
Äbte der Finsternis
Autoren Feridun Zaimoglu und Günter Senkel im Gespräch mit Dramaturgin Janine Ortiz zu »Das Rheingold. Ein andere Geschichte«
Die Autoren Feridun Zaimoglu und Günter Senkel haben eine Neufassung von Richard Wagners »Das Rheingold« vorgelegt. Mit der Dramaturgin Janine Ortiz sprechen sie über ihre Faszination für düstere Sagen und eine unverrückbar antikapitalistische Haltung in der Kunst.
Ortiz — Ihre »Rheingold«-Adaption trägt den Titel »Eine andere Geschichte«. Inwiefern weicht Ihre Erzählung von der Richard Wagners ab?
Zaimoglu — Wagners »Rheingold« schließt mit dem Einzug der Götter in die Burg Walhall – doch das ist nicht das Ende. Die folgenden drei Teile von »Der Ring des Nibelungen« bewegen sich auf den Weltenbrand, auf die Götterdämmerung zu. Nun beziehen wir uns aber auf den Vorabend der Tetralogie, das »Rheingold«, deshalb war unser erster Impuls, nicht die Triumphe der Götter besingen zu wollen, die nach bestandenen Abenteuern in ihren neuen Tempel einziehen. Es sollte kein Epos von der Tilgung des Bösen durch Götterhand entstehen, nein! Wir erzählen von dem, was Wagner ausgespart hat, und machen all jene sichtbar, die unsichtbar gemacht worden sind. Woher kommt der Wohlstand der Götter? Wer ist geknechtet worden? Und um welchen Preis? Eine andere Geschichte zu erzählen, bedeutet für uns, hervorzuheben, dass die Alben all das Gold liefern, mit dem die Götter ihre Macht ausbauen. Wir weisen auf die brutalen Kämpfe und Kriege hin, in denen die Götter die einstigen Beherrscher der Welt, die chaosmächtigen Riesen, unterworfen haben. Wir berichten von der Entvölkerung der Welt von den Riesen und von der Heuchelei der Götter, die vorgeben, sich daran nicht mehr zu erinnern.
Ortiz — Und Alberichs Aufstieg zum Tyrannen?
Zaimoglu — Bedeutet eben nicht, in ihm den Anarchisten zu sehen, den Zerstörer einer guten Ordnung, der der Liebe entsagt und damit das Unheil in die Welt bringt. Das Unheil war schon vorher da, wurde aber verdeckt und verdreht durch die Lügen der Götter. Nach dem Glauben der Götter haben nur sie zu herrschen und alle anderen Geschöpfe, die Riesen, Alben und der ganze Spuk sind ihnen untergeordnet. Und das nennen sie die »natürliche Ordnung«. Doch wir glauben den Göttern ihre Mythen erstmal nicht – dieser Gedanke stand am Anfang.
Senkel — Wir hatten diese wunderbar durchstrukturierte Vorlage von Richard Wagner, vier Szenen in perfekter Symmetrie, deren Form wir nicht grundlegend verändert haben. Aber wir haben die Figuren in Frage gestellt und uns damit beschäftigt, welche Motivation sie antreibt. Warum hat Alberich die Höhlen der Zwerge verlassen? Weshalb trifft ihn die Kränkung durch die Rheintöchter zutiefst? So kamen wir auf die Idee, den Abend mit den beiden Nibelungenbrüdern, Mime und Alberich, zu beginnen. Der eine hat sich mit den Verhältnissen, in denen er lebt, arrangiert und ist zufrieden – der andere droht an seiner Frustration zu zerbrechen und ist im Aufbruch in eine ihm gänzlich unbekannte Welt begriffen. Wir haben viel Zeit darauf verwendet, uns das Leben unter Tage vorzustellen und die damit verbundenen körperlichen Gefühle zu beschreiben. Alberichs Bedürfnis nach Freiheit ist zugleich ein ideologisches wie sinnliches.
Zaimoglu — Genauso wichtig war es uns, die Rheintöchter nicht bloß als jodelnde Meerjungfrauen darzustellen, die das Geheimnis des Goldes leichtfertig ausplaudern. Die Frage ist doch vielmehr: Womit schützen diese zarten Wächterinnen den Schatz?
Ortiz — Das kann ich Ihnen sagen. Um das Gold aus dem Rhein zu heben, muss man der Liebe abschwören, und die Aufgabe der Rheintöchter ist es, die Männer, die sich das zutrauen, verliebt zu machen und sie so fernzuhalten.
Zaimoglu — Das war einmal ihre Aufgabe, und da scheitern sie, weil Alberich bereits ein Betörter ist, und sie sein Begehren verhöhnen.
Ortiz — Die Tragödie des hässlichen Mannes.
Senkel — Wenn ich das richtig verstanden habe, haben sie die verliebten Männer auch ertränkt. Das ist ein wesentlicher Teil des Mythos, den Wagner ausspart. Ich muss bei den Rheintöchtern leider immer an die Videos von irgendwelchen Influencerinnen denken, die über Haarwaschmittel sprechen und sich ansonsten nicht viel um die Welt kümmern. Also die Art von Person, die nicht übermäßig viel Verantwortungsgefühl besitzt und auch kein Mitgefühl.
Ortiz — Also eine Art von Dekadenzerzählung?
Zaimoglu — So ist das, da wollte ich nämlich hin! Die Rheintöchter sind gewissermaßen schöne Mörderinnen. Selbstverständlich kannte Wagner die Sage von der Lorelei und noch andere Märchen, die hier in der Gegend beheimatet sind. Also die Geschichten von schönen, kaltherzigen Nixen, die arme Schiffer anlocken, auf dass sie im Fels zerschellen und elendig ertrinken.
Ortiz — Die Schicksale Alberichs und der Rheintöchter sind untrennbar mit dem Gold verbunden, welche Bedeutung hat dieser mythische Schatz für Sie?
