Mutter Courage und ihre Kinder — Regisseur Sebastian Baumgarten im Gespräch über Brechts Ikone des epischen Theaters
— Die Fragen stellte Janine Ortiz

Wer heute ins Theater geht, um sich »Mutter Courage und ihre Kinder« anzusehen, was sieht der für ein Stück?
Zunächst eine Geschichte aus einer sehr fernen Zeit, dem Dreißigjährigen Krieg. Von der Oberfläche her betrachtet ein Glaubenskrieg, darunter liegen aber die merkantilen Interessen der Söldnerführer, die diesen Krieg untereinander ausfechten. Letztlich zeigt Brecht eine Zwangslage, nämlich dass das Geld, ohne das in der Marktwirtschaft niemand überleben kann, die Wege und Richtungen von Politik, Glauben und Kultur bestimmt.
Sehen Sie es als Ihre Aufgabe, einen Gegenentwurf zur Aussichtslosigkeit des Verwertungsprinzips, wie Brecht es darstellt, zu formulieren?
Dazu zwei Gedanken. Erstens: Momentan wird viel über Rassismus, Feminismus, die Ignoranz von Gendervielfalt und die drohende Klimakatastrophe diskutiert. Alles extrem wichtige Themen, die jedoch derart im Vordergrund stehen, dass – zumindest meinem Empfinden nach – die alte, etwas langweilig gewordene Frage nach sozialer Gerechtigkeit in den Hintergrund tritt. Die soziale Frage ist aber für Brecht zentral. In dieser im Vergleich zu unserer Gegenwart verschobenen Wahrnehmung liegt vielleicht eine Chance, den festgefahrenen Karren in Bewegung zu bringen. Zweitens: Man kann dem Brecht-Text durchaus Gegenentwürfe oder neuere Entwicklungen gegenüberstellen, aber dem sind durch das Urheberrecht Grenzen gesetzt. Noch ist es nicht möglich, mit dem Material so radikal umzugehen, dass die Form selbst hinterfragt werden kann.
Die Entscheidungen, vor die Mutter Courage gestellt wird, die immer entweder die ökonomische Absicherung oder den inneren Zusammenhalt der Familie unmöglich machen, sind also heute nicht mehr wirklich interessant?
Das finde ich einen schwierigen Ansatz, weil das bedeuten würde, dass es so etwas wie Konstanten gäbe, die sich durch alle Zeiten hindurch immer wieder offenbaren, in der Art und Weise wie Kapital fließt oder wie die Menschen daraufhin zusammenleben. Das möchte ich nicht glauben. Ganz konkret finden wir in Gebieten wie Südamerika oder Afrika heute Situationen eines Überlebenskampfes, die denen in »Mutter Courage« vergleichbar sind. Nun machen wir das Stück aber in Düsseldorf und in der Hoffnung, dass viele Menschen, die hier leben, ins Theater kommen. Der Widerstand gegen kapitalistische Lebensverhältnisse nimmt in wohlsituierten mittelständischen europäischen Gesellschaften andere Formen an, und das setzt einen anderen Rahmen für eine Inszenierung, als wenn diese beispielsweise in Teheran stattfinden würde. Den Gedanken, dass der Krieg nicht vorbei ist, solange es den ungebremsten Kapitalismus gibt, sondern dass er vielmehr mit anderer Fassade auftritt oder an anderen Orten stattfindet, womit wir unseren Luxus finanzieren – das sollte man schon ernst nehmen.
Zunächst eine Geschichte aus einer sehr fernen Zeit, dem Dreißigjährigen Krieg. Von der Oberfläche her betrachtet ein Glaubenskrieg, darunter liegen aber die merkantilen Interessen der Söldnerführer, die diesen Krieg untereinander ausfechten. Letztlich zeigt Brecht eine Zwangslage, nämlich dass das Geld, ohne das in der Marktwirtschaft niemand überleben kann, die Wege und Richtungen von Politik, Glauben und Kultur bestimmt.
Sehen Sie es als Ihre Aufgabe, einen Gegenentwurf zur Aussichtslosigkeit des Verwertungsprinzips, wie Brecht es darstellt, zu formulieren?
Dazu zwei Gedanken. Erstens: Momentan wird viel über Rassismus, Feminismus, die Ignoranz von Gendervielfalt und die drohende Klimakatastrophe diskutiert. Alles extrem wichtige Themen, die jedoch derart im Vordergrund stehen, dass – zumindest meinem Empfinden nach – die alte, etwas langweilig gewordene Frage nach sozialer Gerechtigkeit in den Hintergrund tritt. Die soziale Frage ist aber für Brecht zentral. In dieser im Vergleich zu unserer Gegenwart verschobenen Wahrnehmung liegt vielleicht eine Chance, den festgefahrenen Karren in Bewegung zu bringen. Zweitens: Man kann dem Brecht-Text durchaus Gegenentwürfe oder neuere Entwicklungen gegenüberstellen, aber dem sind durch das Urheberrecht Grenzen gesetzt. Noch ist es nicht möglich, mit dem Material so radikal umzugehen, dass die Form selbst hinterfragt werden kann.
Die Entscheidungen, vor die Mutter Courage gestellt wird, die immer entweder die ökonomische Absicherung oder den inneren Zusammenhalt der Familie unmöglich machen, sind also heute nicht mehr wirklich interessant?
Das finde ich einen schwierigen Ansatz, weil das bedeuten würde, dass es so etwas wie Konstanten gäbe, die sich durch alle Zeiten hindurch immer wieder offenbaren, in der Art und Weise wie Kapital fließt oder wie die Menschen daraufhin zusammenleben. Das möchte ich nicht glauben. Ganz konkret finden wir in Gebieten wie Südamerika oder Afrika heute Situationen eines Überlebenskampfes, die denen in »Mutter Courage« vergleichbar sind. Nun machen wir das Stück aber in Düsseldorf und in der Hoffnung, dass viele Menschen, die hier leben, ins Theater kommen. Der Widerstand gegen kapitalistische Lebensverhältnisse nimmt in wohlsituierten mittelständischen europäischen Gesellschaften andere Formen an, und das setzt einen anderen Rahmen für eine Inszenierung, als wenn diese beispielsweise in Teheran stattfinden würde. Den Gedanken, dass der Krieg nicht vorbei ist, solange es den ungebremsten Kapitalismus gibt, sondern dass er vielmehr mit anderer Fassade auftritt oder an anderen Orten stattfindet, womit wir unseren Luxus finanzieren – das sollte man schon ernst nehmen.

