Auch Aristoteles stand dieser offenen Form der Mitbestimmung skeptisch gegenüber. Er wollte den Bürgern lediglich das Recht einräumen, kompetente Vertreter zu wählen und von ihnen Rechenschaft zu fordern. Eines darf nicht unerwähnt bleiben: Weder Sklaven noch Frauen oder Fremde hatten ein Bürger- und damit Mitspracherecht. In dieser Zeit also verfasste Sophokles ein Drama, dessen Titelfigur weiblich ist, und mehr noch, sie ist eine Jugendliche, die mit ihrem Handeln Fragen an die Menschlichkeit stellt und mit ihrem zivilen Ungehorsam die Demokratie herausfordert.
Es waren immer wieder Einzelne, die mit ihrem Einsatz den Lauf der Geschichte veränderten. In den vergangenen Monaten erlebte die Welt, wie die mutige Rede der 18-jährigen Emma González nach dem Schulmassaker von Parkland in den USA landesweit die »March for Our Lives«-Bewegung auslöste. González war es, die vor Hunderttausenden in Washington für die Dauer des Attentats von sechs Minuten und zwanzig Sekunden schwieg, nachdem sie die Namen ihrer 17 getöteten Mitschüler*innen aufgerufen hatte. Für viele war das eine entscheidende Aufforderung zum Protest, in dessen Folge die Waffenlobby in den USA in Bedrängnis geriet.
Die 16-jährige Schwedin Greta Thunberg begann im Sommer 2018, freitags ihre Schule für eine bessere Klimapolitik zu bestreiken, und initiierte damit eine weltweite Jugendbewegung. Mit »Fridays for Future« stellen Kinder und Jugendliche klare Forderungen an die Politik. Mehrere Tausend in jeder Stadt, weltweit sind Millionen zum gemeinsamen Handeln für eine bessere Zukunft animiert. Inzwischen gibt es »Scientists for Future«, »Parents for Future« und andere Gruppen, die die Jugendlichen in ihren klimapolitischen Forderungen unterstützen.
Solch ziviler Ungehorsam kann zu einer Transformation des bestehenden politischen Systems führen. Ziviler Ungehorsam bedeutet in meinen Augen, offen, gesprächsbereit und gewaltfrei zu handeln. Dazu gehört auch die Bereitschaft, die für die Gesetzesübertretung verhängte Sanktion klaglos hinzunehmen. Selbstverständlich nur solange das Prinzip der Verhältnismäßigkeit seitens des Staates beachtet wird. Wer in diesem Sinn zivilen Ungehorsam leistet, stellt weder den Rechtsstaat noch die Demokratie als Staatsform infrage. Im Gegenteil: Es geht um die Verbesserung, nicht um die Zerstörung. In zivilem Ungehorsam Handelnde betonen ihr moralisches Recht auf Partizipation.
Antigone bringt ihr ganzes Sein, samt Seele und Körper, ein. Für eine Handvoll Erde riskiert sie ihr Leben, wenn sie entgegen Kreons Gebot ihren Bruder Polyneikes beerdigt und damit geltendes Recht bricht. Doch will sie nicht den Staat schwächen, sondern Menschlichkeit einfordern. Bei Sophokles entsteht daraus ein unauflösbarer Konflikt. Mit ihrem Handeln stellt Antigone die Demokratie vor große Fragen: Wo endet Menschlichkeit? Kann man das Recht auf Würde verwirken? Sind Menschenrechte teilbar?
Heute, 2 500 Jahre nach der Uraufführung, vermittelt uns Antigone die Möglichkeit von Selbstermächtigung. Sie zeigt, dass eine Minderheit nicht machtlos ist. Gerade weil sie sich nicht der Mehrheit anpasst, wird sie unwiderstehlich. »Mitlieben, nicht mithassen ist mein Teil«, ist Antigones Leitspruch. Sie fordert das Aushandeln von Entscheidungen ein. Sie zeigt, wie die, die in der Demokratie nicht gehört werden, sich Gehör verschaffen können.
Kirstin Hess ist Dramaturgin am Jungen Schauspiel. Sie arbeitete in der freien Szene Berlins, am Theater Junge Generation in Dresden und von 2011 bis 2016 am Grips Theater in Berlin. Außerdem ist Kirstin Hess Sprecherin des Arbeitskreises Theater für Junges Publikum NRW.