Senkel — Er ist die Urversuchung – so wie Eva von der Schlange verlockt wurde, den Apfel vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen zu essen, verstehen wir auch das Rheingold. Es wartet seit Anbeginn der Zeiten auf jemanden wie Alberich, damit sich der Fluch erfüllen kann.
Ortiz — Die Schlange im Paradies wurde von Gott erschaffen. Die ist sicher nicht von selbst in den Baum gekrochen, um Eva zu versuchen – das möchte ich an dieser Stelle anmerken.
Zaimoglu — Aber um welche Art von Verlockung handelt es sich hier? Es geht doch nicht um Selbsterkenntnis und die Folgen. Das Gold glänzt, das Gold gleißt. Man kann sich damit Lust kaufen oder die Welt. Ich fand es schon immer komisch, das Gold als »rein« zu bezeichnen, denn alles, was man damit anfängt, sobald es aus dem Boden gerissen wird, endet in Blutverspritzen. Die Seele des Goldes ist nicht rein.
Ortiz — Das Versprechen des Goldes, so wie ich es verstehe, ist gleichzusetzen mit der Sehnsucht des Menschen nach ständig wachsendem Reichtum. Ich investiere mein Kapital in Waren und Rohstoffe, die durch Arbeitskräfte bearbeitet werden. Das auf diese Weise entstandene Produkt ist mehr Wert als ich investiert habe und kann zu einem höheren Preis verkauft werden – es entsteht ein Profit. So beschreibt Marx die kapitalistische Produktionsweise, die zwar korrekt erscheint, die die Ausbeutung der Arbeiter aber unvermeidlich zur Folge hat, während die Kapitalisten an Einfluss und Privilegien gewinnen. Wenn bei Wagner also vom Fluch des Goldes die Rede ist, das nur der Lieblose zum Ring der Macht zwingt, dann ist das ganz klar eine antikapitalistische Erzählung. »Eigentum ist Diebstahl!« propagierte der von Wagner verehrte Ökonom Pierre-Joseph Proudhon.
Senkel — In keiner Mythologie, die mir bekannt wäre, eilt dem Gold der Ruf voraus, dass sein Besitz etwas Positives für den Menschen bedeuten würde. In Südamerika beispielsweise heißt es, das Gold sei nicht für den Menschen
bestimmt, es sei das Metall der Götter. Von daher solle man es dort liegen lassen, wo man es findet. So oder so ähnlich lautet die Moral zahlloser Mythen und Märchen, und man müsste diese Geschichten nicht immer wieder neu
erzählen, wenn das Gold wirklich einmal liegen bliebe.
Ortiz — Durch das Gold ist der Kapitalismus erst möglich geworden, mit Holz oder Steinen wäre uns das nicht passiert.
Zaimoglu — Es gibt eine Fülle an Fakten, die belegen, dass der Kapitalismus den Menschen zermalmt oder in Raten vergiftet oder ihn dazu bringt, Dinge zu begehren, die nicht so wichtig sind. Die Falschheit dieses Systems kann man
in der Kunst besingen: Was wiegt schwerer – das Gold oder der Glaube der Menschen an das Gold? Gold ist Metall, Geld bedrucktes Papier, Münzen sind Metallstücke. Aber der mythologische Aspekt des Kapitals ist nicht zu unterschätzen, schreibt Marx, und der Vorgang des Kaufens ein metaphysischer: Ich will mir etwas leisten, etwas besitzen, ich will mehr sein und mehr haben.
Ortiz — Dennoch ist Haben etwas anderes als Sein: »Ihr habt keine Freude gehabt, in der Fülle der Dinge.« Diesen Satz aus dem 5. Buch Mose hält der Psychoanalytiker Erich Fromm der modernen Gesellschaft vor.
Zaimoglu — Und genau diese Gesellschaft spricht Alberich, der weder reich noch schön ist, jeglichen Wert ab. Doch diese Verlogenheit hat Konsequenzen. Da er nicht für wert befunden wird, stellt es für Alberich auch kein Problem dar, dieser Welt den Wert abzusprechen weiter zu existieren. Schluss jetzt mit dem Joch der Götter! Ich, Alberich, lege alles in Schutt und Asche. Aber womit kommt der Zwerg? Mit einem neuen Joch!
Ortiz — Alberich schmiedet sich aus dem Rheingold den Ring der Macht, wie es ihm die Rheintöchter in Aussicht gestellt haben, und unterwirft damit seine Heimat Nibelheim. Und dann gibt es da noch diese großartige Zusatzerfindung, auf die er ganz allein gekommen ist, den Tarnhelm. Zwei Superwaffen in einer Hand, und dennoch passiert erstmal nicht viel mehr, als dass die Alben weiter Gold schürfen, diesmal jedoch nicht für die Götter, sondern für Alberich.
Zaimoglu — Die Waffe, die nicht zum Einsatz kommt, wirkt zunächst wie ein unlogisches Moment: Ich halte die Macht in Händen, meine Feinde zu Klump zu schlagen, aber ich setze sie nicht ein. Haben wir es hier mit einer philosophischen Verhaltenheit zu tun? Sollte man Alberich einen Aspekt der Gnade unterstellen? Ich glaube nicht. Blickt man in die Geschichte, finden sich zahlreiche Fälle, in denen so viel Menschenmaterial, so viele Waffen vorhanden waren, dass ein Feldherr oder Herrscher leicht hätte triumphieren können – und dennoch scheitert er. Der Zweifrontenkrieg von 1914 hat sich als Fluch für das Deutsche Reich erwiesen. Und was macht der Obermuffti knapp ein Vierteljahrhundert später? Er glaubt, er könne sich über die Menschheitsgeschichte und alle Erfahrung hinwegsetzen und scheitert mit einem erneuten Zweifrontenkrieg auf das Fatalste. Es kann verschiedenste Gründe geben, warum man eine Waffe nicht einsetzt, Angst und Unverstand zählen dazu, aber bei Alberich ist es ganz klar die Hybris. Er ist das geworden, was er den Göttern vorwirft: Überheblich!