Nach der Uraufführung 1941 am Zürcher Schauspielhaus war Brecht unzufrieden mit der Rezeption seines Stückes, Publikum und Kritiker bekundeten große Sympathien gegenüber der Figur der Mutter Courage anstatt sie als Verkörperung des kapitalistischen Prinzips zu erkennen und abzulehnen. Er arbeitete den Text daraufhin um.
Ich finde, diese Unzufriedenheit Brechts in Bezug auf seine eigene Arbeit wird in der Rezeption viel zu wichtig genommen. Mag sein, dass Therese Giehse, die Mutter Courage der Uraufführung, eher eine warmherzige Tragödin als eine proletarische Schauspielerin neuen Typs war, wie Brecht sie sich vorstellte. Das Entscheidende ist aber doch, dass es sich um eine dialektische Figur handelt. Einerseits hat sie ein mütterliches Interesse und verteidigt ihre Brut, andererseits muss sie Geld verdienen, um ihre kleine multinationale Patchworkfamilie zu erhalten. Letzteres zwingt die Courage, teilweise gegen die Interessen der von ihr geliebten Familie zu handeln, und das ist ein dialektischer, ein tragödischer Konflikt geradezu.
Heiner Müller hat mal gesagt: »Brecht gebrauchen, ohne ihn zu kritisieren, ist Verrat.« Inwiefern beschreitet Ihre Arbeit Abwege?
Wir stehen noch ganz am Anfang der Proben und sind erst mal damit beschäftigt, uns die Technik des epischen Theaters losgelöst von
seiner eisern gewordenen Rezeptionsgeschichte zu vergegenwärtigen. Aber da ist schon eine gewisse Sehnsucht, den Brecht mit post-aufklärerischen Theatermitteln wie Atmosphären und Ritualen zu konfrontieren. Vielleicht eine Art marxistisches Krippenspiel mit der Courage als Antiheiliger.
Ich finde, diese Unzufriedenheit Brechts in Bezug auf seine eigene Arbeit wird in der Rezeption viel zu wichtig genommen. Mag sein, dass Therese Giehse, die Mutter Courage der Uraufführung, eher eine warmherzige Tragödin als eine proletarische Schauspielerin neuen Typs war, wie Brecht sie sich vorstellte. Das Entscheidende ist aber doch, dass es sich um eine dialektische Figur handelt. Einerseits hat sie ein mütterliches Interesse und verteidigt ihre Brut, andererseits muss sie Geld verdienen, um ihre kleine multinationale Patchworkfamilie zu erhalten. Letzteres zwingt die Courage, teilweise gegen die Interessen der von ihr geliebten Familie zu handeln, und das ist ein dialektischer, ein tragödischer Konflikt geradezu.
Heiner Müller hat mal gesagt: »Brecht gebrauchen, ohne ihn zu kritisieren, ist Verrat.« Inwiefern beschreitet Ihre Arbeit Abwege?
Wir stehen noch ganz am Anfang der Proben und sind erst mal damit beschäftigt, uns die Technik des epischen Theaters losgelöst von
seiner eisern gewordenen Rezeptionsgeschichte zu vergegenwärtigen. Aber da ist schon eine gewisse Sehnsucht, den Brecht mit post-aufklärerischen Theatermitteln wie Atmosphären und Ritualen zu konfrontieren. Vielleicht eine Art marxistisches Krippenspiel mit der Courage als Antiheiliger.
Sebastian Baumgarten, geboren 1969 in Ost- Berlin, inszeniert Oper und Schauspiel auf den großen Bühnen in Berlin, Hamburg, Zürich, Frankfurt am Main, Köln und Kopenhagen. 2013 wurde seine Zürcher Inszenierung von Brechts »Die heilige Johanna der Schlacht höfe« zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Baumgarten leitet den Studiengang Regie an der Bayerischen Theaterakademie »August Everding« in München. In Düsseldorf inszenierte er zuletzt Shakespeares »Caligula«.

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