Der Text erschien im Spielzeitheft 2019/20.
Es waren immer wieder Einzelne, die mit ihrem Einsatz den Lauf der Geschichte veränderten. In den vergangenen Monaten erlebte die Welt, wie die mutige Rede der 18-jährigen Emma González nach dem Schulmassaker von Parkland in den USA landesweit die »March for Our Lives«-Bewegung auslöste. González war es, die vor Hunderttausenden in Washington für die Dauer des Attentats von sechs Minuten und zwanzig Sekunden schwieg, nachdem sie die Namen ihrer 17 getöteten Mitschüler*innen aufgerufen hatte. Für viele war das eine entscheidende Aufforderung zum Protest, in dessen Folge die Waffenlobby in den USA in Bedrängnis geriet.
Die 16-jährige Schwedin Greta Thunberg begann im Sommer 2018, freitags ihre Schule für eine bessere Klimapolitik zu bestreiken, und initiierte damit eine weltweite Jugendbewegung. Mit »Fridays for Future« stellen Kinder und Jugendliche klare Forderungen an die Politik. Mehrere Tausend in jeder Stadt, weltweit sind Millionen zum gemeinsamen Handeln für eine bessere Zukunft animiert. Inzwischen gibt es »Scientists for Future«, »Parents for Future« und andere Gruppen, die die Jugendlichen in ihren klimapolitischen Forderungen unterstützen.
Solch ziviler Ungehorsam kann zu einer Transformation des bestehenden politischen Systems führen. Ziviler Ungehorsam bedeutet in meinen Augen, offen, gesprächsbereit und gewaltfrei zu handeln. Dazu gehört auch die Bereitschaft, die für die Gesetzesübertretung verhängte Sanktion klaglos hinzunehmen. Selbstverständlich nur solange das Prinzip der Verhältnismäßigkeit seitens des Staates beachtet wird. Wer in diesem Sinn zivilen Ungehorsam leistet, stellt weder den Rechtsstaat noch die Demokratie als Staatsform infrage. Im Gegenteil: Es geht um die Verbesserung, nicht um die Zerstörung. In zivilem Ungehorsam Handelnde betonen ihr moralisches Recht auf Partizipation.
Antigone bringt ihr ganzes Sein, samt Seele und Körper, ein. Für eine Handvoll Erde riskiert sie ihr Leben, wenn sie entgegen Kreons Gebot ihren Bruder Polyneikes beerdigt und damit geltendes Recht bricht. Doch will sie nicht den Staat schwächen, sondern Menschlichkeit einfordern. Bei Sophokles entsteht daraus ein unauflösbarer Konflikt. Mit ihrem Handeln stellt Antigone die Demokratie vor große Fragen: Wo endet Menschlichkeit? Kann man das Recht auf Würde verwirken? Sind Menschenrechte teilbar?
Heute, 2 500 Jahre nach der Uraufführung, vermittelt uns Antigone die Möglichkeit von Selbstermächtigung. Sie zeigt, dass eine Minderheit nicht machtlos ist. Gerade weil sie sich nicht der Mehrheit anpasst, wird sie unwiderstehlich. »Mitlieben, nicht mithassen ist mein Teil«, ist Antigones Leitspruch. Sie fordert das Aushandeln von Entscheidungen ein. Sie zeigt, wie die, die in der Demokratie nicht gehört werden, sich Gehör verschaffen können.
Kirstin Hess ist Dramaturgin am Jungen Schauspiel. Sie arbeitete in der freien Szene Berlins, am Theater Junge Generation in Dresden und von 2011 bis 2016 am Grips Theater in Berlin. Außerdem ist Kirstin Hess Sprecherin des Arbeitskreises Theater für Junges Publikum NRW.
Der Text erschien im Spielzeitheft 2019/20.
Besetzung
AntigoneSelin Dörtkardeş
KreonNatalie Hanslik
IsmeneNoëmi Krausz
HaimonEduard Lind
Wächter / Bote / TeiresiasJonathan Gyles
RegieLiesbeth Coltof
BühneGuus van Geffen
ChortexteAylin Celik, Uğur Kepenek
KostümMartina Lebert
TanzSelin Dörtkardeş
LichtManuel Migdalek
DramaturgieKirstin Hess
TheaterpädagogikSaliha Shagasi
Dauer
1 Stunde, 30 Minuten — keine Pause