Ortiz — In Ihrer Interpretation der Verwandlungsszene wird sich Alberich erst im Gespräch mit den Göttern des vollen Potentials bewusst, das in der kombinierten Macht von Ring und Tarnhelm liegt. Statt wie bei Wagner in einen Drachen und in eine Kröte, verwandelt er sich hier nach und nach in die gesamte Schöpfung: von der vielköpfigen Hydra bis zum Windhauch, der in die kleinste Ritze dringt, vom Adler bis zum Himmelsgewölbe selbst, bis zum Gott, der alle Götter überstrahlt. Und alles, um seine Feinde zu quälen.
Senkel — Bei Wagner geraten die Götter nie soweit in Gefahr, dass sie nicht an ihre eigene Überlegenheit glauben könnten. Selbst als Drache ist Alberich für sie noch so eine Art Tanzbär, den man am Nasenring durch die Manege führt – das fanden wir wenig überzeugend. Von daher haben wir die Szene anders aufgebaut: Zwar sind die Götter Alberich intellektuell überlegen, Loge vor allem, Wotan bleibt mehr ein Zuschauer, aber der Moment, in dem es ihnen gelingt, Alberich die Macht zu entreißen, ist ein Moment der letzten Not. Die Götter müssen die Grenzen ihrer Macht erkennen.
Ortiz — Herr Zaimoglu, Sie sind Mitte der 1990er Jahre in die deutschsprachige Literaturszene hinein explodiert. In Ihren Büchern »Kanak Sprak«, »Abschaum« und »Koppstoff« bekennen sich junge Türkinnen und Türken offensiv zu ihrer Rolle als gesellschaftliche Außenseiter. Wie bringen Sie Ihre frühen Arbeiten, die von harten Diskriminierungen erzählen, mit dem »Rheingold« in Verbindung?
Zaimoglu — Die Theaterstücke, die Günter und ich schreiben, sind düstere Geschichten. Machen wir uns nichts vor – die Welt da draußen kann man harmonisieren, das wird aber fehlgehen. Das ist die falsche Ordnung, das falsche Bild. Es ist völlig menschlich, Stimmigkeit erzeugen zu wollen, aber ich habe diese Stimmigkeit noch nie gemocht, genauso wenig wie die Menschen, die an das Märchen von der großen Stabilität glauben. Deswegen arbeite ich so gern mit Günter, wir beide glauben an die Instabilität, wir sind düstere Äbte, die düstere Geschichten schreiben. Nicht, weil wir den Menschen die Stimmung verhageln wollen, sondern weil es einfach so ist, dass wir von Glück reden können, wenn der Himmel nicht einstürzt. Diese gemeinsame Empfindung ist wichtig. Und dann ist da noch das anarchische Moment. Auf wessen Seite stehen wir? Wessen Geschichte erzählen wir? Wieso sollte ich Lobeshymnen auf die Sieger anstimmen? Die sind sichtbar. Die erzählen ihre eigenen Geschichten von Glanz und Glorie und Pracht, aber sie bringen viele andere Menschen dazu, unsichtbar zu sein. In der Literatur ging es mir von Anfang an nur um eins: Die Armen erben den Besitz. Die Armen erben den Besitz, deshalb stehe ich auf Seiten der Armen, nicht auf Seiten der Klugscheißer, der akademisch Verklausulierten, der Privilegierten, nicht auf Seiten jener, denen die eigene Sprache sowieso in den Schoß fällt. Mit ihrer Sprache können sie die Welt markieren, das Leben kennzeichnen, aber in unseren Theaterstücken, in meinen Büchern benenne ich den Preis. Dichtung kann bedeuten: Unwahrheit, und dann ist sie unanständig. Dichtung kann aber auch bedeuten: Erzähl von jenen, über die sonst Geschichten erzählt werden. Von Manifesten halte ich nicht viel. Nichts ist schlimmer als Kollektivismus. Nichts ist schlimmer, auch für die gerechte Sache, als ein Schaf unter vielen zu sein. Das ist nicht drin. Die Düsternis muss man aushalten, die Brutalität in Kauf nehmen, hart sein gegen die Gutmeinenden. Es geht uns nicht darum zu provozieren. Provozieren können irgendwelche Linksintellektuellen in ihren Kiezkneipen in der Kastanienallee. Aber nicht wir!
Ortiz — Da heißt es Kettenhemd an und hinabgestiegen in den Kohlenkeller der Gefühle, denn auch dort muss das Licht der Aufklärung leuchten. Selbst wenn es nur ein Streichholz ist.
Senkel — Auf die Glaubwürdigkeit kommt es an, unsere und die der Figuren.
Ortiz — Wie stehen Sie zu der Tatsache, dass die germanische Mythologie von Rechtsextremen heute rezipiert und für die eigenen Zwecke genutzt, genauer gesagt missbraucht wird? Entscheidend hierbei ist die Verknüpfung mit der Zeit und der Ideologie des sogenannten Dritten Reiches: Die Nationalsozialisten sahen in einer vermeintlich germanisch-nordischen, nach deren Terminologie »arischen« Rasse die überlegenen Menschen.
Zaimoglu — Das ist vor allem eins: eine Lüge. Wer die alte Zeit zur idyllischen Zeit erklärt, macht sich der Vulgarität schuldig. Man muss sich diese Germanentümler doch nur anschauen beziehungsweise deren Kram lesen, um die Absicht dahinter zu erkennen. Über das Widersinnige, das Kunsthandwerkliche und vor allem über den Niveauabfall nicht zu stolpern, fällt schwer. Dabei behaupten diese Ideologen, den Niveauabfall abwenden zu wollen!
Ortiz — Guter Punkt.
Zaimoglu — Ich habe nichts dagegen, wenn erwachsene Männer und Frauen als Darsteller auf irgendwelchen Mittelaltermärkten zusammenkommen und sich wohlfühlen. Aber ich sehe in den alten Überlieferungen etwas anderes, das sind Bilder und Zeugnisse von Menschen von vor Tausenden von Jahren. Was für eine Verwegenheit, was für eine Dummheit legt der Mensch an den Tag, wenn er glaubt, vor ihm habe es nur Abfall, nur Aberglaube gegeben. Dabei ist erstaunlich, was es an Weisheiten und wunderlichen Geschichten zu entdecken gibt. Die Rechten hingegen studieren die alten Quellen, um das Heutige zu denunzieren und als verunreinigt, als infiziert von fremden Einflüssen darzustellen. Man möchte sich die Idee von der Ursprünglichkeit erlügen.
Ortiz — Richard Wagner selbst hat sich als Chefideologe erwiesen, allem voran mit seiner antisemitischen Hetzschrift »Das Judentum in der Musik«.
Zaimoglu — Wagner hat wunderbare Opernkunstwerke geschrieben, aber sobald er sich über das Verkommene seiner Zeit geäußert hat, war das leider von einer solchen Erbärmlichkeit, ein solcher Qualitätsschwund. Da bleibt uns nichts anderes übrig, als Künstler und Kunstwerk zu trennen.
Ortiz — Sie haben neben dem Wagner-Libretto noch andere, ältere Quellen konsultiert. Welche sind das?
Senkel — Das mit den Quellen ist so eine Sache. Die germanischen Mythen sind während der Eisen- und Völkerwanderungszeit entstanden, also etwa 800 v. Chr. bis in die späte Antike hinein – aufgeschrieben wurden sie aber erst viel später von den in Adelskreisen verkehrenden Skalden und frühchristlichen Mönchen. So zeichnen die erhaltenen Überlieferungen ein extrem vielschichtiges Bild, in dem sich Mythen, Epen, Märchen, volkstümliche Erzählungen, Rechts- und Merksprüche, Sprichwörter, magische Formeln und Gebete mischen. Ganz zu schweigen davon, dass sich die germanische Religionspraxis kaum mehr rekonstruieren lässt. Die regionalen, sozialen und chronologischen Unterschiede sind außerordentlich stark, so dass wir eigentlich eher von »germanischen Religionen« sprechen müssten. Auf den Nibelungenstoff verweist als ältestes schriftliches Dokument die isländische »Edda«, die um 1270 aufgeschrieben wurde. Daneben steht als mittelhochdeutsche Überlieferung desselben Stoffes das »Nibelungenlied«, datiert auf Anfang des 13. Jahrhunderts. Beide weisen zahlreiche Ähnlichkeiten auf, auch wenn die Namen häufig variieren. Wagner dienten vor allem die »Edda« und die »Völsunga saga« als Quellen, die wir ebenso konsultiert haben wie Jacob Grimms Zusammenschau aller Götter- und Heldensagen, die »Deutsche Mythologie« von 1835.
Ortiz — Und so wie Richard Wagner damals im großen Topf der Mythen einmal umgerührt hat, um »Das Rheingold« für seine Gegenwart daraus zu präparieren, machen Sie das jetzt auch. Mythensynthese – gibt’s denn gar nichts Neues?
Senkel — Das Neue ist, dass man sich neu damit beschäftigt. Ich würde darum Tolkiens »Der Herr der Ringe« nicht missen wollen.
Zaimoglu — Dass die Gegenwärtigen glauben, es sei ausreichend, wenn man die Gegenwart nur abbildet, hat mich schon immer gewundert. Denn die Sprache, die dabei entsteht, ist leider eine schlechte Wohngemeinschaftssprache, eine Abfallsprache, um Rainald Goetz zu bemühen. Heute da, morgen weg. Alles verwelkt. Realismus – was soll das sein? Es gibt viele Realitäten, und die Sprache, insbesondere die Sprache in der Kunst, darf nicht darunter leiden, dass man diese Aufsplitterung leugnet. Wir sehen in den alten Schriften den Ausdruck der Verzweiflung, die Angst vor dem Dunkel, die Abwehr von Gefahren aus dem Dunkel. Wir bemühen uns, diese Finsternis, die eine Konstante der menschlichen Existenz ist, auch mittels der Worte darzustellen. Nicht bloß das, was man sieht.
Ortiz — Also Realität statt Realismus?
Zaimoglu — Ja.
Ortiz — Mögen Sie eigentlich die Musik von Richard Wagner?
Zaimoglu — Die ist immer mit so einem Überwältigungsfuror verbunden – wie bei einem guten Punkkonzert. Auf die Souveränität der Zuhörer wird gepfiffen und die Musik in die Körper gepresst. Wagner hat für mich mit Krieg zu tun. Liegt vielleicht daran, dass ich das erste Mal über den Film »Apocalypse Now« mit ihm in Berührung gekommen bin. Dieses melodiöse Schreien ist ja beabsichtig und wird von Kennern geschätzt. Ich bin kein Kenner. Mich überwältigt viel eher Mozarts »Requiem«, das handelt nicht vom Krieg sondern vom Tod. Ich bin hier der Mozartianer.
Ortiz — Und die Wagner’sche Sprache?
Senkel — Die ist dafür da, dass sie gesungen wird. Mitunter ist ganz schön viel Unfug dabei: »Weiawaga woge Du Welle, walle zur Wiege, weigelaweia«!
Zaimoglu — Stabreimterror!
Ortiz — Steht Goethes Knittelversen in nichts nach.
Zaimoglu — Nichts gegen rhythmische Sprache, aber das wirkt beim Vorlesen ein bisschen infantil.
Ortiz — Zu einem Wagner-Symposium werden wir nächstens sicher nicht eingeladen.
Zaimoglu — Der Fisch ist gelutscht, nach diesen Worten sind wir unten durch.
Feridun Zaimoglu, geboren 1964 im anatolischen Bolu und aufgewachsen in Deutschland, ist als Autor tätig – zuletzt erschienen »Siebentürmeviertel« (2015), »Evangelio« (2017) und »Die Geschichte der Frau« (2019). Günter Senkel wurde 1958 in Neumünster geboren und gab sein Physikstudium zugunsten einer eigenen Buchhandlung in Kiel auf, wo er seit 1997 als freier Autor lebt. Gemeinsam schreiben sie seit über 20 Jahren Drehbücher, Theaterstücke und Dramenbearbeitungen.
Zaimoglu — Wagners »Rheingold« schließt mit dem Einzug der Götter in die Burg Walhall – doch das ist nicht das Ende. Die folgenden drei Teile von »Der Ring des Nibelungen« bewegen sich auf den Weltenbrand, auf die Götterdämmerung zu. Nun beziehen wir uns aber auf den Vorabend der Tetralogie, das »Rheingold«, deshalb war unser erster Impuls, nicht die Triumphe der Götter besingen zu wollen, die nach bestandenen Abenteuern in ihren neuen Tempel einziehen. Es sollte kein Epos von der Tilgung des Bösen durch Götterhand entstehen, nein! Wir erzählen von dem, was Wagner ausgespart hat, und machen all jene sichtbar, die unsichtbar gemacht worden sind. Woher kommt der Wohlstand der Götter? Wer ist geknechtet worden? Und um welchen Preis? Eine andere Geschichte zu erzählen, bedeutet für uns, hervorzuheben, dass die Alben all das Gold liefern, mit dem die Götter ihre Macht ausbauen. Wir weisen auf die brutalen Kämpfe und Kriege hin, in denen die Götter die einstigen Beherrscher der Welt, die chaosmächtigen Riesen, unterworfen haben. Wir berichten von der Entvölkerung der Welt von den Riesen und von der Heuchelei der Götter, die vorgeben, sich daran nicht mehr zu erinnern.
Ortiz — Und Alberichs Aufstieg zum Tyrannen?
Zaimoglu — Bedeutet eben nicht, in ihm den Anarchisten zu sehen, den Zerstörer einer guten Ordnung, der der Liebe entsagt und damit das Unheil in die Welt bringt. Das Unheil war schon vorher da, wurde aber verdeckt und verdreht durch die Lügen der Götter. Nach dem Glauben der Götter haben nur sie zu herrschen und alle anderen Geschöpfe, die Riesen, Alben und der ganze Spuk sind ihnen untergeordnet. Und das nennen sie die »natürliche Ordnung«. Doch wir glauben den Göttern ihre Mythen erstmal nicht – dieser Gedanke stand am Anfang.
Senkel — Wir hatten diese wunderbar durchstrukturierte Vorlage von Richard Wagner, vier Szenen in perfekter Symmetrie, deren Form wir nicht grundlegend verändert haben. Aber wir haben die Figuren in Frage gestellt und uns damit beschäftigt, welche Motivation sie antreibt. Warum hat Alberich die Höhlen der Zwerge verlassen? Weshalb trifft ihn die Kränkung durch die Rheintöchter zutiefst? So kamen wir auf die Idee, den Abend mit den beiden Nibelungenbrüdern, Mime und Alberich, zu beginnen. Der eine hat sich mit den Verhältnissen, in denen er lebt, arrangiert und ist zufrieden – der andere droht an seiner Frustration zu zerbrechen und ist im Aufbruch in eine ihm gänzlich unbekannte Welt begriffen. Wir haben viel Zeit darauf verwendet, uns das Leben unter Tage vorzustellen und die damit verbundenen körperlichen Gefühle zu beschreiben. Alberichs Bedürfnis nach Freiheit ist zugleich ein ideologisches wie sinnliches.
Zaimoglu — Genauso wichtig war es uns, die Rheintöchter nicht bloß als jodelnde Meerjungfrauen darzustellen, die das Geheimnis des Goldes leichtfertig ausplaudern. Die Frage ist doch vielmehr: Womit schützen diese zarten Wächterinnen den Schatz?
Ortiz — Das kann ich Ihnen sagen. Um das Gold aus dem Rhein zu heben, muss man der Liebe abschwören, und die Aufgabe der Rheintöchter ist es, die Männer, die sich das zutrauen, verliebt zu machen und sie so fernzuhalten.
Zaimoglu — Das war einmal ihre Aufgabe, und da scheitern sie, weil Alberich bereits ein Betörter ist, und sie sein Begehren verhöhnen.
Ortiz — Die Tragödie des hässlichen Mannes.
Senkel — Wenn ich das richtig verstanden habe, haben sie die verliebten Männer auch ertränkt. Das ist ein wesentlicher Teil des Mythos, den Wagner ausspart. Ich muss bei den Rheintöchtern leider immer an die Videos von irgendwelchen Influencerinnen denken, die über Haarwaschmittel sprechen und sich ansonsten nicht viel um die Welt kümmern. Also die Art von Person, die nicht übermäßig viel Verantwortungsgefühl besitzt und auch kein Mitgefühl.
Ortiz — Also eine Art von Dekadenzerzählung?
Zaimoglu — So ist das, da wollte ich nämlich hin! Die Rheintöchter sind gewissermaßen schöne Mörderinnen. Selbstverständlich kannte Wagner die Sage von der Lorelei und noch andere Märchen, die hier in der Gegend beheimatet sind. Also die Geschichten von schönen, kaltherzigen Nixen, die arme Schiffer anlocken, auf dass sie im Fels zerschellen und elendig ertrinken.
Ortiz — Die Schicksale Alberichs und der Rheintöchter sind untrennbar mit dem Gold verbunden, welche Bedeutung hat dieser mythische Schatz für Sie?
Senkel — Er ist die Urversuchung – so wie Eva von der Schlange verlockt wurde, den Apfel vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen zu essen, verstehen wir auch das Rheingold. Es wartet seit Anbeginn der Zeiten auf jemanden wie Alberich, damit sich der Fluch erfüllen kann.
Ortiz — Die Schlange im Paradies wurde von Gott erschaffen. Die ist sicher nicht von selbst in den Baum gekrochen, um Eva zu versuchen – das möchte ich an dieser Stelle anmerken.
Zaimoglu — Aber um welche Art von Verlockung handelt es sich hier? Es geht doch nicht um Selbsterkenntnis und die Folgen. Das Gold glänzt, das Gold gleißt. Man kann sich damit Lust kaufen oder die Welt. Ich fand es schon immer komisch, das Gold als »rein« zu bezeichnen, denn alles, was man damit anfängt, sobald es aus dem Boden gerissen wird, endet in Blutverspritzen. Die Seele des Goldes ist nicht rein.
Ortiz — Das Versprechen des Goldes, so wie ich es verstehe, ist gleichzusetzen mit der Sehnsucht des Menschen nach ständig wachsendem Reichtum. Ich investiere mein Kapital in Waren und Rohstoffe, die durch Arbeitskräfte bearbeitet werden. Das auf diese Weise entstandene Produkt ist mehr Wert als ich investiert habe und kann zu einem höheren Preis verkauft werden – es entsteht ein Profit. So beschreibt Marx die kapitalistische Produktionsweise, die zwar korrekt erscheint, die die Ausbeutung der Arbeiter aber unvermeidlich zur Folge hat, während die Kapitalisten an Einfluss und Privilegien gewinnen. Wenn bei Wagner also vom Fluch des Goldes die Rede ist, das nur der Lieblose zum Ring der Macht zwingt, dann ist das ganz klar eine antikapitalistische Erzählung. »Eigentum ist Diebstahl!« propagierte der von Wagner verehrte Ökonom Pierre-Joseph Proudhon.
Senkel — In keiner Mythologie, die mir bekannt wäre, eilt dem Gold der Ruf voraus, dass sein Besitz etwas Positives für den Menschen bedeuten würde. In Südamerika beispielsweise heißt es, das Gold sei nicht für den Menschen
bestimmt, es sei das Metall der Götter. Von daher solle man es dort liegen lassen, wo man es findet. So oder so ähnlich lautet die Moral zahlloser Mythen und Märchen, und man müsste diese Geschichten nicht immer wieder neu
erzählen, wenn das Gold wirklich einmal liegen bliebe.
Ortiz — Durch das Gold ist der Kapitalismus erst möglich geworden, mit Holz oder Steinen wäre uns das nicht passiert.
Zaimoglu — Es gibt eine Fülle an Fakten, die belegen, dass der Kapitalismus den Menschen zermalmt oder in Raten vergiftet oder ihn dazu bringt, Dinge zu begehren, die nicht so wichtig sind. Die Falschheit dieses Systems kann man
in der Kunst besingen: Was wiegt schwerer – das Gold oder der Glaube der Menschen an das Gold? Gold ist Metall, Geld bedrucktes Papier, Münzen sind Metallstücke. Aber der mythologische Aspekt des Kapitals ist nicht zu unterschätzen, schreibt Marx, und der Vorgang des Kaufens ein metaphysischer: Ich will mir etwas leisten, etwas besitzen, ich will mehr sein und mehr haben.
Ortiz — Dennoch ist Haben etwas anderes als Sein: »Ihr habt keine Freude gehabt, in der Fülle der Dinge.« Diesen Satz aus dem 5. Buch Mose hält der Psychoanalytiker Erich Fromm der modernen Gesellschaft vor.
Zaimoglu — Und genau diese Gesellschaft spricht Alberich, der weder reich noch schön ist, jeglichen Wert ab. Doch diese Verlogenheit hat Konsequenzen. Da er nicht für wert befunden wird, stellt es für Alberich auch kein Problem dar, dieser Welt den Wert abzusprechen weiter zu existieren. Schluss jetzt mit dem Joch der Götter! Ich, Alberich, lege alles in Schutt und Asche. Aber womit kommt der Zwerg? Mit einem neuen Joch!
Ortiz — Alberich schmiedet sich aus dem Rheingold den Ring der Macht, wie es ihm die Rheintöchter in Aussicht gestellt haben, und unterwirft damit seine Heimat Nibelheim. Und dann gibt es da noch diese großartige Zusatzerfindung, auf die er ganz allein gekommen ist, den Tarnhelm. Zwei Superwaffen in einer Hand, und dennoch passiert erstmal nicht viel mehr, als dass die Alben weiter Gold schürfen, diesmal jedoch nicht für die Götter, sondern für Alberich.
Zaimoglu — Die Waffe, die nicht zum Einsatz kommt, wirkt zunächst wie ein unlogisches Moment: Ich halte die Macht in Händen, meine Feinde zu Klump zu schlagen, aber ich setze sie nicht ein. Haben wir es hier mit einer philosophischen Verhaltenheit zu tun? Sollte man Alberich einen Aspekt der Gnade unterstellen? Ich glaube nicht. Blickt man in die Geschichte, finden sich zahlreiche Fälle, in denen so viel Menschenmaterial, so viele Waffen vorhanden waren, dass ein Feldherr oder Herrscher leicht hätte triumphieren können – und dennoch scheitert er. Der Zweifrontenkrieg von 1914 hat sich als Fluch für das Deutsche Reich erwiesen. Und was macht der Obermuffti knapp ein Vierteljahrhundert später? Er glaubt, er könne sich über die Menschheitsgeschichte und alle Erfahrung hinwegsetzen und scheitert mit einem erneuten Zweifrontenkrieg auf das Fatalste. Es kann verschiedenste Gründe geben, warum man eine Waffe nicht einsetzt, Angst und Unverstand zählen dazu, aber bei Alberich ist es ganz klar die Hybris. Er ist das geworden, was er den Göttern vorwirft: Überheblich!
Ortiz — In Ihrer Interpretation der Verwandlungsszene wird sich Alberich erst im Gespräch mit den Göttern des vollen Potentials bewusst, das in der kombinierten Macht von Ring und Tarnhelm liegt. Statt wie bei Wagner in einen Drachen und in eine Kröte, verwandelt er sich hier nach und nach in die gesamte Schöpfung: von der vielköpfigen Hydra bis zum Windhauch, der in die kleinste Ritze dringt, vom Adler bis zum Himmelsgewölbe selbst, bis zum Gott, der alle Götter überstrahlt. Und alles, um seine Feinde zu quälen.
Senkel — Bei Wagner geraten die Götter nie soweit in Gefahr, dass sie nicht an ihre eigene Überlegenheit glauben könnten. Selbst als Drache ist Alberich für sie noch so eine Art Tanzbär, den man am Nasenring durch die Manege führt – das fanden wir wenig überzeugend. Von daher haben wir die Szene anders aufgebaut: Zwar sind die Götter Alberich intellektuell überlegen, Loge vor allem, Wotan bleibt mehr ein Zuschauer, aber der Moment, in dem es ihnen gelingt, Alberich die Macht zu entreißen, ist ein Moment der letzten Not. Die Götter müssen die Grenzen ihrer Macht erkennen.
Ortiz — Herr Zaimoglu, Sie sind Mitte der 1990er Jahre in die deutschsprachige Literaturszene hinein explodiert. In Ihren Büchern »Kanak Sprak«, »Abschaum« und »Koppstoff« bekennen sich junge Türkinnen und Türken offensiv zu ihrer Rolle als gesellschaftliche Außenseiter. Wie bringen Sie Ihre frühen Arbeiten, die von harten Diskriminierungen erzählen, mit dem »Rheingold« in Verbindung?
Zaimoglu — Die Theaterstücke, die Günter und ich schreiben, sind düstere Geschichten. Machen wir uns nichts vor – die Welt da draußen kann man harmonisieren, das wird aber fehlgehen. Das ist die falsche Ordnung, das falsche Bild. Es ist völlig menschlich, Stimmigkeit erzeugen zu wollen, aber ich habe diese Stimmigkeit noch nie gemocht, genauso wenig wie die Menschen, die an das Märchen von der großen Stabilität glauben. Deswegen arbeite ich so gern mit Günter, wir beide glauben an die Instabilität, wir sind düstere Äbte, die düstere Geschichten schreiben. Nicht, weil wir den Menschen die Stimmung verhageln wollen, sondern weil es einfach so ist, dass wir von Glück reden können, wenn der Himmel nicht einstürzt. Diese gemeinsame Empfindung ist wichtig. Und dann ist da noch das anarchische Moment. Auf wessen Seite stehen wir? Wessen Geschichte erzählen wir? Wieso sollte ich Lobeshymnen auf die Sieger anstimmen? Die sind sichtbar. Die erzählen ihre eigenen Geschichten von Glanz und Glorie und Pracht, aber sie bringen viele andere Menschen dazu, unsichtbar zu sein. In der Literatur ging es mir von Anfang an nur um eins: Die Armen erben den Besitz. Die Armen erben den Besitz, deshalb stehe ich auf Seiten der Armen, nicht auf Seiten der Klugscheißer, der akademisch Verklausulierten, der Privilegierten, nicht auf Seiten jener, denen die eigene Sprache sowieso in den Schoß fällt. Mit ihrer Sprache können sie die Welt markieren, das Leben kennzeichnen, aber in unseren Theaterstücken, in meinen Büchern benenne ich den Preis. Dichtung kann bedeuten: Unwahrheit, und dann ist sie unanständig. Dichtung kann aber auch bedeuten: Erzähl von jenen, über die sonst Geschichten erzählt werden. Von Manifesten halte ich nicht viel. Nichts ist schlimmer als Kollektivismus. Nichts ist schlimmer, auch für die gerechte Sache, als ein Schaf unter vielen zu sein. Das ist nicht drin. Die Düsternis muss man aushalten, die Brutalität in Kauf nehmen, hart sein gegen die Gutmeinenden. Es geht uns nicht darum zu provozieren. Provozieren können irgendwelche Linksintellektuellen in ihren Kiezkneipen in der Kastanienallee. Aber nicht wir!
Ortiz — Da heißt es Kettenhemd an und hinabgestiegen in den Kohlenkeller der Gefühle, denn auch dort muss das Licht der Aufklärung leuchten. Selbst wenn es nur ein Streichholz ist.
Senkel — Auf die Glaubwürdigkeit kommt es an, unsere und die der Figuren.
Ortiz — Wie stehen Sie zu der Tatsache, dass die germanische Mythologie von Rechtsextremen heute rezipiert und für die eigenen Zwecke genutzt, genauer gesagt missbraucht wird? Entscheidend hierbei ist die Verknüpfung mit der Zeit und der Ideologie des sogenannten Dritten Reiches: Die Nationalsozialisten sahen in einer vermeintlich germanisch-nordischen, nach deren Terminologie »arischen« Rasse die überlegenen Menschen.
Zaimoglu — Das ist vor allem eins: eine Lüge. Wer die alte Zeit zur idyllischen Zeit erklärt, macht sich der Vulgarität schuldig. Man muss sich diese Germanentümler doch nur anschauen beziehungsweise deren Kram lesen, um die Absicht dahinter zu erkennen. Über das Widersinnige, das Kunsthandwerkliche und vor allem über den Niveauabfall nicht zu stolpern, fällt schwer. Dabei behaupten diese Ideologen, den Niveauabfall abwenden zu wollen!
Ortiz — Guter Punkt.
Zaimoglu — Ich habe nichts dagegen, wenn erwachsene Männer und Frauen als Darsteller auf irgendwelchen Mittelaltermärkten zusammenkommen und sich wohlfühlen. Aber ich sehe in den alten Überlieferungen etwas anderes, das sind Bilder und Zeugnisse von Menschen von vor Tausenden von Jahren. Was für eine Verwegenheit, was für eine Dummheit legt der Mensch an den Tag, wenn er glaubt, vor ihm habe es nur Abfall, nur Aberglaube gegeben. Dabei ist erstaunlich, was es an Weisheiten und wunderlichen Geschichten zu entdecken gibt. Die Rechten hingegen studieren die alten Quellen, um das Heutige zu denunzieren und als verunreinigt, als infiziert von fremden Einflüssen darzustellen. Man möchte sich die Idee von der Ursprünglichkeit erlügen.
Ortiz — Richard Wagner selbst hat sich als Chefideologe erwiesen, allem voran mit seiner antisemitischen Hetzschrift »Das Judentum in der Musik«.
Zaimoglu — Wagner hat wunderbare Opernkunstwerke geschrieben, aber sobald er sich über das Verkommene seiner Zeit geäußert hat, war das leider von einer solchen Erbärmlichkeit, ein solcher Qualitätsschwund. Da bleibt uns nichts anderes übrig, als Künstler und Kunstwerk zu trennen.
Ortiz — Sie haben neben dem Wagner-Libretto noch andere, ältere Quellen konsultiert. Welche sind das?
Senkel — Das mit den Quellen ist so eine Sache. Die germanischen Mythen sind während der Eisen- und Völkerwanderungszeit entstanden, also etwa 800 v. Chr. bis in die späte Antike hinein – aufgeschrieben wurden sie aber erst viel später von den in Adelskreisen verkehrenden Skalden und frühchristlichen Mönchen. So zeichnen die erhaltenen Überlieferungen ein extrem vielschichtiges Bild, in dem sich Mythen, Epen, Märchen, volkstümliche Erzählungen, Rechts- und Merksprüche, Sprichwörter, magische Formeln und Gebete mischen. Ganz zu schweigen davon, dass sich die germanische Religionspraxis kaum mehr rekonstruieren lässt. Die regionalen, sozialen und chronologischen Unterschiede sind außerordentlich stark, so dass wir eigentlich eher von »germanischen Religionen« sprechen müssten. Auf den Nibelungenstoff verweist als ältestes schriftliches Dokument die isländische »Edda«, die um 1270 aufgeschrieben wurde. Daneben steht als mittelhochdeutsche Überlieferung desselben Stoffes das »Nibelungenlied«, datiert auf Anfang des 13. Jahrhunderts. Beide weisen zahlreiche Ähnlichkeiten auf, auch wenn die Namen häufig variieren. Wagner dienten vor allem die »Edda« und die »Völsunga saga« als Quellen, die wir ebenso konsultiert haben wie Jacob Grimms Zusammenschau aller Götter- und Heldensagen, die »Deutsche Mythologie« von 1835.
Ortiz — Und so wie Richard Wagner damals im großen Topf der Mythen einmal umgerührt hat, um »Das Rheingold« für seine Gegenwart daraus zu präparieren, machen Sie das jetzt auch. Mythensynthese – gibt’s denn gar nichts Neues?
Senkel — Das Neue ist, dass man sich neu damit beschäftigt. Ich würde darum Tolkiens »Der Herr der Ringe« nicht missen wollen.
Zaimoglu — Dass die Gegenwärtigen glauben, es sei ausreichend, wenn man die Gegenwart nur abbildet, hat mich schon immer gewundert. Denn die Sprache, die dabei entsteht, ist leider eine schlechte Wohngemeinschaftssprache, eine Abfallsprache, um Rainald Goetz zu bemühen. Heute da, morgen weg. Alles verwelkt. Realismus – was soll das sein? Es gibt viele Realitäten, und die Sprache, insbesondere die Sprache in der Kunst, darf nicht darunter leiden, dass man diese Aufsplitterung leugnet. Wir sehen in den alten Schriften den Ausdruck der Verzweiflung, die Angst vor dem Dunkel, die Abwehr von Gefahren aus dem Dunkel. Wir bemühen uns, diese Finsternis, die eine Konstante der menschlichen Existenz ist, auch mittels der Worte darzustellen. Nicht bloß das, was man sieht.
Ortiz — Also Realität statt Realismus?
Zaimoglu — Ja.
Ortiz — Mögen Sie eigentlich die Musik von Richard Wagner?
Zaimoglu — Die ist immer mit so einem Überwältigungsfuror verbunden – wie bei einem guten Punkkonzert. Auf die Souveränität der Zuhörer wird gepfiffen und die Musik in die Körper gepresst. Wagner hat für mich mit Krieg zu tun. Liegt vielleicht daran, dass ich das erste Mal über den Film »Apocalypse Now« mit ihm in Berührung gekommen bin. Dieses melodiöse Schreien ist ja beabsichtig und wird von Kennern geschätzt. Ich bin kein Kenner. Mich überwältigt viel eher Mozarts »Requiem«, das handelt nicht vom Krieg sondern vom Tod. Ich bin hier der Mozartianer.
Ortiz — Und die Wagner’sche Sprache?
Senkel — Die ist dafür da, dass sie gesungen wird. Mitunter ist ganz schön viel Unfug dabei: »Weiawaga woge Du Welle, walle zur Wiege, weigelaweia«!
Zaimoglu — Stabreimterror!
Ortiz — Steht Goethes Knittelversen in nichts nach.
Zaimoglu — Nichts gegen rhythmische Sprache, aber das wirkt beim Vorlesen ein bisschen infantil.
Ortiz — Zu einem Wagner-Symposium werden wir nächstens sicher nicht eingeladen.
Zaimoglu — Der Fisch ist gelutscht, nach diesen Worten sind wir unten durch.
Feridun Zaimoglu, geboren 1964 im anatolischen Bolu und aufgewachsen in Deutschland, ist als Autor tätig – zuletzt erschienen »Siebentürmeviertel« (2015), »Evangelio« (2017) und »Die Geschichte der Frau« (2019). Günter Senkel wurde 1958 in Neumünster geboren und gab sein Physikstudium zugunsten einer eigenen Buchhandlung in Kiel auf, wo er seit 1997 als freier Autor lebt. Gemeinsam schreiben sie seit über 20 Jahren Drehbücher, Theaterstücke und Dramenbearbeitungen.
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